Die Linke ist in einer Krise. Nicht nur die gleichnamige Partei in Deutschland, aber auch sie. Gleichzeitig schreien Natur und Gesellschaft nach einer neuen Art des menschlichen Zusammenlebens, nach einem anderen gesellschaftlichen System.
Klimaveränderungen gab es, seit es die Erde gibt. Schon immer sind Tier- und Pflanzenarten, die sich den neuen Bedingungen nicht anpassen konnten, ausgestorben. Neu ist heute jedoch, dass die dramatische Erd-Erwärmung, die Zerstörung der Ressourcen an Wasser, Wald oder landwirtschaftlicher Nutzfläche menschengemacht sind. Noch heute werden in Vietnam Kinder mit genetischen Schäden geboren, weil die US-Regierung von 1962 bis 1971 Entlaubungsmittel versprühen ließ, um die einheimischen Dschungelkämpfer auf ihren Geheimpfaden sichtbar zu machen. Die Schäden für Natur und Gesellschaft, die die russische Regierung gegenwärtig der Ukraine – der Kornkammer Europas - zufügt, sind noch nicht zu überschauen.
Aber auch, wenn Menschen keine Kriege führen würden, wenn sie militärische und zivile Personen nicht zielgerichtet töten würden, wenn sie (damit verbunden) nicht plündern und vergewaltigen würden, auch dann bräuchte es dringend eine gesellschaftliche Kraft, die die Notbremse zieht. Nach einer Studie des Alfred-Wegner-Instituts Bremerhaven ist die Arktis inzwischen ähnlich vermüllt wie dicht besiedelte Wohngebiete. Vom Physiker Stephen Hawking (1942 – 2018) kam die Botschaft, dass die Erde in 600 Jahren ein glühender Ball sein wird, wenn die Erd-Erwärmung nicht gestoppt wird, d.h. wenn es einfach so weiterginge wie bisher.
Schon Mitte der 1990er Jahre hatte der Soziologe Anthony Giddens von zwei verschiedenen Bildern „der Gefühlslage des Lebens in der Welt der Moderne“ geschrieben: zum einen gäbe es das auf Max Weber zurückgehende Bild, wonach die Fesseln der Rationalität immer enger gezogen werden und uns in einem gesichtslosen Gehäuse bürokratischer Routine einkerkern, zum anderen gäbe es das von „den Kommunisten“ gemalte Bild, wonach sich das Monstrum zähmen lasse, denn was die Menschen schaffen, sei auch stets ihrer eigenen Kontrolle unterworfen(Giddens 1995, Hervorhebung U.S.).
Zweifellos stand das zusammengebrochene sozialistische Weltsystem für den Versuch, das Monstrum zu zähmen. Nach Jürgen Kocka gelang die „andere Moderne“ der DDR besser als anderen sozialistischen Ländern (Kocka 2016). Bis heute ist in Erinnerung, dass in der späten DDR der Güterverkehr zu über 80 Prozent auf der Schiene stattfand oder dass deutlich weniger Verpackungsmüll gebraucht, also produziert und entsorgt wurde oder dass die Feuchtigkeit besser in die Erde eindringen konnte, weil weniger Flächen versiegelt waren.
Defizite des realen Sozialismus
Aber der Sozialismus ist zusammengebrochen. Eine gründliche und umfassende Ursachenanalyse, die sowohl das gesellschaftliche Konzept im Rahmen der Moderne als auch dessen Realisierungsversuch im Rahmen der weltweiten Systemauseinandersetzung umfasst, steht bis heute aus. Worin bestanden die Defizite des realen Sozialismus? Worin bestanden die Defizite der Sozialismus-Konzeption, die Marxismus-Leninismus genannt wurde? Solche Fragen sind bis heute unzureichend beantwortet.
Schon wahr, es gibt im Rückblick auf die DDR eine unübersehbar große Menge von Erinnerungstexten, von biografischen und autobiografischen Publikationen. Meist wird jedoch am ursprünglichen Konzept festgehalten und personelles Versagen für das Scheitern angeführt. Michail Gorbatschow hätte die DDR verraten, Günter Mittag hätte falsche Prioritäten für die ökonomische Entwicklung gesetzt, Margon Honecker falsche Entscheidungen für das Bildungswesen getroffen. Auch während des PDS-Parteigerichtes am 20./21. Januar 1990 sagte niemand: „Es konnte nicht gut gehen“. Vielmehr gingen sowohl die „Ankläger*innen“ als auch die „Angeklagten“ von der Inkompetenz der Parteiführung aus. Kurt Hager bezeichnete die Unfähigkeit der Verantwortlichen, auch seine eigene, als Hauptmangel der Parteipolitik (Nakath/Stephan 2020).
Daraus wäre der Schluss zu ziehen, dass der Zusammenbruch des Sozialismus mit anderen, mit kompetenteren Verantwortlichen, mit einer weniger selbstgefälligen und arroganten Parteiführung hätte verhindert werden können, dass es also prinzipiell möglich gewesen wäre, auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus den weltweiten Kalten Krieg, den Klassenkampf zu gewinnen.
Einen solchen Schluss halte ich für falsch. Auch wenn es schmerzt, die kommunistische Idee infrage gestellt zu sehen, weil sie im 20. Jahrhundert sehr vielen Menschen Hoffnung und Lebensmut gab. Tausende sind für diese Idee gestorben (sowohl in den Konzentrationslagern als auch in den Gulags). Dennoch sollte das alte Prinzip „Keine Fehlerdiskussion“ über Bord geworfen werden, sollten auf der Grundlage des heutigen Forschungsstandes die Defizite des Marxismus-Leninismus beim Namen genannt werden, sollten die daraus zu ziehenden Lehren Eingang in die Politik der LINKEN finden.
Zum heutigen Forschungsstand gehören nach meiner Kenntnis
- international anerkannte anthropologische Studien (z. B. von Gerda Lerner, Carel van Schaik, Kai Michel) zur Entstehung des Patriarchats, die zu Auffassungen von Friedrich Engels und August Bebel im Widerspruch stehen und die dem Patriarchat eine „unauflösliche Verstrickung“ mit Militarismus, hierarchischer Struktur und Rassismus bescheinigen,
- feministische Studien (z. B. von Frigga Haug) zum „Herrschaftsknoten“ zwischen Kapitalismus und Patriarchat, zu einer Verbindung, die im gegenwärtigen russischen Krieg in bedrohlicher Weise zu beobachten ist (männliche Machtbesessenheit trifft auf kapitalistische Profitorientierung),
- biografische Studien (z. B. von Michael Brie, Jörn Schütrumpf, Helmut Steiner, Florence Hervè) zu den Lebensleistungen und Irrtümern von Rosa Luxemburg, Alexandra M. Kollontai, Flora Tristan, Friedrich Engels, W. I. Lenin, Clara Zetkin, Robert Owen …
- soziologische, politökonomische Studien (z. B. von Dieter Klein, Michael Brie, Judith Dellheim, Lutz Brangsch, Rolf Reißig) zu Modernisierungstendenzen, zur gesellschaftlichen Transformation, zum demokratischen Sozialismus oder zu Eigentumsfragen.
Darüber hinaus ist daran zu erinnern, dass im Osten Deutschlands schon vor über 30 Jahren dazu aufgefordert worden war, „unsere Sozialismus-Konzeption“ auf den Prüfstand zu stellen. In der letzten Ausgabe der DDR-Zeitschrift für Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus „Einheit“ kamen zu diesem Thema zahlreiche Autoren und eine Autorin (Herta Kuhrig) zu Wort, damals noch unter dem Gesichtspunkt der Erneuerung des Sozialismus, auch unter dem Gesichtspunkt, dass die Perestroika die Fortsetzung der sozialistischen Revolution ist (Einheit 12/89).
In den Texten dominieren die Aufforderungen, zurückzugehen zu Marx, Engels und Lenin, also genauer hinzuschauen, was die „Klassiker“ hinterlassen haben, und den Marxismus-Leninismus von den später hinzugefügten Verkrustungen zu befreien. Für die hier interessierende Frage nach den Defiziten dieses Konzeptes erscheint mir der Gedanke eines sowjetischen Historikers besonders aussagekräftig: „Stalin hat in der Praxis vieles aus dem Nachlass Lenins entstellt, Chrustschow negierte alles, was in der Zeit Stalins gemacht worden war, und Breshnew lehnte die Erfahrungen Chrustschows ab. Jetzt streichen wir alles, was in der Zeit Brechnews geschah…“ (S. 1165). Die Frage, ob bei einer solchen Praxis überhaupt eine Theorie gebraucht wird, ist in dem Text nicht gestellt worden. Auch im Beitrag der einzigen Autorin dieses letzten Einheit-Heftes wird der Bezug zur theoretischen Grundlage nicht reflektiert, denn sie beklagt patriarchale Strukturen in der DDR-Politik, also Strukturen, die es nach „unserer Sozialismuskonzeption“ gar nicht geben konnte.
Auch in dem Erinnerungsbuch des Literaturwissenschaftlers Hans Mayer über die DDR, das 1991 erschien, wird (am Rande) die konzeptionelle Grundlage des realen Sozialismus infrage gestellt. „Karl Marx hätte niemals die Möglichkeit anerkannt, im rückständigen Zarenreich die Konzepte des ‚Kommunistischen Manifests‘ vom Jahr 1848 zu praktizieren. Der Bindestrich zwischen dem Marxismus und dem Leninismus war vermutlich die ‚Grundtorheit‘ aller sozialistischer Gralsritter unseres Jahrhunderts.“ (Mayer 1991: 257)
Nach meiner Wahrnehmung haben wir auch heute nicht viel mehr als Vermutungen zur Tragfähigkeit des sozialistischen Konzeptes. Wir brauchen aber mehr, wenn sich die Linke als Partei und als Bewegung mit der System-Frage beschäftigen will, wenn sie den Kapitalismus überwinden will.
Gedankensplitter für die erforderliche Fehlerdiskussion:
Erstens: Bekanntlich hatte das Konzept, das sowohl für DDR-Politik als auch für die westliche Linke grundlegend war, seine Wurzeln in der Arbeiter*innnenbewegung, also in einer von mehreren Menschenrechtsbewegungen, die entstanden waren, um die Moderne zu korrigieren, um auf gesellschaftliche Widersprüche - im Falle der Arbeiter*innenbewegung auf Klassenwidersprüche - aufmerksam zu machen und ihre Überwindung einzufordern. Der Blick voraus war deshalb auf die klassenlose Gesellschaft gerichtet. Der Blick zurück sah Geschichte vor allem als Geschichte von Klassenkämpfen. Die Verhältnisse, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist (Marx) wurden überwiegend mit der Klassenbrille betrachtet. Für andere Arten gesellschaftlicher Widersprüche – etwa den ethnischen, den Geschlechterwiderspruch, den Generationenwiderspruch, den Widerspruch zwischen Natur und Gesellschaft - gab es in Politik und Wissenschaft der DDR vergleichsweise wenig Raum.
Die „Frauenfrage“ galt ohnehin als Bestandteil der Klassenfrage, weil Friedrich Engels und Karl Marx mit Bezug auf die Matriarchatsforschung des 19. Jahrhunderts (Lewis Henry Morgan und Johann Jakob Bachofen) einen engen Zusammenhang zum Klassenwiderspruch festgestellt hatten. In seinem Werk „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ führte Engels unter Berücksichtigung einer Zuarbeit von Marx aus, dass die erste Klassenunterdrückung historisch zusammenfiel mit der ersten Unterdrückung des weiblichen Geschlechts durch das männliche. Deshalb sei die Entstehung von Privateigentum an Produktionsmitteln gleichzeitig die welthistorische Niederlage des weiblichen Geschlechts (Engels) gewesen. Folgerichtig schloss August Bebel in seinem berühmten Buch „Die Frau und der Sozialismus“, dass mit dem Ende der Klassenherrschaft - mit der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln - auch die Herrschaft des Mannes über die Frau endet. Ein sozialistisches Patriarchat war auf der Grundlage dieses theoretischen Gebäudes nicht denkbar.
Ohne analogen historischen Hintergrund wandelte sich in der DDR schließlich auch die „Jugendfrage“ zur Klassenfrage. Auf dem VIII. Pädagogischen Kongress Ende der 1970er Jahre verkündete die Ministerin für Volksbildung, dass die Kommunisten (sic) schon immer die Generationsfrage als Klassenfrage aufgefasst und dass sie deshalb die Jugend in den Kampf „für unsere Sache“ einbezogen hätten (Honecker 1978). Dass von 1964 bis 1974 ein Jugendgesetz galt, das den Generationswiderspruch sehr wohl als eigenständigen gesellschaftlichen Widerspruch behandelte und vom Grundsatz der Gleichberechtigung zwischen jung und alt ausging, wurde Ende der 1970er Jahre nicht mehr öffentlich diskutiert.[1] In der DDR-Publikation „Geschichte der Erziehung“ kommen weder die beiden Jugendkommuniques des Politbüros aus den Jahren 1961 und 1963 noch das Jugendgesetz von 1964 vor (Günther u.a. 1987).
Zweitens: Heute haben wir zur Kenntnis zu nehmen, dass in der Urgeschichtsforschung der letzten Jahrzehnte die Engelssche These von der „weltgeschichtlichen Niederlage des weiblichen Geschlechts“ im Zusammenhang mit der Entstehung von Klassen als widerlegt gilt. Heute ist unbestritten, dass das Patriarchat lange vor der Klassengesellschaft entstanden ist, also in marxistischer Ausdrucksweise noch tief in der Ur-Gesellschaft, vermutlich im Zusammenhang mit dem Sesshaftwerden der Jäger und Sammler (Schaik/Michel 2020). Folglich gilt auch die Bebelsche These als widerlegt.
Die österreichisch-amerikanische Historikerin Gerda Lerner (1920 – 2013), die auf diesem Gebiet Pionierarbeit geleistet hat, war Kommunistin und in den 1950er Jahren in den USA von der Kommunistenverfolgung betroffen. Sie ging zunächst auch von der Unfehlbarkeit der „Klassiker“ aus, ließ sich dann aber von den zahlreichen anthropologischen Studien, die in den 1970er Jahren (in der westlichen Welt) veröffentlicht wurden, von Ergebnissen der Religionsforschung und von Ergebnissen ihrer eigenen Forschung über das alte Mesopotamien eines Besseren belehren.
Sie schreibt: „Nach einiger Zeit erkannte ich, dass ich mich mehr mit der Kontrolle der Sexualität und Fruchtbarkeit von Frauen zu befassen hatte als mit den gemeinhin untersuchen ökonomischen Fragestellungen; und so begann ich nach den Ursachen und Wirkungen der sexuellen Kontrolle zu suchen… Die ethnografischen Informationen, auf die Engels seine Verallgemeinerungen stützte, haben sich als unzutreffend erwiesen… Die Aneignung der sexuellen und reproduktiven Kapazität der Frauen durch die Männer geschah vor der Entstehung des Privateigentums und der Klassengesellschaft… Es ist festzuhalten, dass die Engelssche Gleichsetzung der Geschlechterbeziehungen mit einem Klassenantagonismus eine Sackgasse gewesen ist, die die Theoretiker (sic) lange an einem adäquaten Verständnis der Unterschiede zwischen Klassenbeziehungen und Geschlechterbeziehungen gehindert hat“ (Lerner 1991, S. 26, 41, 43)
Daraus ist zu schließen, dass die gesamte gesellschaftliche Entwicklung und die damit verbundenen Erzählungen seit ca. 15.000 Jahren - die Geschichte der Klassengesellschaften, die Geschichte des Christentums und anderer Religionen, die Geschichte des Kolonialismus… und selbstverständlich auch die Sozialismus-Geschichte - patriarchal geprägt waren und sind.
Drittens: Das sollten wir als gute Botschaft annehmen, weil vor diesem Hintergrund viele Erscheinungen im realen Sozialismus, aber auch in der hier zur Debatte stehenden Entstehungsgeschichte des Sozialismus-Konzeptes verständlich werden.
So sollte nach den Vorstellungen der „utopischen Sozialisten“ die Gesellschaft in zweierlei Hinsicht verändert werden. Zum einen ging es um Kritik am gestörten/zerstörten Verhältnis der Menschen zur Arbeit, das Karl Marx später mit „Entfremdung“ umschrieb. Die in vormodernen Zeiten selbstverständliche Einheit von Arbeit und Glück, von Arbeit und Leidenschaft sei nicht mehr vorhanden. Diese Einheit wiederherzustellen, Arbeit wieder zu einem menschlichen Bedürfnis zu machen, sei Ziel der neuen Gesellschaftsordnung. Zum anderen ging es um Kritik am romantischen Liebesideal der Moderne, am Ideal der beständigen Liebe und der lebenslänglichen Ehe, am damit verbundenen Besitz-Denken in der Partnerschaft und an der Konstruktion von Geschlechtercharakteren (Emotionales vs. Rationales). Die utopischen Sozialisten gingen von einem Menschenbild aus, das bezüglich des Arbeitsprozesses, aber auch bezüglich Liebe und Sexualität die Geschlechter als gleichwertig voraussetzte. Und Arbeiten und Liebenwaren gleichrangige Kategorien in den ursprünglichen Sozialismus-Vorstellungen (vergleichbar: ora et labora).
Namentlich Charles Fourier hinterließ Überlegungen zur Sexualität, Homosexualität, Sexualität im Alter u. a. in einer Zukunfts-Gesellschaft und wand sich insbesondere gegen eine Gleichsetzung von sexuellen Bedürfnissen mit Bedürfnissen nach Fortpflanzung (vgl. Volk 2018, Gerhard 2005, Wagner 1928, Heilborn 1927).
Viertens: Von diesen ursprünglichen Ideen ist später viel verloren gegangen bzw. korrigiert worden. Die bis heute bewundernswerte Marxsche Analyse der Produktionsverhältnisse im Kapitalismus mutierte zum Marxismus und damit zur alles erklärenden theoretischen Grundlage für die angestrebte Gesellschaft. Folgerichtig ging es im realen Sozialismus nur noch um „selbstbestimmt arbeiten“, nicht mehr um „selbstbestimmt lieben“. Ebenfalls folgerichtig, dass Arbeit in der Öffentlichkeit mehr galt als Arbeit im Privaten, produzierende Arbeit mehr als die ebenfalls gesellschaftlich notwendige erhaltende/pflegende Arbeit.
August Bebel wurde zum wichtigsten „Klassiker“ für die sogenannte Frauenfrage. Auch er bezog die Bedürfnisbefriedigung nur auf den Arbeitsprozess und verstand unter dem Kampf um Gleichberechtigung der Geschlechter das Heranführen der Frauen an Männerniveau. Frauen sollten sich in gleichem Maße wie Männer bilden können und in gleichem Maße berufstätig sein können (was aus heutiger Sicht nicht wenig ist) – bei gleichzeitiger Vergesellschaftung der Hausarbeit.
Die Gleichstellungsvorstellungen Clara Zetkins unterschieden sich deutlich von den Bebelschen, wurden aber in der DDR und vermutlich auch in der Sowjetunion nicht veröffentlicht. In einer Rede, die Zetkin 1899 hielt, heißt es: „Erschließt die Berufstätigkeit der Frau die Welt, so gibt sie dem Manne das Heim zurück. Denn wenn die Frau auf allen Gebieten menschlichen Schaffens als Mitarbeitende neben dem Manne steht, so gewinnt dieser Zeit und Kraft, als Mitarbeitender beim Ausbau des Heims und der Erziehung der Kinder neben der Frau zu wirken.“ (Hervé 2008: 62)
Clara Zetkin hatte auch Vorstellungen zu Liebe und Sexualität im Sozialismus und hat diese in Bildungsveranstaltungen weitergegeben. Wie wir aus ihren „Erinnerungen an Lenin“ wissen, wurde sie von Leninpersönlich in dieser Hinsicht gebremst. Sie würde die Nebensache zur Hauptsache erklären, würde für die Schulung der Proletarierinnen in Deutschland die falschen Themen auf die Tagesordnung setzen. (Zetkin 1957/1925)
Alexandra M. Kollontai ließ sich von niemandem bremsen. In der DDR wurde Kollontai in Übereinstimmung mit der sowjetischen Politik bis in die 1980er Jahre hinein offiziell verschwiegen, bestenfalls erwähnt, zum Teil verurteilt, auf keinen Fall differenziert diskutiert (Steiner 2004).
Zetkin schaffte es also nur partiell und Kollontai schaffte es gar nicht, in den Kanon des Marxismus-Leninismus aufgenommen zu werden.
Fünftens: Zum „Kollektiven Gedächtnis“ der Linken gehören Erfahrungen und Kenntnisse, die für neue Zukunftsentwürfe genutzt werden können, wenn sie mit aktuellen Forschungsergebnissen verbunden werden. Ohne diese Anbindung wissen wir lediglich genauer als andere, was nicht noch einmal versucht werden sollte: Das Heiligsprechen der „Klassiker“; die vordergründige Orientierung auf öffentliche Arbeit und hier insbesondere auf Produzieren; die ausschließliche Orientierung auf nur einen der vielen gesellschaftlichen Widersprüche bzw. die Einordnung der gesellschaftlichen Widersprüche in ein unumstößliches hierarchisches Modell.
Heutige Überlegungen zur Systemfrage müssen den Knoten zwischen Klassen- und Männerherrschaft (der vermutlich auch großen Anteil am Zusammenbruch des sozialistischen Weltsystems hatte) berücksichtigen, müssen gleichzeitig davon ausgehen, dass das patriarchale System nur dann funktionieren kann, wenn die Frauen an seiner Aufrechterhaltung mitwirken.
Noch einmal Gerda Lerner aus den 1980er Jahren: „Unabhängig davon, ob Eigenschaften wie Aggressivität oder liebevolle Zuwendung genetisch oder kulturell vermittelt werden, sollte klar sein, dass die Aggressivität der Männer, die in der Steinzeit eine große funktionale Bedeutung gehabt haben mag, im Zeitalter der Kernspaltung die Fortexistenz der Menschen bedroht.“ (S. 39)