Vor nunmehr zehn Jahren ist das als „Hartz IV“ geläufige „vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ in Kraft getreten. Trotz eingeräumter ‚Opfer‘, gelten die damit verbundenen Reformen in weiten Teilen von Politik und Öffentlichkeit mittlerweile als „Wegbereiter für die Entwicklung Deutschlands zum Wirtschaftswunderland“ (Nahles/Gabriel 2015). Die Arbeitslosigkeit ist laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) seit Beginn des neuen Jahrtausends um gut die Hälfte reduziert worden (statistische ‚Bereinigungseffekte‘ sind dabei allerdings nicht einberechnet). Daneben ist ein weiteres zentrales Reformziel umgesetzt worden, wie der damals amtierende Bundeskanzler Schröder 2005 auf dem World Economic Forum in Davos stolz verkündete: „Wir müssen und wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.“ Der ehemals ‚kranke Mann‘, nun das ‚Vorbild Europas‘ hat, so der öffentliche Tenor, nach einer arbeitsmarktpolitischen Rosskur die Kurve gekriegt und seinen, von WirtschaftswissenschaftlerInnen seit den 1980er Jahren als ‚verkrustet‘ bemängelten Arbeitsmarkt flexibilisiert.
Soweit die offiziellen Erfolgsmeldungen. Meist unausgesprochen, zielt die viel gepriesene ‚Flexibilisierung‘ allerdings vor allem auf das Anspruchsniveau der erwerbs- und transferabhängigen Bevölkerung ab. Mit gesteigerter Sanktionsmacht diszipliniert die ‚aktivierende‘ Arbeitsmarktpolitik die (noch) Beschäftigten. Zugleich wird die Konzessionsbereitschaft Arbeitssuchender zur Aufnahme niedrig entlohnter Beschäftigungsverhältnisse erhöht.
Aber ist mit dem erhöhten Druck auf die Betroffenen auch eine ‚Aktivierung‘ im Sinne des herrschenden Leitbildes einer marktkonformen Selbstoptimierung verbunden? Über die grundsätzliche Kritik an dieser neoliberalen Zielvorgabe hinaus stellt sich die Frage, ob die Arbeitsmarktreformen, gemessen an ihren eigenen normativen Maßstäben, erfolgreich waren. Meine These lautet, dass dies keineswegs der Fall ist. Im Gegenteil: Der ‚aktivierende‘ Zugriff der Arbeitsverwaltung beschädigt jene handlungsleitenden Ressourcen, die vorgeblich für die Arbeitsmarktintegration dienstbar gemacht werden sollen. Tatsächlich werden Fähigkeiten zur Selbstmotivation und Sozialintegration von den sogenannten ‚Kunden‘ zwar gefordert und damit praktisch immer schon vorausgesetzt. Die repressiven Maßnahmen der Jobcenter untergraben diese eigensinnige Handlungsfähigkeit aber systematisch.
Die Subjektlogik der Aktivgesellschaft
Die institutionalisierte Drohgebärde der Arbeitsverwaltungen weist seit Inkrafttreten von „Hartz IV“ eine neue Qualität auf. Es sind nicht nur strafrechtliche Elemente ins Sozialrecht eingeflossen, die selbst die gesetzlich garantierte Grundsicherung noch zu unterminieren erlauben. Auch ist der ‚Kundenklientel‘ sozialstaatlicher Transferleistungen im flexiblen Kapitalismus eine neue Rolle zugedacht. Neuere wirtschaftswissenschaftliche Studien zu den Ursachen von Langzeitarbeitslosigkeit verweisen nicht in erster Linie auf mangelnde oder veraltete Qualifikationen. Vielmehr stehen grundlegende Aspekte der Lebensführung im Fokus. Denn „Employability“ (also Beschäftigungsfähigkeit) beinhalte auch Aspekte „sozialer Präsentabilität (wie saubere Kleidung oder höfliches Benehmen)“ (Promberger 2008, 71).
In dieser Sichtweise kommt eine Subjektlogik der ‚Aktivgesellschaft‘ zum Ausdruck: Sie propagiert den „Übergang von der ‚Staatsversorgung‘ zur Selbstsorge, von der öffentlichen zur privaten Sicherungsverantwortung, vom kollektiven zum individuellen Risikomanagement“ (Lessenich 2009, 163). Nach dieser Logik des individuellen Risikos und der Selbstoptimierung im Interesse der Gesellschaft sinkt sozialstaatliche Absicherung ohne Gegenleistung zur bloßen Alimentation herab. Im Wohlfahrts-Tauschhandel der ‘Aktivgesellschaft‘ ist das Fördern ohne ein reziprokes Fordern, selbst in Zeiten von Arbeitslosigkeit als krisenbedingtem Massenschicksal, nicht länger zu haben. Das ist auch die Gerechtigkeitsannahme vieler SachbearbeiterInnen und FallmanagerInnen (Dörre et al. 2013). Leistungsempfänger sind aufgefordert, umfassend selbstoptimierend für die Verwertung ihrer Arbeitskraft Sorge zu tragen. Sie werden dabei durch den Einsatz arbeitsmarktpolitscher Instrumente und verschärfter Zumutbarkeitskriterien in Schach gehalten. Beide ‚Neuerungen‘, die Zunahme von Repression und die Subjektlogik einer Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit durch individuelle Anstrengungen, resultieren aus einer grundlegenden Annahme: Die sozialpolitische Dekommodifizierung der Ware Arbeitskraft (also die Verringerung der Marktabhängigkeit der Anbieter von Arbeit durch kollektive Absicherung) blockiere arbeitsmarktpolitische Integration statt sie zu fördern. Dem gegenüber stelle die Absenkung des Anspruchsniveaus von TransferbezieherInnen, die stets dem Verdacht des Leistungsmissbrauchs ausgesetzt sind, den Schlüssel zu nachhaltigem Arbeitsmarkterfolg dar. Daraus folgt eine Politik der Aktivierung „with both sticks as well as carrots“ (Walwei 2014, 3).
Eigensinn und Bevormundung
Aber was bedeutet das alles konkret für die Betroffenen und wie ist es, mit „Hartz IV“ leben zu müssen? Im Rahmen einer mehr als fünfjährigen empirischen Studie des Jenaer soziologischen Instituts sind wir dieser Frage auf der Basis von ca. 188 qualitativen Interviews mit (Langzeit-)Arbeitslosen und prekär Beschäftigten nachgegangen (Dörre et al. 2013). Den Anstoß für das Projekt hatte die im Schlepptau der Reformen aufgekommene und medial reißerisch inszenierte Unterschichtendebatte geliefert. Von verschiedenen Seiten wurde damals ein gelungener ‚Mentalitätswechsel‘ Langzeitarbeitsloser proklamiert. Demzufolge hätten die Reformen Betroffene zu intensivierter Jobsuche angeregt und mithilfe der Absenkung der Regelleistungen dem drohenden Müßiggang einer ‚neuen Unterschicht‘ entgegengewirkt. Die darin verborgenen handlungstheoretischen Annahmen provozierten aus unserer Sicht eine soziologische Überprüfung. Wir stellten uns nicht nur die Frage, ob der erzielte ‚Mentalitätswechsel‘ tatsächlich die Ursache des ‚deutschen Beschäftigungswunders‘ darstellte. Vielmehr wollten wir auch klären, was es mit der ‚Unterschichtenmentalität‘ überhaupt auf sich habe und wie die Bedingungen für das Handeln der von den Reformen Betroffenen eigentlich beschaffen waren. Denn über diese Bedingungen schwieg man sich großzügig aus.
Insbesondere die Situation Langzeitarbeitsloser schien mir durch eine spezifische Zerreißprobe gekennzeichnet: Auf der einen Seite sind die Betroffenen mit der Aufforderung der Arbeitsverwaltung konfrontiert, sich permanent disponibel, initiativ und eigenverantwortlich um Reintegration in den Arbeitsmarkt zu bemühen. Dem gegenüber steht die individuell-psychische Erfordernis, den Zustand der Arbeitslosigkeit ertragen zu müssen. Daraus resultiert ein Spannungsverhältnis für die Betroffenen, das einen in höchstem Maße flexiblen und disziplinierten Umgang mit dem eigenen Körper, den eigenen Bedürfnissen und Interessen erforderlich macht. Ich fragte also nach möglichen Grenzen der ‚Aktivierbarkeit‘ schwer vermittelbarer aber nichtsdestotrotz eigensinniger Kunden. Davon versprach ich mir nicht zuletzt Einblicke in die Resistenz der Betroffenen (Haubner in Dörre et al. 2013, 322ff).
Zerstörung von Handlungsressourcen
Meine Annahme fand sich schließlich empirisch bestätigt: Die Maßnahmen der Arbeitslosenverwaltung verstärken einen permanenten Leidensdruck mit dem Ergebnis, dass die Politik der ‚Aktivierung‘ gerade jene subjektiven Handlungsressourcen erschöpft, die permanent vorausgesetzt und abgefordert werden. ‚Aktivierung‘ kann in dieser Hinsicht als selbstwidersprüchliche sozialpolitische Agenda begriffen werden, die vielen Betroffenen Lebensumstände aufzwingt, aus denen eher sozialer Rückzug und Abwehr statt Initiative und Selbstoptimierung resultieren. Und das ist ausgehend vom Standpunkt ‚schwer vermittelbarer Kunden‘ durchaus verständlich. Denn Rückzugsstrategien und die Fähigkeit zur Bedürfnisreduktion stellen rationale Formen des Coping (des psychischen Umgangs mit Arbeitslosigkeit) dar. Das gilt insbesondere dann, wenn die Aussichten auf Reintegration in den Arbeitsmarkt gering sind. Mit einem ‚spätrömisch-dekadenten‘ Reiz-Reaktions-Schema arbeitsunwilliger Faulenzer hat das nichts zu tun. Interessanterweise scheint es einen psychischen Umschlagpunkt im Verlauf von Arbeitslosigkeit zu geben, an dem der bestehende Leidensdruck durch ein Arrangement mit der Arbeitslosigkeit relativ gemindert wird. An die Stelle der Erwerbsarbeit treten dann fallweise andere, private Strukturgeber wie Kinderbetreuung, Pflege sozialer Kontakte, ehrenamtliches Engagement oder eigensinnige Alltagsrituale. Neue Gewohnheiten strukturieren den Alltag und helfen Arbeitslosigkeit als „Zustand simultanen Drinnen- und Draußen seins“ (Simmel 1958) einigermaßen lebbar zu machen. Gerade ein solches ‚Arrangement‘ steht jedoch im Fadenkreuz aktivierender Arbeitsmarktpolitik. Das Sich-Abfinden mit mehr oder weniger aussichtslosen Situationen und die mühsam zurückeroberte Handlungsfähigkeit unter den Bedingungen gesetzlich verordneter Armut stehen dem Aktivierungsparadigma und seinen Forderungen nach unablässiger Eigeninitiative am Arbeitsmarkt diametral entgegen. Das Ergebnis ist eine Zerreißprobe, ein Kampf um Selbstbestimmung, bei dem die Betroffenen zum Teil verzweifelt die letzten Bastionen psychischen Wohlbefindens und sozialer Respektabilität zu verteidigen suchen.
Besonders plastisch wurde ein solcher Kampf während unserer Forschung am Beispiel einer langzeitarbeitslosen Facharbeiterin, die seit ihrer Entlassung im Zuge der Wiedervereinigung zunehmend unter depressiven Zuständen litt. Angesichts eines wiederholt angedrohten Zwangsumzuges seitens des zuständigen Jobcenters wusste sie sich nicht mehr anders zu helfen, als der Arbeitsvermittlung mit dem Suizid zu drohen. Nicht nur Resignation, veränderte Gewohnheiten und Lebensrhythmen hatten zu einer schrittweisen Abkehr von Bewerbungsbemühungen und einem ‚Arrangement‘ mit der Langzeitarbeitslosigkeit geführt. Das psychische Leid und die Angst, mit dem Wohnumfeld den letzten sozialen Integrationskontext zu verlieren, markieren eine Grenze der Aktivierbarkeit. Sie illustrieren in erschreckender Weise die zerstörerische Wirkung restriktiver Verhaltensanforderungen in Kombination mit der erfahrenen Aussichtslosigkeit der Arbeitsplatzsuche. Statt flexible und ‚aktive‘ Subjekte im Sinne der Reform zu ‚fördern‘ und zu ‚fordern‘, provoziert die Arbeitsmarktpolitik in Fällen wie diesem defensive Rückzugsstrategien und sogar existenzbedrohende Krisen. Sie verstärkt den bestehenden Leidensdruck Arbeitsloser, weil ein Ziel der Reform gerade im „Aufbrechen spezifischer Milieus“ und deren (als sozialbetrügerisch unterstellten) ‚Arrangements‘ besteht. Die ‚aktivierende‘ Arbeitsmarktpolitik verfehlt auf diese Weise systematisch ihre eigene Zielsetzung.
Ein parasitäres Regime
Das genannte Beispiel veranschaulicht nur einen Typus der von uns befragten Arbeitslosen. Bei jenen, die bereits selbständig ohne Unterstützung des Jobcenters nach Arbeit suchen, rennt die Reform offene Türen ein. Und bei den wenigen, die sich aus Resignation von der Arbeitssuche gänzlich verabschiedet haben, erzwingen Sanktionsdrohungen eher findige Unterlaufstrategien als dass sie passförmige Selbstoptimierer erzeugen.
Demzufolge kann das arbeitsmarktpolitische Handlungspostulat der ‚Aktivierung‘ als gescheitert betrachtet werden. Statt die arbeitsmarktkonforme Handlungsfähigkeit von Erwerbslosen zu befördern, untergräbt das Arbeitsmarktregime nicht nur die jhandlungsfähigkeit der Betroffenen, es verhält sich auch parasitär. Integrationserfolge lassen sich meist nicht auf ‚Aktivierung‘, sondern auf jene subjektiven Dispositionen und Erwerbsorientierungen zurückführen, die lebensgeschichtlich von den Betroffenen bereits angeeignet worden sind und die unter den Bedingungen ‚aktivierender‘ Arbeitsmarktpolitik geschleift werden. Diese Orientierungen sind wesentlich hartnäckiger als es das behavioristische Credo der Reformen vermuten ließe. Die Jobcenter haben es mit „eigensinnigen Kunden“ zu tun, deren Erwartungen an „gute Arbeit“ nicht reibungslos nach unten korrigiert werden können.
Diese zentrale Beobachtung schließt auch renitentes Verhalten gegenüber der Arbeitsverwaltung ein, das wir an einigen Fällen dokumentieren konnten. Zum Teil nehmen die Betroffenen die Reform beim Wort und fordern als ‚Kunde‘ selbstbewusst angemessene Beschäftigungsoptionen für sich ein. Der konstatierte „Eigensinn“ verspricht allerdings auch nicht automatisch, dass wir es mit „emanzipatorischem Potential“ zu tun hätten. In vielen unserer Interviews grenzten sich Befragte, unter beherztem Rückgriff auf die Diktion der Unterschichtendebatte, gegen vermeintliche ‚Sozialschmarotzer‘ ab.
Trotz eigensinniger Grenzziehungen konnten wir über den Forschungszeitraum hinweg beobachten, dass die Konzessionsbereitschaft vieler Erwerbsloser unter den Bedingungen von „Hartz IV“ tatsächlich steigt. Diese institutionell bewirkten Verhaltenskorrekturen zahlen sich allerdings für die Betroffenen meist nicht aus. Den häufig zu beobachtenden Teufelskreis aus Erwerbslosigkeit, prekärer Beschäftigung und sozial geförderter Beschäftigung, ohne Aussicht auf Integration in den ersten Arbeitsmarkt, hat Klaus Dörre als „zirkuläre Mobilität“ bezeichnet (Dörre et al. 2013, 368). Die Reformen wirken hier als Prekarisierungstreiber eines expandierenden Niedriglohnsektors und können in dieser, und wahrscheinlich nur in dieser Hinsicht, durchaus als erfolgreich eingestuft werden.
Aus der Perspektive soziologischer Gesellschaftskritik ermöglichen die Grenzziehungen der von uns befragten Langzeitarbeitslosen eine immanente Kritik der arbeitsmarktpolitischen Reformwirkungen. Die dokumentierten Leiderfahrungen, die eigensinnigen und zum Teil widerständigen Praktiken und die Rekonstruktion von Sozialkritik der Betroffenen weisen auf das Scheitern des Aktivierungspostulats hin. Sie geben den Blick frei auf die Notwendigkeit von grundlegenden Veränderungen.