Die Partei Die Linke ist das erfolgreichste Projekt linker Erneuerung in Europa. Gleichwohl wird sie häufig als mehr oder weniger neo-sozialdemokratische Formation gesehen, die – so die meist implizite Schlussfolgerung – sich bald in Anpassung, Entradikalisierung und Regierungsteilnahme ergeben wird (Sabado 2009; Fülberth 2008). Mit dieser Perspektive, die sich vor allem auf die programmatische Ausrichtung der Partei konzentriert, werden ihre Bedeutung für die Repräsentation der sozialen Frage, ihre innere und äußere Dynamik und ihre politische Offenheit in einer Zeit globaler Turbulenzen unterschätzt. In der Partei Die Linke bestehen neben antikapitalistischen Deutungsmustern viele sozialdemokratische Elemente. Ihre Entwicklung ist im Fluss und die politische Zukunft nicht festgelegt. Die sozialen und Klassenverhältnisse und ihre Repräsentation in Deutschland sind im Umbruch, und die innerparteilichen Machtverhältnisse sind noch nicht entschieden. Die Partei Die Linke ist aus der Erosion der sozialdemokratischen Hegemonie in der Arbeiterbewegung entstanden, die durch die Agenda 2010 dynamisiert worden war. Der Wandel der deutschen (und europäischen) Sozialdemokratie wird oft als social liberalism kritisiert. Dieser Begriff ist aus zwei Gründen unpräzise. Er unterstellt erstens, dass die Nachkriegssozialdemokratie nach wesentlich anderen Prinzipien funktioniert hat. Es wird angenommen, dass in der Vergangenheit »politics against markets« (Esping-Andersen 1985) die Triebkräfte sozialdemokratischer Parteien waren, mit denen man heute gebrochen hat. Doch ein realistischer Blick in die Geschichte der europäischen Sozialdemokratie zeigt, dass sie die widersprüchliche und simultane Kombination der Politik abgefederter Märkte betrieben hat. Sie war ein produktiver Erneuerer und Bewahrer der Marktwirtschaft, hat aber gleichzeitig versucht, die Wirkungen des Marktes und seine Risiken für das Individuum erträglich zu gestalten. Aus dieser Perspektive erscheint sowohl die Nachkriegssozialdemokratie als auch ihre jüngste Transformation in einem anderen Licht. Die gewandelte Sozialdemokratie ist dann nicht der Bruch mit den Prinzipien der Nachkriegssozialdemokratie, sondern ihre Fortsetzung mit anderen Mitteln. Daher ist sinnvollerweise von einer Marktsozialdemokratie zu sprechen (Nachtwey 2009a). Die Marktsozialdemokratie unterscheidet sich qualitativ vom anti-etatistischen und anti-redistributiven Neoliberalismus. Die keynesianische Sozialdemokratie wollte die Macht der Märkte begrenzen, sie aber gleichzeitig erhalten. In der Marktsozialdemokratie hat sich das Verhältnis doppelt verkehrt: Der Markt soll mit den Mitteln des Sozialen gefördert und das Soziale nur insofern erhalten werden, als es die Wirkungen des Marktes stützt. Kürzungen und Verschärfungen bei der Arbeitslosenunterstützung gehen einher mit gesteigerten »Investitionen« ins Humankapital des Nationalstaates. Diese Politik zielt auf erhöhte wirtschaftliche Effizienz, hat aber mitunter distributive Nebeneffekte. Selbst in ihrer rüdesten Periode hat sich die SPD nie von der Mitbestimmung distanziert – auch weil sie in ihr einen produktiven Beitrag zum Wirtschaftswachstum sah. Zweitens konzentriert sich das Konzept des social liberalism zu sehr auf die ideologische Ausrichtung der neuen Sozialdemokratie und lässt die Klassenrepräsentation unterbelichtet. Sozialdemokratische Parteien sind von ihrem Wesen her »kapitalistische Arbeiterparteien«, die die Arbeiterschaft in das kapitalistische System integrieren, aber gleichzeitig partiell an die Artikulation ihrer Interessen gebunden sind. Sie üben Hegemonie aus, indem »den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, dass sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet« (Gramsci 1991ff, 1566f). In einer bestimmten Periode des Kapitalismus konnte das sozialdemokratische Modell die Arbeiterschaft und die Gewerkschaften integrieren und hat langjährige Loyalitäten aufgebaut, die bis heute nachwirken. Das Konzept der Marktsozialdemokratie geht davon aus, dass – in rudimentärer Form – die SPD weiterhin eine kapitalistische Arbeiterpartei ist, der Begriff social liberalism unterstellt, sie sei eine bürgerliche Formation. Nach der Wahlniederlage von 2009 versucht die SPD sich zu erneuern. Die Partei hat in zehn Jahren die Hälfte ihrer Wähler und fast ein Drittel ihrer Mitglieder verloren, in fünf Jahren sechs Parteivorsitzende gesehen. Der jetzige Versuch der Erneuerung ist lediglich eine Kurskorrektur in Richtung Gewerkschaften, keine Neubestimmung der Sozialdemokratie. Die SPD hat keinen Begriff der Zukunft mehr, keine Idee von der guten Gesellschaft. In Godesberg hatte man sich vom Marxismus verabschiedet, aber das große Ziel – den demokratischen Sozialismus – noch im Blick. Jetzt hat man sich von den großen Zielen verabschiedet, aber auch keine mittleren im Blick, und es bleibt nur die Begradigung des Status quo.
POLITISCHE LOGIKEN DER LINKEN
In Der Linken kamen mit PDS und WASG zwei heterogene linke Parteiprojekte zusammen (Hübner/Strohschneider 2007). Parallel zur mitunter pragmatisch-sozialdemokratischen Politik in einigen Ost-Landesregierungen übte man in der PDS noch einen recht orthodoxen sozialistischen Diskurs, der viele potenzielle Sympathisanten aus dem Westen abschreckte. Zudem gab es nur eine geringe Profilierung auf soziale, Beschäftigten- und Gewerkschaftsinteressen im Westen. Dies war das ausschlaggebende Moment für die Gründung der WASG. Sie begriff sich als in erster Linie sozialstaatliche, nicht unbedingt als sozialistische Formation. Während die PDS als ehemalige Staatspartei eine Kultur des Regierens oder Regieren-Wollens geerbt hatte, pflegten die gewerkschaftlichen Linken in Westdeutschland eine Kultur der Opposition (Schui 2005). Movens für ihren Parteiwechsel war nicht der Verrat der SPD am Sozialismus, sondern der am Sozialstaat. Daraus entsteht eine grundsätzliche Abneigung gegen eine Politik der Anpassung und der Kompromissbildung hinsichtlich sozialstaatlicher Strukturanpassungsprogramme. In den Begriffen der Politikwissenschaft sind die Führungsgruppen der ehemaligen PDS, vor allem in den Ost-Landesverbänden, Office-Seeker (Harmel/Janda 1994; Koss/ Hough 2006). Zentrales Ziel ist Regierungsmacht, um Reformen durchzusetzen; die programmatischen Grundsätze werden so angepasst, dass sie koalitionsfähig werden. Durch die Stärke im Osten ersetzt Die Linke dort funktional die Rolle der SPD als linke Volkspartei, die ihr historisches Erbe nicht wiederbeleben konnte. Das hat auch zu programmatischen Entsprechungen mit sozialdemokratischem Office-Seeking geführt. So wollte man in Thü- ringen im Wahlkampf 2009 »sozial regieren«, und in Brandenburg ging der Eintritt in die Koalition mit der SPD mit so zahlreichen Zugeständnissen einher, dass am Ende ein Profil der Partei nicht mehr erkennbar war. Die West-Landesverbände sind Policy-Seeker: Ihnen geht es zuerst um die Durchsetzung einer sozialstaatlichen Reformpolitik. In der Wahl der Mittel ist man offen und nicht vornehmlich auf Regierungsbeteiligung orientiert. Weder Regierungsbeteiligung, noch Opposition oder eine Politik der Systemtransformation sind ausgeschlossen. Auch wenn es in den politischen Konflikten häufig so erscheint, sind die beiden Quellparteien keine strukturell sich wechselseitig ausschließenden Parteiprojekte, verfolgen aber unterschiedliche Ansätze, die in scharfe Konflikte miteinander geraten können.[1] Innerparteilich setzen sich die unterschiedlichen Grundierungen fort (vgl. den Beitrag von Hildebrandt in diesem Heft): Die stärkste Gruppierung der Parteirechten ist das »Forum Demokratischer Sozialismus« (FDS), in dem sich die Regierungsbefürworter v.a. aus Ostverbänden gesammelt haben, die die Partei als »linke Bürgerrechtspartei« aufstellen wollen. Neben der relativen Offenheit für Privatisierungen und einer Präferenz für einen ausgeglichenen Staatshaushalt wollen sie die prinzipielle anti-militaristische Position Der Linken zu Gunsten von UN-mandatierten Einsätzen verschieben. Das Feld der Außenpolitik wird als Nadelöhr für eine künftige Regierungsbeteiligung gesehen. In den West-Landesverbänden sind vor allem die »Antikapitalistische Linke« (AKL) und die »Sozialistische Linke« (SL) stark. Erstere schließt die marxistischen und linksradikalen Teile der WASG sowie einige Kommunisten aus der PDS ein, zweitere ist vor allem von linkssozialistischen und -keynesianischen Intellektuellen, Gewerkschaftern, ehemaligen Sozialdemokraten und einigen revolutionären Marxisten geprägt. In beiden Strömungen gibt es einen großen Anteil von Antikapitalisten, die in der Mehrzahl jedoch weniger das System revolutionieren wollen, sondern die Überwindung des kapitalistischen Systems als kumulatives Ergebnis von Reformpolitik und Reformkämpfen sehen. Insgesamt sind beide Strömungen noch nicht gefestigt und es gibt verschiedene Schnittstellen – vor allem in der SL – mit dem FDS. Für Lafontaine trifft zu, was Franz Mehring über Paul Singer, Mitbegründer der SPD, schrieb: »Wie alle, die von der bürgerlichen Linken zur Partei gekommen sind, stand Singer auf der Seite, die man die ›radikale‹ zu nennen pflegt: wer der ewigen Nachgiebigkeit und Zugeständnisse überdrüssig geworden ist, wird immer gerechte Scheu empfinden, dies verfängliche Gebiet von neuem zu betreten« (Mehring 1963, 402). Lafontaine ist vor allem ein Vote-Seeker, der eine radikale Rhetorik einsetzt, um mehrere Ziele gleichzeitig zu verfolgen: Die Stimmenanteile der Partei zu erhöhen, die SPD vor sich herzutreiben und damit sowohl einen Kurswechsel in der SPD von außen zu erzwingen, zu dem die linken Kräfte in der SPD (auch durch seinen Weggang) nicht die Kraft gehabt hätten. Innerparteilich integrierte Lafontaie die linken Teile der Partei im Westen, die seine eigene Machtbasis darstellen, und suchte den Konflikt mit den Regierungssozialisten in den Ost-Landesverbänden. Sein Konflikt mit den Ost-Landesverbänden war dabei sowohl ein prinzipieller als auch ein strategischer Streit. Strategisch sieht Lafontaine den Kurs der Ost-Verbände als Barriere für den langfristigen Erfolg der Gesamtpartei, weil er durch Regierungsbeteiligungen in Kombination mit Sozialkürzungen die Glaubwürdigkeit Der Linken gefährdet sieht. Der prinzipielle Konflikt berührt die Frage der linken Programmatik und Perspektive. Während die Regierungssozialisten zu größeren Kompromissen mit der SPD bereit sind, hat sich Lafontaine auf eine spezifische Politiklinie festgelegt, die er zur Bedingung für Regierungsbeteiligungen macht.
PERSPEKTIVEN UNTER BEDINGUNGEN DER PASSIVEN REVOLUTION
Die mangelnde Koalitionsperspektive auf Bundesebene, die ungeklärte Programmatik und der permanente Wahlkampf hatten den Differenzierungsprozess innerhalb der Partei nur aufgeschoben (Messinger/Rugenstein 2009). Seit der Bundestagswahl ist er in vollem Gange. Entscheidend für die Zukunft von der Partei Die Linke wird ihre Rolle und Positionierung hinsichtlich der Neuformierung der sozialen Klassenverhältnisse sein. Bislang ist sie das Produkt der Krise der Klassenrepräsentation durch die SPD und ein erfolgreiches Projekt der Neuzusammensetzung der Repräsentation des Bedürfnisses nach sozialer Gerechtigkeit – in einer Periode, in der die Spaltung von Kapital und Arbeit wieder an Bedeutung gewinnt (Nachtwey/Spier 2007; Nachtwey 2009b). Sie artikuliert den in der Bevölkerung vorhandenen Unmut, aber sie prägt ihn nicht nachhaltig, zeigt nur wenig Alternativen zur Krise des Gerechtigkeitsdiskurs und einen vorsichtigen Keynesianismus vor der Krise die politische Agenda in der Bundesrepublik prägen und gewann stetig an Zustimmung bei den Wählern. Auch das Ergebnis bei der Bundestagswahl mit 11,9 Prozent war ein Erfolg, doch der Zugewinn von drei Prozentpunkten in einer Wirtschaftskrise, die in der Öffentlichkeit oft mit jener der 1930er Jahre verglichen wurde, ist verhältnismäßig gering geblieben. Die Krise hat zu einer Konstellation der »passiven Revolution« geführt (vgl. Gramsci 1991, 1243, 1727f). Forderungen der Opposition und der Gewerkschaften werden integriert, ohne dass sich die Herrschaftsverhältnisse in ihrer Substanz verändern. Die Konservativen haben jetzt schon mit ihrer nüchternen Konversion zum keynesianischen Etatismus Der Linken wichtige Distinktionsmerkmale genommen. Derzeit fehlt der Partei eine kohärente Strategie und eine partizipatorische, massenbewegende Praxis, die sich an den Auseinandersetzungen in Folge der Krise beteiligt. Anfang 2010 stand sie ohne Programm, ohne politische Führung, die die Partei als Ganzes denkt, ohne Zentrum und ohne Flügel, die gelernt haben, miteinander zu kooperieren, ohne ihre Kanten zu verlieren, da. Ein Faktor für die strategische Lähmung ist das niedrige Niveau der sozialen und Klassenkämpfe, die durch staatliche Interventionen wie das Kurzarbeitergeld zudem künstlich niedrig gehalten werden. Auch die Gewerkschaften haben noch keine adäquate Antwort auf die Krise gefunden; noch ist offen, ob man mit wettbewerbskorporatistischen Strategien weiterfahren oder verstärkt zu konfliktorientierten Strategien greifen wird (Deppe 2009). Der Konflikt in der Partei verläuft entlang der Frage: Opponieren oder regieren? Die Frage ist falsch gestellt. Die Frage ist: Wozu opponieren oder regieren? Anpassung und Pragmatismus können eine Partei in eine Sackgasse führen, genauso wie in der linksradikalen, prinzipiellen Ablehnung von Kompromissen das Ausweichen vor den entscheidenden Konflikten steckt (vgl. Lukács 1967, Kap. 6). In der öffentlichen Diskussion wird immer zwischen den »radikalen« Verweigerern (»Fundamentalisten«) und den »realistischen« Pragmatikern unterschieden. Stattdessen wäre zu fragen, was heute »realistische« Politik für Die Linke bedeutet. Kann man an der Regierung tatsächlich die eigenen Ziele erreichen, zu mehr Emanzipation, Gleichheit und Aufklärung beitragen, oder wird man unter dem Druck der Verhältnisse mit in die Logik sozialpolitischer Austerität gezwungen? Wie die SPD hat auch Die Linke keine Vision einer guten Gesellschaft, sie bleibt de facto im nationalstaatlich-keynesianischem Paradigma verhaftet (bei dem es sehr fraglich ist, ob es tragen kann) und zielt auf das sozialere Makro-Management eines Wohlfahrtsstaates, der unter die Mühlen des globalen Wettbewerbs gerät. Sie stellt sich nur ansatzweise Fragen der Transformation der ökonomischen Ordnung, der realen Demokratisierung der Wirtschaft und einer ökologischen Produktion. Regierungsmacht ist flüchtig, wenn sie nicht auf gesellschaftlicher Macht, auf Wiederaneignung des Sozialen und Wiedererlangung der Freiheitsrechte beruht. Gesellschaftliche Macht ist eine »assoziative Macht« (Dörre/Nachtwey 2009), die auf der Mobilisierung von sozialen Bewegungen, der Gewerkschaften, aber auch der Befestigung institutioneller Ressourcen beruht. Doch der Blick zurück auf die Transformation zum Wohlfahrtskapitalismus kann die Perspektive verändern. Nahezu alle zentralen Institutionen des Wohlfahrtsstaates, die Unfall-, Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversorgung, wurden etabliert, als die SPD in der Opposition war. Als starke, selbstbewusste Organisation, die eine andere, gerechtere Ordnung anstrebte und von sozialen, vor allem ArbeiterInnenkämpfen begleitet wurde, fürchteten die Konservativen sich vor dieser mobilisierungsfähigen Gegenmacht so sehr, dass durch ihre vielen Zugeständnisse sie es schließlich waren, die den Wohlfahrtsstaat erschufen (vgl. Korpie 1983). Als der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei sich 1875 zur SPD vereinigten, war die programmatische Ausrichtung zunächst desaströs, Marx’ Zorn über das Gothaer Parteiprogramm legt ein eindrucksvolles Zeugnis hiervon ab (Marx 1875). Doch die ökonomischen und politischen Verhältnisse ließen die SPD in den Folgejahren sich zu einer marxistischen Partei entwickeln. Dies sollte nur eine historische Etappe der SPD bleiben, schon bald gewannen die revisionistischen Kräfte die Oberhand. Doch als sich die USPD von der Mehrheitssozialdemokratie 1917 ablöste, weilten unter ihr einige der Führer der alten SPD wie z.B. Rudolf Hilferding, Karl Kautsky und Eduard Bernstein. Die Führer gingen zur SPD zurück, die Mehrheit der USPD-Mitglieder schlossen sich mit der KPD zusammen. Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie zeigt, welche Dynamik Neuformierungsprozesse in Krisenzeiten entwickeln können.