Der E-Commerce-Riese Amazon ist nicht nur in Europa und Nordamerika aktiv, er drängt auch auf den asiatischen Markt. Allein in Indien will der Konzern laut CEO Andrew Jassy bis 2030 15 Milliarden US-Dollar investieren. Gespart wird dagegen beim Arbeitsschutz, wie zuletzt die jüngste Hitzewelle offenbarte. Über die Situation in den Warenlagern und die Gegenwehr der Beschäftigten sprach Hans-Christian Stephan mit  dem Organizer Dharmendra Kumar und der Amazon-Arbeiterin Manju Goel. [1]

 

»Im Warenlager gibt es keine Luft, kein Wasser, kein Sonnenlicht, keinen Schatten ̶ es ist ein reiner Ausbeutungsbetrieb, in dem nur gearbeitet wird. Jede Minute dreht sich um Arbeit: Quoten, Zielvorgaben, Erniedrigung, Ausbeutung und vieles Unbeschreibliche mehr.« (Manju Goel, AIWA)

Seit 2012 ist Amazon auf dem indischen Markt aktiv und hat mittlerweile vor allem in den Metropolregionen um Delhi, Mumbai oder Bangalore ein Netz aus Fulfillment Centern und Delivery Hubs aufgebaut. Mittlerweile arbeiten über 150 000 einfache Warenlager-Arbeiter*innen an über 100 Standorten. Dass der Konzern stark in den indischen Markt investiert, ist keine Überraschung. Das mit 1,48 Milliarden Menschen seit 2024 bevölkerungsreichste Land der Erde ist ein interessanter Markt. Die jährlichen Wachstumsraten im E-Commerce-Sektor gehören mit knapp über zehn Prozent zu den höchsten in der Welt. Im Land nutzen mehr als 700 Millionen Menschen das Internet. Auch wenn laut Dharmendra Kumar nur 350 Millionen Inder*innen aufgrund des Einkommens als Amazon-Kundschaft in Frage kommen, sind das mehr potenzielle Kund*innen als die USA Einwohner*innen hat. Amazon ist mittlerweile Marktführer, dicht gefolgt vom lokalen Konkurrenten Flipkart, an dem der US-Einzelhändler Walmart Anteile hält. Noch gilt bei Flipkart und anderen heimischen E-Commerce-Unternehmen die Arbeit als weniger stressig. Gleichzeitig ist zu befürchten, dass sich andere Onlinehändler immer mehr an den Arbeitsbedingungen bei Amazon orientieren. Das will unsere Partnerorganisation AIWA verhindern.

Arbeiten bei Amazon in Indien

Die AIWA ist vor allem in den sieben Fulfillment Centern im Großraum Delhi im Bundesstaat Haryana aktiv. Delhi, das von hier aus beliefert wird, wird voraussichtlich bis zum Ende des Jahrzehnts zur größten Stadt der Welt anwachsen und fast 40 Millionen Einwohner*innen haben. In den Warenlagern arbeiten jeweils zwischen 1 000 und 1 500 Arbeiter*innen. Der bundesstaatliche Mindestlohn in Haryana beträgt für ungelernte Arbeiter*innen, wozu die Warenlager-Arbeiter*innen zählen, mit 10 660,28 Rupien (ca. 120 Euro) nur ungefähr zwei Drittel von dem in Delhi. Amazon-Arbeiter*innen verdienen brutto 13 606,75 Rupien (ca. 152 Euro) und netto 10 088 Rupien (ca. 113 Euro). Sie arbeiten dafür 5 Tage die Woche in Zehn-Stunden-Schichten. 

Amazon bezahlt außerdem einen monatlichen Gesundheitsbonus von 3 250 Rupien (ca. 36 Euro), wenn man nicht krankheitsbedingt ausfällt. Das erhöht den Druck, krank zu arbeiten, denn der Lohn ist auch fürs Umland Delhis mittlerweile zu niedrig. Auch hier steigen die Miet- und andere Lebenshaltungskosten. Die Arbeiter*innen kamen hierher oft als Migrant*innen aus den ländlichen Regionen Nordindiens. Von dem Lohn können sie sich nur einen Platz in Massenunterkünften leisten, auch weil sie einen Teil ihrer Einkommen zurück an ihre Familien überweisen, etwa für die Pflege kranker Angehöriger oder die Ausbildung jüngerer Geschwister. Dharmendra Kumar beschreibt, was Amazon so attraktiv für die binnenmigrantischen Arbeiter*innen macht:


"Sie suchen in den Städten nach Arbeit, weil es auf dem Land keine andere Arbeit gibt als die in der Landwirtschaft. Also kommen sie in die Städte mit dem Traum, einen guten und sicheren Job zu finden. Amazon hat offene Stellen, weil sie Leute brauchen. Sie entlassen ständig Angestellte, also müssen sie auch immer neue Leute einstellen. Sie geben einem Vertragspapiere und eine gesetzliche Sozialversicherung. Keine Selbstverständlichkeit in einem Land, in welchem 93 Prozent informell beschäftigt sind."


Allerdings setzt Amazon auch in Indien auf ein flexibles Beschäftigungssystem mit hoher Fluktuation, was kennzeichnend für den „Amazonismus“ ist und sich angepasst an die jeweiligen nationalen Bedingungen.[2] In Indien hat das Unternehmen über 90 Prozent der dortigen Beschäftigten über Leiharbeitsfirmen rekrutiert. Bei unserem Treffen beschrieb die Arbeiterin und Gewerkschaftsaktivisten Manju Goel die Arbeitsbedingungen in ihrem Warenlager wie folgt: 


"Wir müssen zehn Stunden lang im Stehen arbeiten. Es gibt jeweils eine halbstündige Mittagspause und eine halbstündige Teepause. Bei der Mittagspause stellte ich fest, dass ich zehn Minuten nur mit Auschecken und Stempeln verbringe. Als ich nach der Kontrolle die Kantine erreichte, sah ich, dass dort ein riesiger Andrang herrschte und eine lange Schlange von Menschen anstand. Es dauerte weitere zehn Minuten, bis ich an die Reihe kam. So blieben mir nur zehn Minuten zum Mittagessen und der Rückkehr in meine Abteilung.

Wir müssen jeden Tag verschiedene Ziele erreichen, und zwar um jeden Preis. Wenn jemand es auch nur versehentlich verfehlt, wird er von seinem Vorgesetzten schroff angegangen und angeschrien. Selbst am Nationalfeiertag unseres Landes, dem Unabhängigkeitstag, bekommen wir keinen Urlaub, während alle anderen im ganzen Land frei haben. Im Warenlager ist aufgrund von Sonderangeboten an diesem Tag sogar noch mehr los. 

Kürzlich fiel es mir aufgrund von Müdigkeit schwer zu stehen, sodass ich dies mit meinem Vorgesetzten besprach und um einen Abteilungswechsel bat. Ihre Antwort war in etwa so: 'Du bist in der Abteilung eingesetzt worden, also bleib dort. Wenn es dir zu hart ist, dann kündige und bleib zu Hause.'“


Die Berichte über die Arbeitsbedingungen bei Amazon in Indien kommt Amazon Arbeiter*innen an Standorten in Europa und Nordamerika bekannt vor., wenn es beispielsweise um Pausenzeitklau oder den respektlosen Umgang von Vorarbeiter*innen mit den Beschäftigten geht, die diese antreiben, damit die Zielvorgaben erreicht werden. In Indien muss dabei aber berücksichtigt werden, dass die Arbeitswoche 50 Stunden beträgt und es sich fast ausnahmslos um Leiharbeiter*innen handelt, die besonders unter Druck stehen, wenn sie im Unternehmen bleiben wollen. Gewerkschaftliche Strukturen befinden sich erst im Aufbau.

Die Hitzewelle

Ende Mai und Anfang Juni erlebte Indien eine Rekordhitzewelle. In den Vororten Delhis, wo die Amazon Warenlager liegen, wurden wochenlang Temperaturen von weit über 40° Celsius gemessen. Eine enorme Mehrbelastung für die Arbeiter*innen. Manju Goel berichtete auf dem AWI-Treffen:


"Trotz dieser Extremhitze gab es keine angemessenen Maßnahmen zur Senkung der Temperatur und zur Belüftung in den Lagerhäusern. Arbeiter*innen, die Waren in LKW ein- und ausladen, müssen Temperaturen aushalten, die höher sind als die Außentemperaturen. Die Vorarbeiter*innen sitzen in der Nähe der Kühlungsanlagen und lenken die kühle Luft auf sich selbst, während die Arbeiter*innen unter der Hitze beim Be- und Entladen leiden. Selbst während der Hitzewelle forderte das Management am 16. Mai gegenüber den Angestellten das Versprechen ein, dass diese weder die Toilette benutzen noch Wasser trinken, bis sie ihre Leistungsziele erreicht haben. "


Doch die Arbeiter*innen und die Gewerkschaft AIWA ließen diese Zumutungen nicht auf sich sitzen. Sie informierten die Medien und staatliche Behörden, um Druck auf das Unternehmen aufzubauen. AIWA ging mit Forderungen an die Öffentlichkeit, dass Amazon Maßnahmen zum Schutz vor Hitze und insbesondere vor Hitzschlägen für seine Angestellten ergreifen solle. Außerdem forderte sie Lohnausgleich bei hitzebedingten Arbeitsausfällen sowie angemessene Pausenräume. In den sozialen Medien kursierten Bilder, wie Arbeiterinnen in den Umkleiden erschöpft auf dem Boden lagen. Mehrere indische Zeitungen berichteten in der Folge über die Lage in Warenlagern.[3] 

Die National Human Rights Commission, eine staatliche Behörde zur Überprüfung von Menschenrechtsverstößen, schaltete sich ein. In Bezug auf diesen Fall sprach Amazon von einem Fehlverhalten, aber auch von einem Einzelfall. Aufgrund des Drucks hat der Konzern bereits gewisse Veränderungen angekündigt, Verhandlungen mit Gewerkschaften werden aber wie auch sonst vermieden. Zuletzt schrieb die AIWA weitere Beschwerdebriefe an staatliche Behörden. Noch ist offen, inwieweit weitere indische Behörden darauf eingehen werden.

Die Hitzewelle in Indien mag ein Extremfall sein, doch werden sich aufgrund des Klimawandels solche Fälle in den kommenden Jahren häufen. In New York hat die Amazon Labour Union, die im April 2022 die erste Gewerkschaftswahl bei Amazon in den USA gewann, Forderungen an die Geschäftsleitungen formuliert. Darin wird Amazon aufgerufen alles zu tun, um das Warenlager auf 22°C herunterzukühlen. Sie verweist dabei auf einen Todesfall in einem anderem US-Warenlager. Das Arbeiten unter den Bedingungen der Hitze erhöht zum Beispiel die Gefahr von Herzinfarkten. Bereits im letzten Sommer hatten Arbeiter*innen im Amazon Luftfrachtstandort in San Bernardino, Kalifornien, eine Organizingkampagne rund um das Thema gestartet. Sie konnten mehr Ventilatoren, mehr Pausen und einfacheren Zugang zu Wasser während der Arbeit durchsetzen. Aber die Warenlagerarbeiter*innen sind nicht die einzigen Betroffenen in der Lieferkette. Auch Fahrer*innen in den USA protestierten forderten Maßnahmen für kühlere Fahrzeuge. Diese Beispiele aus Indien und den USA können lehrreich für künftige Auseinandersetzungen sein.

Perspektiven gewerkschaftlicher Kämpfe in Indien

Seit 2022 baut die AIWA in den Warenlagern im Großraum Delhi ein Netzwerk von Arbeiter*innen auf. Unterstützt wird das Projekt dabei von UNI Global, einem weltweiten Dachverband zahlreicher Gewerkschaften im Dienstleistungssektor, dem in Deutschland die ver.di angehört. UNI legt seit Jahren einen besonderen Fokus auf Amazon. Ziel von AIWA ist es derzeit, Treffen mit Arbeiter*innen zu organisieren und gemeinsame Forderungen aufzustellen, über die mit dem Konzern verhandelt werden soll. In Indien müssen sich mindestens 100 Arbeiter*innen pro Warenlager gegenüber dem Management als Gewerkschaftsmitglieder ausweisen, damit eine Gewerkschaft ihre Rechte wahrnehmen kann. Auf dem AWI-Treffen stellte die Gewerkschaft bereits einige Forderungen vor, wie das Ende von Leiharbeit, einen Lohn von 25 000 Rupien (ca. 280 Euro), mehr Arbeitsschutz, angemessene Ruhemöglichkeiten sowie realistischere Leistungsziele. Für Arbeiterinnen fordert die Gewerkschaft ein Ende von Belästigungen und angemessen Sanitäranlagen. Allerdings ist noch fraglich, ob Verhandlungen zustande kommen. In anderen Ländern hat sich bereits gezeigt, dass das Unternehmens nur dazu bereit mit Gewerkschaften zu verhandeln, wenn es gesetzlich dazu gezwungen wurde. 

Neben dem Druck auf der Betriebsebene nutzten die Gewerkschaften den weltweiten Aktionstag #MakeAmazonPay am Black Friday, um die Arbeitsbedingungen zu skandalisieren. Die AWI wird die AIWA bei der Durchsetzung dieser Forderungen in Solidarität begleiten und die Beziehungen zwischen Arbeiter*innen im globalen Norden und globalen Süden stärken. 

[1] Beide engagieren sich bei Amazon India Workers Association (AIWA), einer Gewerkschaft, die für bessere Arbeitsbedingungen bei Amazon in Indien kämpft. Auf den Diskussionen auf dem diesjährigen Treffen der Amazon Workers International (AWI) in den Räumen der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Genf über die Lage in Indien beruht dieser Artikel. Ich bedanke mich an dieser Stelle beim Team der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Genf für die Vorbereitung und Unterstützung des Treffens.

[2] Zum Amazonismus: Georg Barthel “Amazonismus. Management im digitalen Kapitalismus.“ IAQ Report 2023, no. 6 (Juni 2023): https://doi.org/10.17185/duepublico/78750.

[3] Ein lesenswerter Artikel in The Quint berichtete vom Leiden der Arbeiterinnen unter den miserablen Arbeitsbedingungen.  

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