Katalin, du hast in einem Wahlkreis, in dem das niemand erwartet hat, ein Direktmandat für die LINKE gewonnen. Wie hast du das gemacht?
Katalin Gennburg: Ja, das hat alle überrascht. Der Wahlkreis galt als ›ungewinnbar‹: Gentrifizierung im Treptower Norden, das Verschwinden der alten Ost-PDS und nicht zuletzt die Enttäuschung über die rot-roten Regierungsjahre in Berlin waren der Hintergrund für ein als sicher geltendes SPD-Mandat. Ein so intensives halbes Jahr Wahlkampf lässt sich im Nachhinein schwer zusammenfassen. Besonders wichtig war, dass wir ein offenes Wahlkampfteam gebildet haben. Wir haben ganz bewusst eine Struktur geschaffen, die neben den bereits existierenden Parteistrukturen auch bisher nicht aktiven Mitgliedern oder Nichtmitgliedern eine Möglichkeit eröffnet hat, sich aktiv einzubringen.
Wie sah das konkret aus?
Katalin: In der Planungsphase hatten wir ein paar alte Hasen dabei, aber für die meisten im Team war das der erste Wahlkampf. Auch dadurch herrschte eine Kultur der Offenheit, Dinge einfach mal auszuprobieren oder anders zu machen. Das hat viel Energie mobilisiert. So ist auch die Idee entstanden, in einem Wohnwagen ein mobiles Büro einzurichten und dort Sprechstunden abzuhalten – etwa vor Supermärkten. Der Wohnwagen machte auch optisch was her und war eine nette Möglichkeit, Gespräche anzufangen. Wir haben viel Zuspruch dafür bekommen, er war sicher ein Highlight der Kampagne.
Klingt gut, aber mit einem Wohnwagen gewinnt man noch keinen Wahlkampf …
Katalin: Das ist richtig. Für mich persönlich war es wichtig, dass ich mich nicht ›verstellen‹ musste. Ich habe für Themen gestritten, die mich seit Jahren beschäftigen. Das merken die Leute. Es ging um eine soziale Stadtentwicklungspolitik von unten, die öffentliche Räume zurückerobert, Kleingärten und Grünflächen verteidigt, den Ausverkauf der Stadt auch in Form von Touristifizierung stoppt und die Stadt für diejenigen lebenswert macht, die in ihr wohnen – und zwar für alle. Der Wahlkreis trägt diese Fragen in sich: Die Kleingartenanlagen entlang des alten Mauerstreifens wurden als Wohnbaupotenzialflächen eingestuft und hatten nur noch einen Bestandsschutz bis 2020. Der Spreepark Plänterwald wurde vom Land Berlin zurückgekauft und soll jetzt »neu entwickelt« werden. Das wird ein klassisches Gentrifizierungsprojekt mit simulierter Bürgerbeteiligung, Künstlerateliers und einem Park, der nicht frei zugänglich sein soll, um eine gewisse »Wertigkeit« zu erreichen. Die Stadtautobahn A100 frisst sich von Neukölln aus, entlang der Kiefholzstraße, Richtung Treptower Park. Die Mieten steigen rasant und große Teile der ehemaligen Bevölkerung in Alt-Treptow wurden verdrängt. Die Verdrängung durch hochpreisige Neubauprojekte erfasst mittlerweile auch das Kleingewerbe und selbst die Clubs im Norden Treptows bangen um ihre Existenz. Wenn Spekulanten auf Shoppingtour gehen und lukrative Bauflächen suchen, sind wir alle Verlierer*innen. Der Slogan von den 99 Prozent hat hier eine hohe Plausibilität. Diese Gemengelage bildet den Hintergrund unseres Wahlkampfes unter dem Slogan »Mietenwahnsinn stoppen. Stadtgrün schützen!«.
Moritz Warnke: Zwei Dinge haben uns geholfen: Wir konnten mit dem Profil der Kandidatin nahtlos an die Landeswahlkampagne »Wem gehört die Stadt?« anschließen. Das war viel wert. Außerdem hatte die SPD beschlossen, eine Woche vor der Wahl ein kommerzielles Mega-Festival mit über 100 000 Menschen im Treptower Park stattfinden zu lassen. In dem relativ unaufgeregten und fast schon langweiligen Wahlkampf auf Landesebene hatten wir damit ein polarisierendes Ereignis im Wahlkreis und einen handfesten Konflikt. Er musste von uns nur noch aufgegriffen werden.
Moritz, als Wahlkampfteam habt ihr eine Kampagnenplanung gemacht. Was stand da auf der Agenda? Und was waren eure – auch strategischen – Überlegungen?
Moritz: Wir wollten in erster Linie ein gutes Ergebnis erzielen. Also haben wir zunächst überlegt, mit was für einer Wählerschaft wir es in dem Wahlkreis zu tun haben und wie wir diese erreichen können. Der Wahlkreis war früher eine sichere Bank für die PDS, allerdings entwickelte sich dann ein fataler Trend: 2001 erreichte die PDS bei den Abgeordnetenhauswahlen 43,6 Prozent, 2006 waren es nur mehr 29,9 und 2011 dann gerade noch 20,9 Prozent. In der gleichen Zeit konnten sich die Grünen von 5,5 auf 16,5 Prozent steigern. Und 2011 erhielten auch die Piraten dort knapp 10 Prozent. Blickt man auf die Geografie, stellt man fest, dass es sich um einen ›gemischten‹ Wahlkreis handelt, das heißt er besteht aus Gebieten innerhalb und außerhalb des S-Bahn-Rings. In Alt-Treptow wohnt aufgrund der massiven Gentrifizierung mittlerweile ein urbanes, eher grün-piratiges Milieu. In Plänterwald, Baumschulenweg und Nord-Niederschöneweide, also außerhalb des S-Bahn-Rings, fängt das auch an, aber insgesamt ist hier ein anderes Milieu zu Hause.
In Plänterwald und Baumschulenweg gibt es viele Plattenbauten, hier wohnen vor allem Menschen, die sozial marginalisiert sind …
Katalin: … das kann man so nicht sagen. Ihr Wessis müsst endlich mal verstehen, dass im Osten auch Professor*innen in diesen Neubausiedlungen gewohnt haben und es bis heute tun. Da wohnt teilweise die alte DDR-Elite.
Moritz: Ok, stimmt. Mittlerweile wohnen dort aber überwiegend Menschen mit niedrigerem Einkommen. Da zählen niedrige Ost-Renten ja auch dazu…
Katalin: Ja, einverstanden. Aber eigentlich ging es doch vor allem darum, wie wir diese beiden unterschiedlichen Milieus ansprechen. Die Herausforderung war, einerseits ehemalige Piratenund klassische GrünenWähler*innen (zurück)zugewinnen und gleichzeitig diejenigen, die in den letzten Jahren an den Rand gedrängt wurden, bei der LINKEN zu halten oder für uns zu gewinnen. Und das im Wissen, dass sich NPD und AfD in diesen Gebieten ganz schön ins Zeug gelegt haben. Deren Plakate nahmen außerhalb der ›Grenze‹ des S-Bahn-Rings deutlich zu. Teile der gesellschaftlichen Linken richten sich bequem in ihrer Innenstadt-Welt ein und ignorieren die Strategie der AfD, gezielt die äußeren Stadtgebiete anzusprechen. In dieser Hinsicht fand ich zum Beispiel den Slogan »Willkommen im Genderwahn« der Grünen Kreuzberg zwar einerseits ganz lustig, aber andererseits auch wahnsinnig borniert.
Moritz: Für diese beiden Zielgruppen haben wir uns dann jedenfalls Sozialstrukturdaten und die Ergebnisse bei früheren Wahlen angeschaut – auch für die einzelnen Wahllokale. Danach war klar, dass wir in Alt-Treptow ordentlich Potenzial haben, die Piraten hatten hier in bestimmten Gegenden bis zu 17 Prozent geholt. Deutlich war aber auch, dass die Wahl letztlich in den Gebieten außerhalb des S-Bahn-Rings gewonnen oder verloren werden würde. Wir haben überlegt, wie viele Stimmen wir brauchen, um vor der SPD zu landen. Und es war klar: Jede Stimme, die wir von der SPD bekommen, zählt quasi doppelt, weil sie den Abstand zwischen uns und ihnen in doppelter Weise verkürzt. Deshalb haben wir uns entschieden, einen klaren Gegnerbezug zur SPD zu kommunizieren. Damit sind wir gut gefahren. Die SPD hat 9,9 Prozentpunkte verloren, wir haben 5,3 gewonnen, mit Blick auf die Stimmenanteile haben wir gegenüber der SPD also 13 Prozentpunkte aufgeholt. Geholfen hat sicher, dass die SPD dieses Mega-Festival im Treptower Park unterstützt hat. Das hat viele Leute verärgert, auch weil massive Schäden am Park befürchtet wurden.
Katalin: Naja, es war ja nicht so, dass das Festival einfach so zu einem Problem für die SPD geworden ist. Das war harte Arbeit! Bereits im Februar, als die Pläne bekannt wurden, sind wir durchs Viertel gestiefelt und haben darüber informiert, unseren Widerspruch formuliert. Und ganz wichtig: Wir haben die Leute zum Protest, also zum Handeln aufgefordert. Dann war ich an der Gründung einer Bürgerinitiative gegen das Festival beteiligt. Den Konflikt haben wir also selbst mit angeschoben! Und das übrigens gegen das Votum unserer Partei auf Bezirksebene. Das hat mich viele Nerven gekostet, aber eben auch für Glaubwürdigkeit bei den Leuten gesorgt. Anfangs konnten viele meiner Freunde nicht nachvollziehen, warum ich mich gegen ein Festival stelle, aber der Widerstand gegen diese Kommerz-Sause war absolut richtig. Man muss wissen, der Treptower Park ist ein Gartendenkmal und wurde als Erholungsstätte für die einfachen Bürger*innen angelegt. Inmitten des Parks befindet sich das Sowjetische Ehrenmal für die Sowjetsoldaten, die bei der Befreiung Berlins von den Nationalsozialisten ihr Leben ließen. Außerdem wurde er jüngst für 17 Millionen Euro saniert und war noch nicht fertig, als das Festival dort stattfinden sollte. Es ist ein Skandal, dass so ein wichtiger öffentlicher Raum temporär privatisiert wird, damit dort Großkonzerne großes Geld verdienen können. Bei diesem Festival ging es nicht um einen »spontanen Rave im Park«, die Tickets für das Wochenende kosteten 139 Euro.
Noch mal zu den Plattenbausiedlungen – sie gelten häufig als Wohngebiete, in denen viele kein großes Interesse mehr an Politik haben, auch nicht an der Linken. Wie habt ihr die Leute angesprochen?
Katalin: Um ehrlich zu sein: Am Anfang fiel uns das etwas schwer. Bei den ersten Sitzungen sprudelten die Ideen für das Milieu der urbanen Mittelschicht, das uns viel näher war. Niemand von uns wohnte in Baumschulenweg oder Niederschöneweide. Im Januar 2016 war auch die Dynamik der AfD so noch nicht abzusehen, sie stand damals in Berlin bei etwa fünf Prozent. Also haben wir das zunächst etwas vernachlässigt. Im Laufe der Zeit ist klar geworden: Wenn wir da keine mobilisierende Ansprache finden, läuft uns die AfD den Rang ab, egal wie viele der ehemaligen Piratenwähler*innen wir für die LINKE gewinnen. Etwa zwei Wochen vor der Wahl waren noch 40 Prozent der Berliner*innen unentschieden. Aber die Wahl in Mecklenburg gab der AfD medialen Aufwind.
Moritz: Gleichzeitig gab es Anzeichen, dass die SPD ein schlechtes Ergebnis einfahren würde, und wir merkten, dass es tatsächlich eine Chance gab, das Direktmandat zu holen. Diese Konstellation – erstarkende AfD und schwächelnde SPD – hat noch mal Kräfte mobilisiert und wir haben alle möglichen Freunde und Bekannte innerhalb und außerhalb der Partei gefragt, ob sie für einen Wahlkampfeinsatz einspringen. Aber wie machen? Ursprünglich hatten wir überlegt, Haustürwahlkampf zu machen, aber mit unseren Ressourcen hätte das kaum etwas gebracht. Also haben wir uns eine Strategie von Gewerkschaftskampagnen abgeschaut: Um in einem Betrieb wirklich Präsenz zu zeigen, gehen sie mit vielen Leuten, auch von außerhalb, in einen Betrieb und machen richtig Alarm. Das wird »Blitz« genannt, weil man innerhalb kürzester Zeit für Aufmerksamkeit sorgt. Daran haben wir uns orientiert und nach der Wahl in Mecklenburg noch einen neuen, ganz aktuellen Flyer gemacht. Die Kernbotschaften: Eure Wut ist berechtigt; die Probleme sind groß und waren auch schon da, bevor die Flüchtlinge kamen; die SPD versinkt im Filz und die AfD würde niemals tun, was wirklich nötig wäre, damit die Dinge besser werden: von den Reichen und Superreichen das Geld für unsere Schwimmbäder und eine gute BVG zu holen. Angehängt waren einfache und konkrete Forderungen wie etwa ›Keine weiteren Fahrpreiserhöhungen!‹. Wir hatten mit diesem ›Populismus‹ gegen Reiche genau die Zielgruppe in den Stadtrandgebieten im Blick und haben die vermeintliche Wahloption AfD offensiv, aber nicht moralisierend angesprochen. Damit sind wir mit etwa 20 Leuten wie ein »Blitz« durch den Wahlkreis: Der Flyer wurde innerhalb von vier Tagen in nahezu jeden Briefkasten gesteckt, parallel standen wir vor den Supermärkten. Und natürlich haben wir beim Verteilen mit den Leuten gesprochen. Das war ressourcenintensiv, aber eben auch wahrnehmbar, eine starke Präsenz. Ich bin überzeugt: Das hat am Ende den Unterschied gemacht. Wir haben die AfD bei 17 Prozent gestoppt. Das ist immer noch viel, aber besser als die 25 Prozent, die sie im Rest von Treptow-Köpenick bekommen hat. Selbst an einzelnen Wahllokalen lässt sich das sehen: In Nord-Niederschöneweide gibt es zwei Wahllokale, von denen wir das eine nicht mehr geschafft haben. Der Unterschied bei den Stimmenanteilen zwischen beiden Gebieten betrug etwa zehn Prozentpunkte.
Klingt intensiv – was war die wichtigste Erfahrung, die ihr während des Wahlkampfs gemacht habt?
Moritz: Die Erfahrung beim Flyer verteilen in genau diesen Wohnblöcken, Gespräche im Hausflur oder auf den Wiesen mit den Wäscheständern, das war für mich neu. Einerseits schwappt dir eine Menge AfD-Propaganda entgegen. Andererseits, und das ist wichtig, haben die meisten zuerst über ihre eigene Situation gesprochen: Man kommt über die Runden, aber nur gerade so und es wird seit Jahren schlechter. Dann kannst du förmlich zuschauen, wie die AfD-Propaganda zieht: »und für die Flüchtlinge sind 50 Euro am Tag da – das find ich nicht fair!«. Das Buch von Didier Eribon »Rückkehr nach Reims«, in dem er über seine Kindheit in einer Abeiterstadt in Frankreich schreibt (vgl. LuXemburg-Online), war ja der Sommerhit der deutschen Linken. Ich kann allen, die es gelesen haben, nur empfehlen, sich im nächsten Jahr in solchen Gegenden am Bundestagswahlkampf zu beteiligen. Erst kostet es Überwindung, aber es verändert die Perspektive. Es ist heilsam. Auch weil du merkst, wie hölzern die Sprache der Linken häufig ist. Und wie wenig erfahrungsgesättigt Kategorien wie »Arbeiterklasse«, »Prekariat«, »die Beschäftigten« sind. Die Ansprache muss ganz anders laufen. Wir wenden uns an Menschen mit konkreten Hoffnungen und Wünschen, die die LINKE häufig verfehlt.
Was zieht ihr für Schlüsse? Kann es so etwas wie ›organisierenden Wahlkampf‹ geben? Was müssen wir dafür lernen?
Moritz: Erster wichtiger Schluss: Du kannst mit einem engagierten Wahlkampf einen Unterschied machen. Zweitens: Man kann die Aktivitäten rund um einen Wahlkampf nutzen, um neue Leute für die Partei zu gewinnen oder Mitglieder einzubinden, die bisher keinen Ort in der Partei gefunden haben. Wir haben bei jeder Aktion ein konkretes Angebot zum Mitmachen aufgezeigt. Dafür war es hilfreich, die Kampagne rund um einen bestimmten Konflikt zu führen, da gibt es konkret etwas zu tun. Bei uns war es das Festival im Park und die Verhinderung einer starken AfD. Das wirkt mobilisierender als eine abstrakte Kampagne, um allgemein gesellschaftlichen Druck aufzubauen. Ich denke da auch an die Kampagne »Das muss drin sein«, die ihre Berechtigung, aber eben auch bestimmte Schwächen hat.
Katalin: Die Mühlen der Erneuerung in unserer Partei mahlen langsam. Wir wollten beispielsweise die Parteimitglieder unter 40 Jahren in unserem Bezirk abtelefonieren, um sie zu fragen, ob sie im Wahlkampf aktiv werden wollen. Die für uns verblüffende Antwort aus der Partei war, dass mir als Direktkandidatin die Kontakte nicht zugänglich gemacht werden dürften: aus Datenschutzgründen. Aber am Ende steht vor allem die Erfahrung, dass es sich lohnt zu kämpfen und wir unter Bedingungen wie in Berlin oder anderen OstLandesverbänden sogar stärkste Partei werden können. Ich würde mich freuen, wenn das ›Nachmacher‹ finden würde. Erneuerung lebt von Menschen, die erneuern wollen. Ich glaube, wir brauchen gerade unter den Jüngeren in unserer Partei eine neue Ernsthaftigkeit und dringend eine Erneuerung unserer Praxen. Die wird es nur geben, wenn Leute, die so was können, sich tatsächlich in diese Partei einbringen und im Wortsinne »Partei werden« – unabhängig davon, ob sie Mitglied sind oder nicht.
Das Gespräch führte Barbara Fried.