Showdown in der LINKEN! Oder wie viele sagen: »endlich eine Klärung herbei führen« – und sei es zum Preis der Spaltung der Partei. Den Gegner niederringen, damit die Position ein für alle Mal klar ist. Manche nennen das Streitkultur, wenn mit Pappkameraden, Zuschreibungen und Polemiken gearbeitet wird. Rechthaberei und Distinktionsverhalten prägen das Bild. Einige wenige versuchen mit Sachlichkeit dagegen zu halten – sie sind zu einer eher glücklosen Sisyphos-Arbeit verdammt angesichts der theologischen Polarisierung der Debatte, die von den etablierten Medien befeuert wird. Für sie ist die Linke (in vermeintlich AfD-nahe Einwanderungsgegner und »No-Border-Linke«) gespalten. Das wiederholt sich demnächst sicherlich beim Thema EU. Dabei müsste man mit Leidenschaft gegen die Dummheit in der Politik vorgehen.
Natürlich ist es notwendig, Differenzen auszutragen. Nur wie? Wovon gehen wir aus beim kulturvollen Streiten? Gehen wir von den Zielvorstellungen aus? Einer Welt ohne Grenzen? Eine solche Welt kann ich nur befürworten, es wäre eine sozialistische Welt. Also können wir gleich über den künftigen Sozialismus streiten. Das wäre durchaus nötig, keine fertige Blaupause, aber doch erkennbare Konturen. Aber bitte keine Bekenntnisse. Wichtiger wäre eine sozialistische Politik, die vom Bestehenden ausgehend für die Emanzipation aller eintritt, die nächsten Schritte anzeigt. Unsere Aufgabe ist es dabei nicht, sich den Kopf der Herrschenden zu machen, sondern den Raum des Möglichen zu erweitern. Gemeinsam. Die Frage ist dann nicht, wie wir globale Bewegungsfreiheit jetzt ermöglichen oder Einwanderung begrenzen können. Vielmehr gilt es, das Naheliegende zu tun.
Das gegenwärtige Grenzregime zur Abwehr von Migration ist menschenverachtend, unhaltbar. Die Abschottung verwandelt das »Urlaubsparadies« Mittelmeer in ein Massengrab. Die schmutzigen Deals mit Regierungen in der Türkei, Eritrea oder Libyen, die Schließung der Grenzen durch die ungarische und andere Regierungen, all diese Maßnahmen senkten die Zahl der hier Ankommenden ab. Von links ist diese Art von Politik nicht zu verteidigen, im Gegenteil. Das Konzept der »sicheren Herkunfts- und Drittstaaten« ist wie die Abkommen mit den Diktaturen jenseits des Mittelmeeres nur eine Verlagerung der Probleme in Länder mit geringerer ökonomischer Leistungsfähigkeit. Ohnehin tragen die Hauptlasten der weltweit Geflüchteten immer schon die Länder des globalen Südens. Ob ein Staat, auch ein deutscher Staat, das Recht hat, Einwanderung zu begrenzen? Von einem legalistischen Standpunkt aus betrachtet, mag das so sein – es ist keine linke Fragestellung. Die »Autonomie der Migration« sucht sich ohnehin immer neue Wege, lässt sich auf Dauer nicht eindämmen. Es gibt ein Recht zu bleiben, das wir befördern müssen. Aber es gibt eben auch ein Recht zu gehen, wenn die Verhältnisse nicht aushaltbar sind.
Mit Blick auf Fluchtursachen gälte es zunächst einmal Dinge zu unterlassen: keine Beteiligung an Kriegs- und Polizeieinsätzen; keine ungerechten Handelsverträge, die lokale Ökonomien in der Herkunftsländern zerstören; keine Entwicklungszusammenarbeit, die doch nur an der Umsetzung neoliberaler Reformen gebunden wird; keine Ausbeutung von Rohstoffen, auf Kosten der Zerstörung von Natur, Lebensräumen und Überausbeutung; aber auch kein weiterer Abbau von Kohle bei uns, keine Fortsetzung einseitiger Exportorientierung – um nur einige Beispiele zu nennen.
Darüber hinaus gäbe es viel zu tun und zu fordern: die Ausarbeitung und Umsetzung einer »sozialen Offensive für alle«, wie sie die LINKE fordert. Sie verbindet den Ausbau der sozialen Infrastrukturen, bezahlbarer Wohnungen, ausreichender und guter Schulen und Kinderbetreuung usw. mit einer Kultur des Engagements und der Partizipation vor Ort, wie einer Kultur des Willkommens und der Vielfalt. Sie verbindet Investitionen in die Zukunft aller mit dem Ausbau guter Arbeit und eröffnet die Möglichkeit, angstfrei Vielfalt nicht als Fremdheit und Konkurrenz, sondern als Bereicherung zu erleben. Zu finanzieren ist dies durch eine deutlich stärkere Beteiligung der Vermögenden an den Kosten des Gemeinwesens. Ohne Umverteilung geht es nicht. Dafür muss man gemeinsam Druck machen, zum Beispiel beim Kampf um Wohnraum. Ankommende und bereits hier Lebende – alle benötigen eine angemessene, dauerhafte und bezahlbare Unterkunft. Das Beispiel Berlin zeigt, wie Weiter- und Willkommensinitiativen und eine linke Regierungsbeteiligung einen Unterschied machen können.
In Ländern und Kommunen, wo wir die Möglichkeit haben, gilt es Haushaltsspielräume zu nutzen und umzuschichten in Richtung sozialer Investitionen, die Umgehung der Schuldenbremse wie in Berlin und Thüringen nach Möglichkeit zu nutzen. Die Spielräume mögen eingeschränkt sein, oft sind es aber schon kleine Dinge, eine Haltung, die den Unterschied ausmachen. Abschiebungen? Kann eine Kommune oder Landesregierung nicht immer verhindern – dennoch macht es einen Unterschied, ob ich alle Mittel einsetze, um sie zu verhindern, auch symbolische Präsenz zu zeigen, deutlich zu machen, hier schiebt der Bund ab, nicht wir. Streiten wir für eine dauerhafte Perspektive der bereits hier Angekommenen, einen Status der ihnen die gleichberechtigte Teilhabe ermöglicht, eine Teilhabe, die für viele der hier schon länger Lebenden (mit oder ohne Migrationshintergrund) nur unzureichend erreicht ist. Der Status der Ankommenden ist jedoch besonders verletzlich, weshalb die staatsbürgerlichen Mindestbedingungen abzusichern wären, allen voran den Familiennachzug, eine Arbeitserlaubnis, ein Recht auf eine Wohnung, gesundheitliche Versorgung und freie Ärztewahl und Bewegungsfreiheit (Aufhebung der Residenzpflicht).
International gilt es, zivile Konfliktprävention zu entwickeln und einzufordern, die Mittel für Kriseneinsätze und Entwicklungszusammenarbeit massiv umzuschichten. Es bedarf eines sicheren Zugangs zur Antragstellung auf Asyl und Einwanderung in den deutschen (und europäischen) Botschaften in aller Welt, damit sich die Einzelnen nicht auf den lebensgefährlichen Weg machen müssen und Flüchtlingshelfer (gern verächtlich als Schlepper bezeichnet) weniger Arbeit haben. Das Grundrecht auf Asyl wäre wieder vollständig herzustellen – es kennt keine Obergrenzen. Kontingentflüchtlinge im Falle von (Bürger-)Kriegen und Katastrophen sollten selbstverständlich sein – die Aufnahme nach Wunsch von Dauer.
Bevor das ferne Ziel der globalen Bewegungsfreiheit erreicht wäre, könnten legale Einwanderungswege geschaffen werden und zwar nicht nur für die Qualifiziertesten, sondern auch für die Armutsbevölkerungen (Kontingente wären denkbar). Auch die aktive Beförderung ohnehin weit verbreiteter »zirkulärer Migration« – die Möglichkeit Erfahrungen andernorts zu machen, verbunden mit einer Perspektive im Herkunftsland: Ein Beispiel wäre die massenhafte Ausbildung von »zivilen Friedenskräften«. Wer mag schon zu entscheiden, wann jemand aus Gründen der politischen, religiösen oder geschlechtlichen Orientierung diskriminiert wird oder »nur«, weil es keine Perspektive gibt für Arbeit, Familie und persönliche Entwicklung? Vielleicht gibt es kein internationales Recht auf Migration, doch sollten Sozialist_innen kaum hinter das Recht eines Pursuit of Happiness (das Streben nach Glück) der US-Verfassung fallen. Jeder Schritt in diese Richtung wäre zu befürworten und konkreter als die Debatte um ein linkes Einwanderungsgesetz.
Jede und jeder einzelne Angekommene könnte eine Art Rucksack mit einem zweckgebundenen Betrag an öffentlichen Mitteln erhalten, den sie mit in die Kommune brächte, in der sie oder er sich ansiedeln möchte. Damit wären zum Beispiel Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen für die neuen Mitbürger_innen zu finanzieren, ebenso wie hierfür notwendige Stellen, Wohnungen oder kommunale und regionale Infrastruktur. Es geht um Mittel, die über die Kosten für die Geflüchteten selbst hinausgehen würden und zur Stärkung der Kommunen insgesamt beitrügen. Zu finanzieren wäre dies über eine Fluchtumlage, einen Investitionsfonds, finanziert über eine Vermögensabgabe. Ein Vorschlag, den die Vorsitzenden der LINKEN bereits 2015 als europaweite Fluchtumlage eingebracht haben. Dieser Vorstoß hat kaum an Aktualität eingebüßt, stehen die nächsten Europawahlen doch bereits vor der Tür. Die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan hatte einen ähnlichen Vorschlag gemacht. Bei ihr wäre es jedoch die Kommunen, die sich mit Integrationsprojekten bewerben dürften. Der Vorschlag der Linkspartei realisiert hingegen schon ein klein wenig des Rechts auf Bewegungsfreiheit, da die Ankommenden wählen dürften, wohin sie gehen möchten. Beides ließe sich kombinieren, indem Kommunen mit proaktiven Konzepten einen Extra-Betrag erhalten.
Auch wenn es richtig ist, dass der Nationalstaat geschichtlich das wichtigste Terrain zur Erringung sozialer Rechte war und es vielleicht noch immer ist, so kommt es doch darauf an, transnationale Solidarität (etwa entlang transnationaler Produktionsketten und darüber hinaus) und internationale Abkommen zur Verteidigung und Ausweitung individueller, politischer sowie sozialer Rechte und von Arbeits- und Frauenrechten zu stärken, wo es nur geht. Es müssen die Bedingungen geschaffen werden, unsere Bewegungen und Organisationen vor Ort besser zu verankern und zu internationalisieren. Denn Solidarität ist unteilbar. Es geht um eine Frage der Haltung.
Das meint keinen hilflosen Internationalismus, sondern eine Fokussierung auf die Organisierung vor Ort – eine Organisierung der Vielen, denen die Beschränkungen lokaler und nationaler Kräfte bewusst ist und die Verständnis für globale Zusammenhänge und einen lebendigen Internationalismus haben. Für diese Anrufung gibt es viele reale Anknüpfungspunkte im Alltag der Einzelnen – zum Beispiel die (negative) Erfahrung des Zurückbleibens, wenn große Teile der aktiven (und weiblichen) Bevölkerungen aus ländlichen Regionen (nicht nur) Ostdeutschlands abwandern. Auch das ist eine Migrationserfahrung. Deutschland war schon immer ein Aus- und ein »Einwanderungsschland«, ein Land mit berühmten Flüchtlingen von Marx bis Benjamin und Brecht.
Klarheit, indem die Gemeinsamkeiten maximal ausgelotet werden, das Naheliegende gefordert und getan wird. Klarheit, indem Differenzen benannt sind, aber nicht bis auf Blut entschieden werden, eine Unschärfe im Ziel gelassen wird, die Spannung, die ja auf realen gesellschaftlichen Widersprüchen beruht, ausgehalten wird. Es liegen vielfältige Positionspapiere der unterschiedlichen Seiten in der LINKEN vor, das Trennende ist benannt. Nun zum nächsten Schritt, denn es gibt eine ausreichende Basis, um das Gemeinsame zu bestimmen. Aber auch das ist nicht zuletzt eine Frage der Haltung.
Der Beitrag erschien zuerst in der Zeitung Neues Deutschland vom 08.05.2018
Eine Frage der Haltung
Über Streit in der Linkspartei, eine fortschrittliche Migrationspolitik und einen »lebendigen« Internationalismus