Warum genau spielen die Energiepreise eigentlich verrückt? Sind die Sanktionen gegen Russland der entscheidende Grund? 

Die Preise steigen bereits seit Sommer 2021, und zwar aus verschiedenen Gründen: als Folge leerer Speicher nach einem kalten Winter, wegen des wirtschaftlichen Aufschwungs und, wie wir heute wissen, weil Gazprom die Liefermengen gedrosselt hat. Explodiert sind die Preise dann mit dem Beginn des Ukrainekriegs. Am Anfang war es die Angst vor den Folgen des Kriegs für die europäische Energieversorgung. Seit Russland die Liefermengen immer weiter einschränkt, hat sich die Lage verschärft.

Aber woran liegt es, dass eine Krise in kurzer Zeit die Preise so in die Höhe treiben kann? 

Das Problem ist nicht nur der Ukrainekrieg, sondern die politische Gestaltung unserer Energieversorgung. Zum einen ist da die Abhängigkeit vom Import fossiler Brennstoffe. Diese Abhängigkeit schafft nicht nur Unsicherheit, sie ist auch die Grundlage für das geopolitische System der Konkurrenz um Energie, Rohstoffe und Versorgungswege. Hinzu kommen die liberalisierten Energiemärkte, die unsere Versorgung mit Strom und Gas den Dynamiken finanzialisierter Märkte unterwerfen. Und für die Konsument*innen existiert ein unübersichtlicher Markt mit konkurrierenden Anbietern. Das führt zu ungleichen Betroffenheiten der Krise und erschwert das politische Eingreifen. 

Wie genau ist dieser liberalisierte Energiemarkt strukturiert?

Durch die Liberalisierung wurden die Energieerzeugung, das Netz und der Vertrieb voneinander getrennt. Der Handel mit Energie funktioniert seither so, dass Energieproduzenten, Energieversorger und Großabnehmer wie die Industrie Strom und Gas an Energiebörsen kaufen und verkaufen. Das tun sie für die nächsten Stunden, den nächsten Tag oder Monat oder das nächste Jahr. Dadurch ergeben sich starke Preisschwankungen, vor allem in unsicheren Situationen. Auch direkte Verträge zwischen Energieanbietern und Produzenten orientieren sich inzwischen meist an den aktuellen Börsenpreisen. Insgesamt werden 80 Prozent der europäischen Gaseinkäufe zu kurzfristigen Marktpreisen verrechnet und sind damit extrem krisenanfällig. Das System ist darauf ausgelegt, kurzfristig die Preise zu optimieren, statt langfristig zu planen.

Warum ist das so? Wieso wurden diese Energiemärkte geschaffen? 

Die Liberalisierung und Integration der Energieversorgung hat die EU ab Mitte der 1990er beschlossen. Anfang des Jahrtausends wurde sie schrittweise umgesetzt. Das große Versprechen waren damals niedrigere Preise für Haushalte und Industrie durch mehr Wettbewerb. Doch wie sehr die Preise tatsächlich gesunken sind, ist umstritten. Es ist methodisch schwierig, die aktuellen Preise mit einem fiktiven Szenario der Nicht-Liberalisierung zu vergleichen. Außerdem gab es viele andere Entwicklungen, die in den letzten beiden Jahrzehnten die Energiepreise gedrückt haben, etwa die Rezession nach der Finanzkrise 2008 oder das Gas-Überangebot durch den Fracking-Boom in den USA.

Abgesehen von den Preisen – welche Folgen hat die Liberalisierung für das Klima und die Energiewende?

Ökologisch ist die Bilanz durchwachsen. Denn mit Marktmechanismen ließ und lässt sich kein ökologischer Umbau des Energiesystems sicherstellen. Definitiv ist die Marktmacht der fünf größten europäischen Energiekonzerne – RWE, Engie, EDF, Uniper und Enel – mit der Liberalisierung enorm gewachsen. Die großen Energiekonzerne haben beim Ausbau erneuerbarer Energien jedoch völlig versagt. Zusätzlich behindern sie die Energiewende sogar noch über internationale Schiedsgerichtsklagen. Der Ausbau der erneuerbaren Energien wurde vor allem durch lokale Initiativen vorangetrieben. Das war aber nur durch öffentliche Subventionen möglich, die Schutz vor Marktliberalisierung und dem Binnenmarkt bieten.

Mit Blick auf den Winter und die drohende Energiearmut: Welche Maßnahmen wären jetzt notwendig?

Als Sofortmaßnahme muss an den Strombörsen der Preis fossiler Energie von dem Preis erneuerbarer Energie entkoppelt werden. Derzeit richtet sich der Preis für alle Stromarten – auch für günstige Wind- und Wasserkraft – nach dem jeweils teuersten benötigten Anbieter, im Moment ist das meist Gas. So treibt der Gaspreis den Strompreis unproportional in die Höhe. Zudem müssen Marktakteure, die selbst nichts mit dem physischen Grundgeschäft zu tun haben, verboten oder ausgeschlossen werden. Die Einführung einer Finanztransaktionssteuer, eine Einschränkung des Handels mit Energiederivaten würde Spekulation eindämmen.

Das heißt es geht darum, die Liberalisierung zu beenden? 

Ja, die aktuelle Krise zeigt, dass wir eine starke öffentliche und demokratische Kontrolle über die Energieproduktion und -verteilung brauchen. Statt des profitorientierten Marktes soll es mittelfristig einen kooperativen europäischen Energieraum geben. Strom und Gas sollen nicht mehr über Börsen gehandelt werden. Der nötige Ausgleich und der Handel von Energie sollte über öffentlich kontrollierte Stellen ablaufen und damit die nötigen Sicherheiten garantieren.

In der aktuellen Debatte spielt das keine große Rolle. Wie ist das in Österreich? Wie wird dort mit der Energiekrise umgegangen? 

Die Inflation betrug im Österreich im September 2022 im Vergleich zum Vorjahr 10,5 Prozent. Wie auch in Deutschland sind die Energiepreise der stärkste Treiber. Die Regierung hat schon mehrere Maßnahmenpakete verabschiedet, die aber nur die Symptome, nicht die Ursachen von Preissteigerungen und Energiekrise bekämpfen. Vor allem waren das – relativ hohe –   Einmalzahlungen. Im September erhielt jede*r 500 Euro „Klima- und Teuerungsbonus“, und Rentner*innen weitere 500 Euro dazu. Diese Zahlungen könnten die Teuerung für ärmere Haushalte dieses Jahr tatsächlich ausgleichen. Trotzdem sind einmalige Zahlungen problematisch, denn sie erhöhen nicht das dauerhafte Einkommen der Menschen und setzen den strukturellen Ursachen der steigenden Preise nicht entgegen.

Gab es gar keine strukturellen Maßnahmen?

Die größte strukturelle Maßnahme ist bisher die sogenannte Strompreisbremse. Ähnlich den deutschen Plänen wird der Strompreis für alle österreichischen Haushalte auf 10 Cent pro kWh gedeckelt – und zwar bis zu einem Verbrauch von 2.900 kWh. Das senkt zwar tatsächlich die Preise, aber es ist sozial ungerecht, weil die Haushaltsgröße nicht berücksichtigt wird. Größere Haushalte mit elektrischer Warmwasseraufbereitung bleiben auf höheren Kosten sitzen, während kleine Haushalte ihren Verbrauch subventioniert sogar steigern können. Auf progressive Stromtarife hat die Regierung verzichtet.

Wie sollten wir stattdessen umgehen mit dem Dilemma, dass Energie gespart werden soll – aber nicht nur von denen mit wenig Geld? 

Ja, das ist die große Herausforderung. Energie ist ein Grundbedürfnis – Kochen, Duschen und Heizen müssen für alle möglich sein, was ja bisher schon nicht der Fall ist. Gleichzeitig ist Energie ein kostbares Gut und wir müssen den gesellschaftlichen Verbrauch schon aus ökologischen Gründen stark senken. Um soziale und ökologische Ziele zu verbinden fordert Attac einen Energie-Grundanspruch, und zwar dauerhaft. Der Grundbedarf an Energie für Strom und Wärme soll als Teil der Daseinsvorsorge allen kostenlos oder sehr günstig zur Verfügung stehen. Dabei sind ein paar Faktoren, allen voran die Haushaltsgröße, zu berücksichtigen. Jenseits dieses Grundbedarf sollen die Preise progressiv ansteigen. Wir wollen damit den Verbrauch für Grundbedürfnisse von einem verschwenderischen Verbrauch unterscheiden – letzteren müssen wir senken. In Deutschland hat das Konzeptwerk Neue Ökonomie eine ähnliche Forderung, die auch unser Modell in Österreich beeinflusst hat. 

Wie sieht das Finanzierungsmodell aus? Wie geht ihr mit den Verlusten der Energieversorger um? 

Der Energie-Grundanspruch finanziert sich zum Teil selbst, weil hoher Verbrauch teurer wird. Die Energieversorger müssen diese Mehreinnahmen mit den Kosten für den Energie-Grundanspruch verrechnen. Die Lücke kann durch die öffentliche Hand kompensiert werden, allerdings nur unter klaren Voraussetzungen, etwa dem Verbot von Dividenden-Ausschüttungen und Manager-Boni. Auch die interne Kostenstruktur muss offengelegt werden. In Österreich sind zudem die Energieversorger fast ausschließlich im Besitz der Länder. Was die genauen Kosten sind, lässt sich schwer modellieren, weil wir ja mittelfristig den Energieverbrauch der Haushalte senken wollen. Grundsätzlich können Differenzen aber mit einer Übergewinnsteuer abgedeckt werden: Die Arbeiterkammer hat errechnet, dass die Besteuerung österreichischer Energieunternehmen vier bis fünf Milliarden Euro pro Jahr einbringen könnte.

Ihr nennt euer Alternativmodell Energiedemokratie. Was sind die wesentlichen Pfeiler? Und was hat das mit Demokratie zu tun?

Energiedemokratie ist die Vision für die Zukunft unseres Energiesystems. Sie bezeichnet das Recht der Menschen, dieses System selbst zu kontrollieren und seinen ökologischen und sozialen Umbau rasch umzusetzen. Dieser Umbau hat drei Säulen. Erstens die ökologische Säule, also die deutliche Senkung des Energieverbrauchs und der Umstieg auf 100 Prozent erneuerbare Energie. Zweitens die Demokratisierung des Energiesystems, das heißt eine weitgehende Vergesellschaftung der Erzeugung und Verteilung von Energie und den Aufbau von alternativen Strukturen.  Das können Bürger*innenkraftwerke, Energiegenossenschaften und demokratische Stadtwerke sein. Die dritte Säule ist der universelle Zugang zu Energie. Wie der aussehen kann, das zeigt unser Konzept des Energie-Grundanspruchs.

Welche Aussichten gibt es, diese Forderungen durchzusetzen?

Ich finde es erstaunlich, dass tatsächlich eine Strompreisbremse in Österreich eingeführt wird. Im März habe ich mit Martin Konecny den ersten Artikel zur Forderung nach Energiegrundsicherung bzw. Energie-Grundanspruch geschrieben. Binnen drei Monaten schlug das liberale WIFO, das größte österreichische Wirtschaftsforschungsinstitut, die Idee vor und nun kommt die Strompreisbremse im Dezember. Ich habe noch nie erlebt, dass eine radikale Forderung so schnell aufgegriffen wurde, zumindest teilweise. Das zeigt, wie viel Angst die Regierenden und ihre Intellektuellen vor den politischen Folgen von Teuerung und Energiekrise haben. Leider unterscheidet sich die Strompreisbremse in zentralen Punkten von unserem Vorschlag und verliert ihren sozialen, ökologischen und transformativen Charakter. Wir müssen nun darauf drängen, dass sie keine temporäre Maßnahme bleibt, sondern verbessert wird. Auch wenn die Preise wieder sinken, sollte Energie Teil der Daseinsvorsorge sein. Trotzdem wird es natürlich massiven Widerstand gegen progressive Energietarife geben, da gerade die reichen Haushalte deutlich mehr Energie verbrauchen.

 

Das Gespräch führte Hannah Schurian.