Die hohen Wellen, die der „Fall Holm“ in der öffentlichen politischen Debatte schlägt, stehen in keinem Verhältnis zur viermonatigen Ausbildungszeit Holms beim Ministerium für Staatssicherheit, die er am 1.September 1989 bei der Bezirksverwaltung Berlin antrat. Am Ende seiner Grundausbildung beim Wachregiment Dzierzynski, Mitte Oktober, war die Macht des MfS bereits in Auflösung. Es geht aber auch gar nicht um diese kurze Elevenzeit des damals 18/19-Jährigen. So sehr sich Holm auch bemüht, darüber will keiner der Angreifer mit ihm debattieren. Auch aus seinem offenen Umgang mit seiner kurzen Stasi-Karriere lässt sich kein politisches Kapital schlagen, weil Holm sich seit Jahren mit dieser sehr selbstkritisch öffentlich auseinandersetzt. Das hat allerdings kaum jemanden, nicht einmal in seinem unmittelbaren Wirkungsumfeld, ernsthaft interessiert. Wie Holm erging es vielen, die über ihre Stasi-Geschichte reden wollten. In den ersten zwei, drei Jahren nach dem Zusammenbruch der DDR, in denen es Gesprächskreise von MfS-Mitarbeiter*innen mit Bürgerrechtler*innen, Verstrickten und Betroffenen gab, in denen es um die Arbeitsweise und die Funktionsmechanismen des Dienstes bei der exzessiven „Bearbeitung“ der Bevölkerung ging, erlahmte das öffentliche Interesse an einer Aufarbeitung des Systems „Stasi“ sehr rasch. Die Auseinandersetzung individualisierte sich. Bürger*innen wollten „ihre Akten“ sehen. Bei der generellen „Stasi-Überprüfung“ in Institutionen, Behörden und politischen Gremien wurde eine Stasi-Mitarbeit zum weitgehend undifferenzierten Eignungskriterium für Individuen mit differenzierten Lebensgeschichten. Auch bei den öffentlichen Auseinandersetzungen um Verstrickung von Personen des öffentlichen Lebens standen in der Regel „Schuld“, „Belastung“ und „moralische Integrität“ des Individuums im Vordergrund. „Stasi-Debatten“ wurden politisch instrumentell geführt. Dabei ging es um politische Macht und gesellschaftlichen Einfluss, um Mandate und Ämter, um Posten und Lehrstühle, um Aufstieg und Abstieg. Der Historiker in Diensten der BStU Kowalczuk klagte auf der Veranstaltung der Havemanngesellschaft zum Fall Holm („Einmal Stasi immer Stasi?“), dass die politische Instrumentalisierung des Stasi-Themas eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Verantwortung des Einzelnen und eine systematische Aufarbeitung des Wirkens des Geheimdienstes als Instrument von Herrschaftsausübung der SED blockiert habe. Aber seit ihrer Gründung unter Leitung von Hansjörg Geiger (später Chef von Verfassungsschutz und BND) war diese Bundesbehörde darauf bedacht, dass die Öffnung der Stasi-Akten nicht – wie von der Bürgerbewegung angestrebt – zur Infragestellung des Prinzips Stasi, der Überwachung und Bespitzelung der Bürger*innen im Namen ihrer und des Staates Sicherheit (ver)führte. Die Fokussierung auf das MfS, dessen Mystifizierung und die Moralisierung (IMs, „Verrat“, „Lüge“) war ein wohl durchdachtes Essential dieser systemkonformen Einhausung des Themas. Die Abwertung der geheimdienstlichen Überwachung war auf DDR und „Stasi“ zu begrenzen. Heute, da die Überwachungsapparate hochgerüstet und die systematische Überwachung der Bürger*innen in allen ihren Lebensbereichen durch staatliche und private Dienste – zu unser aller Wohl – permanent ausgeweitet und vertieft werden, wirkt die Skandalisierung der vier Monate Stasiausbildung des 18- bzw. 19-jährigen Holm völlig anachronistisch. Der Spruch: Aber, wer nichts zu verbergen hat … konnte schon seinerzeit nicht als naiv gelten. Tatsächlich geht es gar nicht um „Stasi“, sondern es geht darum, wofür die Person Holm symbolisch steht, es geht um Gentrifizierung und die soziale Spaltung der Stadtgesellschaft.
Der Fehler des Anderen
Das wird auch darin deutlich erkennbar, dass die Anti-Holm-Kampagne sich von seiner konkreten Stasitätigkeit wegbewegte, weil diese keinen politischen Benefit versprach, und den unkorrekt ausgefüllten Fragebogen der Humboldt-Universität in das Zentrum ihrer Angriffe rückte. Dass das ein Fehler war, ist nicht bestreitbar. Holm hat dies auch so benannt. Er habe sich nicht mehr richtig erinnert, aber er hätte es besser wissen können. Die Holm als Staatssekretär weg haben wollen, halten das für unaufrichtig. Die wollen, dass Holm bleibt dagegen finden das glaubhaft. Hinsichtlich der Bewertung dieses Fehlers fallen die Lager auseinander – und übereinander her. Für die einen ist er lässlich und verzeihlich, für die anderen ist er unverzeihlich und macht Holm für das Amt untragbar. Das ist auch keine Lex Holm, sondern das übliche Ritual in der Politik und in der Medienöffentlichkeit, wenn es um tatsächliches oder vermeintliches Fehlverhalten von Politiker*innen geht. Fehlerhafte Steuererklärung, falsch abgerechnete Dienstwagennutzung, unkorrekte Angaben in der Vita, radikale politische „Jugendsünden“, Alkohol am Steuer, Bonusmeilen usw. usf. – immer sind Bewertung und Umgang mit Fehltritten von den politisch gegensätzlichen Zielen und Interessen der politischen Kombattanten bestimmt. Die politische Nützlichkeit zieht regelmäßig die Debattenlinien über solch individuelle Fehler. Schlimme Fehler, die personelle Konsequenzen verlangen, sind immer nur die der Anderen.
Propaganda von „Gentrifizierung“ und „Selbstermächtigung“
Götz Aly hat die Stasi-Monate des 19-jährigen Holm als lässliche Sünde abgetan und festgestellt, dass das falsche Kreuz im HU-Fragebogen angesichts der Umstände verzeihlich sei. Ungeeignet sei Holm als Staatssekretär auf Grund dessen, was er als erwachsener Mann für politische Auffassungen und Ziele vertreten habe. Seine plumpe Agitation für eine Mieter-Basisbewegung und für deren Selbstermächtigung und Solidarität als Grundlagen einer alternativen Stadtpolitik disqualifiziere Holm für dieses Amt. „Diesem Staatssekretär ist der Hausbesetzer näher als der Investor, und deshalb hat er nichts in einer Regierung zu suchen, Herr Müller“, so FDP-Fraktionschef Sebastian Czaja im Plenum des Abgeordnetenhauses am 12. Januar 2017. Das ist der tatsächliche Kern der Holm-Debatte: eine gesellschaftspolitische Richtungsauseinandersetzung in der Stadt-, Bau- und Wohnungspolitik. Dabei macht man es sich linkerseits zu einfach, wenn man nur die Immobilienwirtschaft als Träger dieser Kampagne gegen Holm ausmacht. Die Immobilienwirtschaft hat von Beginn an keinen Zweifel an ihrer Haltung zur LINKEN und zu Holm an der Spitze der Bau- und Wohnungspolitik Berlins aufkommen lassen. Dass sie und ihre Einfluss-Agenturen in der Holm-Auseinandersetzung aktiv mitmischen, ist üblicher Interessenlobbyismus. Staatssekretär Holm ist schlecht fürs Geschäft, nicht dass er die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingung desselben infrage stellen könnte, aber der Immobilienmarkt ist stimmungssensibel. Zum einen geht es dabei um verlässliche Renditeaussichten bei Investitionsentscheidungen – ob Neubau, Sanierung oder Handel. Zum anderen ist ein Staatssekretär Holm als Symbolfigur geeignet, den Widerstandsgeist der Berliner Mieterschaft gegen Verwertungspläne der Eigentümer und Investoren zu stärken. Es wäre aber verfehlt, die interessenbegründete Abneigung gegen einen Staatssekretär Holm auf die Immobilienwirtschaft einzuengen und alle Holm-Kritiker*innen als deren Agent*innen abzuqualifizieren. In diese gesellschaftspolitische Richtungsauseinandersetzung sind viele soziale Gruppen im wohlverstandenen Eigeninteresse eigenständig involviert. Bodeneigentümer*innen, Bauträger*innen, Eigentumswohnungsbesitzer*innen, Architekt*innen, Makler*innen, Notar*innen u.v.a. sehen ihre Interessen berührt oder gar beeinträchtigt. Politiker*innen, Stadtplaner*innen, Sanierungsbeauftragte, Stadtforscher*innen u.v.a., denen Holm in den letzten Jahren permanent vorgehalten hatte, dass sie der Gentrifizierung und der sozialen Segregation in der Stadt den Weg bereiten würden, sähen ein Scheitern von Holm als Staatssekretär nicht ungern. Und noch weiter: Es gibt eine breite, politisch eher linksliberale Mittelschicht in dieser Stadt, der das „Gerede von Gentrifizierung“ Unbehagen bereitet, weil sie sich und ihre Nachbarschaft in ihrer Lebensweise angegriffen fühlt. Was Holm über all die Jahre attackiert hat, ist die Grundlage ihres heutigen sozialen und kulturellen Alltags in dieser Stadt. Sie haben den Wissenschaftler Holm als notwendigen Teil des gesellschaftlichen Diskurses akzeptiert und ihm auch eine Plattform eingeräumt, als politischem Staatssekretär entziehen sie ihm die Sympathien. Das dokumentieren einige Medien in den letzten Wochen sehr eindrucksvoll.
Political business as usual ?
Also, alles „normal“? Wer eine stadtpolitische Auseinandersetzung herausfordert, darf sich nicht beschweren, dass er eine heftige Debatte bekommt. Dass diese dann mit vorgeschobenen und verschleiernden Debattenthemen und -linien ausgetragen wird, hätte man auch erwarten müssen, weil dies eine seit Jahren geübte Praxis ist. Keiner der Beteiligten sollte allerdings übersehen, dass gerade diese „Üblichkeiten“ des Politikgeschäfts die Abneigung und das Misstrauen vieler Bürger*innen gegen das etablierte politische System begründen. Es geht nicht um die Stasi-Mitarbeit von Holm und auch nicht um das falsch gesetzte Kreuz auf dem HU-Fragebogen. Es geht ausschließlich um die politische Ausrichtung der Stadtpolitik. Müllers aktuelle Positionierung gegen Holm, ist so gesehen, seine alte Position der letzten Jahre als Stadtentwicklungssenator wie als Regierender Bürgermeister. Die Berliner LINKE hat nach wochenlanger Hängepartie eine klare politische Entscheidung des Senats eingefordert, zu Gunsten Holms. Müller hat daraufhin seine Entscheidung gegen Holm verkündet. Nun, muss die LINKE entscheiden, ob sie diese Koalition noch fortsetzen will.
Dieser Kommentar wurde zuerst auf der Website von Michail Nelken veröffentlicht, http://www.michail-nelken.de/index.php/2017/01/14/holm-eine-gefahr-fuer-wen/.