Du bist in der Initiative #IchBinArmutsbetroffen aktiv. Was bedeuten Inflation und Energiekrise für Menschen in Armut? 

Es ist die schlimmste Krise, die wir armutsbetroffenen Menschen erleben, die Situation ist katastrophal. Ich habe mit Menschen gesprochen, die nach Erhalt ihrer Grundsicherung Anfang des Monats einmal groß einkaufen gehen und dann nur noch 50 Euro auf dem Konto haben. Eine Freundin ist letztens weinend im Supermarkt zusammengebrochen, weil ihr Geld nicht einmal mehr für ein Stück Käse reichte. Bei vielen ist das Geld wegen der Preissteigerungen zum Zehnten des Monats so gut wie verbraucht. Wer weder Freunde noch Familie hat, die unterstützen, und nicht zur Tafel oder zu anderen Einrichtungen kann, verzichtet auf Mahlzeiten, auf zuzahlungspflichtige Medikamente, auf heile Schuhe, auf warme Kleidung, hat Hunger oder friert.

Warum reichen die politischen Antworten der Ampel nicht aus?

Weil es halbherzige Lösungen sind. Hartz IV-Empfänger*innen wird die Gasrechnung vom JobCenter bezahlt, nicht aber der Strom. Der wird mit rund 38 Euro im Monat pauschal abgegolten. Ich zahle aber inzwischen 68 Euro. Rentner*innen, Studierende, Auszubildende oder prekär Beschäftigte müssen die seit Frühjahr stark gestiegenen Energiekosten bisher selbst tragen. Einmalzahlungen kommen zu spät und fangen die Mehrkosten kaum auf. Von der Übernahme der Gasabschlagszahlungen im Dezember haben viele Mieter*innen und Menschen mit Ölheizungen nichts. Der Gaspreisdeckel ab März kommt zu spät. Der Strompreisdeckel ab Januar deckt nur 80 Prozent des bisherigen Verbrauchs. Beide Deckel bevorzugen die reichsten zehn Prozent unserer Gesellschaft, die genau so viel Energie verbrauchen wie die ärmsten 40 Prozent. Und das geplante Bürgergeld mit seinen 50 Euro mehr im Monat ist, sofern das Gesetz so umgesetzt wird, nicht einmal ein Inflationsausgleich. 

Eure Initiative gibt es seit Mai, als der Tweet #IchBinArmutsbetroffen bei Twitter viral ging. Welcher Nerv wurde dadurch getroffen?

Die Twitter-Userin @finkulasa, hat den Hashtag am 12. Mai ins Leben gerufen und ihre prekäre Situation als alleinerziehende Mutter geschildert. Ihre Botschaft war: Wir sind vielleicht finanziell arm, aber auf keinen Fall „sozial schwach“. Wir sind wertvoll! Wir arbeiten, indem wir Kinder erziehen, Angehörige pflegen oder trotz schwerer Erkrankungen versuchen, den Alltag zu meistern. Es gibt eigentlich nichts, wofür wir uns schämen müssen. Niemand von uns hat sich seine Armut ausgesucht, wir wurden von ihr getroffen. Das hat das Gefühl von ganz vielen auf den Punkt gebracht. Als immer mehr Menschen unter dem Hashtag ihre Geschichte erzählt haben, waren wir plötzlich nicht mehr allein. Wir waren viele!

Wie bist du selbst dazu gekommen, dich zu engagieren? 

Ich bin im Mai 2019 durch eine Trennung in Armut gerutscht. Dann kam Corona. Das hat mir als selbstständige Journalistin finanziell das Genick gebrochen. Zumal meine Kinder beides nicht gut weggesteckt haben. #IchBinArmutsbetroffen war für mich wie eine Rettung. Bis dahin hatte ich mich komplett zurückgezogen und immer mehr isoliert. Ich fühlte mich wertlos, weil ich nichts für die Gesellschaft geleistet, aber Geld von Staat angenommen habe. Als der Hashtag aufkam, habe ich gespürt, wie viele wir sind. Und dass es sich lohnt, aufzustehen und zu kämpfen. 

Inzwischen ist aus #IchBinArmutsbetroffen eine Bewegung geworden, mit Ortsgruppen in mehreren Städten. Wie ist das gelungen? 

Viele, die auf den Hashtag reagiert haben, wollten über die Anonymität von Twitter hinausgehen. Das hat die Stiftung OneWorryLess aufgegriffen und für unsere Proteste Geld akquiriert. Sie vermittelt seit 2018 über Twitter Direkthilfen für Armutsbetroffene, etwa #Bratenpaten, die Hilfe für Lebensmittel leisten oder #Technikpaten für die Anschaffung von Geräten. Sie will außerdem dazu beitragen, dass Armutsbetroffene sich selbst ermächtigen und politisch aktiv werden. Wir wollen als Bewegung Gesicht zeigen, auf Vorurteile und Missstände aufmerksam machen und Veränderungen herbeiführen. Besonders schön ist zu sehen, wie wir alle mit unserem Engagement gewachsen sind. Wir sind selbstbewusster geworden, stärker.

Was sind eure Forderungen?

Unsere Forderungen ähneln denen vieler linker Gruppierungen. Wir wollen eine Besteuerung von Überreichtum, Energiesicherheit und krisenfeste Löhne für Arbeitende. Wir fordern Chancengerechtigkeit für Kinder und Jugendliche, barrierefreie Mobilität für alle, die es benötigen, faire Gesundheitsvorsorge und allgemeine Teilhabe. Dazu braucht es eine Umverteilung von oben nach unten. Klimaschutz ist uns sehr wichtig, wir fordern aber eben auch und vor allem eine krisenfeste Absicherung armer Menschen. Diese Forderung haben noch nicht alle linken Gruppierungen im Blick. 

Es gibt 13,8 Millionen armutsbetroffene Menschen in Deutschland. Doch in politischen Bewegungen und Parteien sind sie fast gar nicht vertreten. Warum ist es so schwierig, sich zu organisieren, wenn man arm ist? 

Armutsbetroffene begegnen überall Vorurteilen und Ausgrenzungen, auch bei angeblich Linken. Überall spricht man über uns, aber nicht mit uns. Man traut uns nicht zu, dass wir eine Grundbildung haben, uns gut und klar artikulieren können. Andererseits macht Armut krank. Viele Betroffene sind psychisch belastet oder körperlich gehandicapt, sie können sich schon deshalb nur begrenzt engagieren. Und nicht zuletzt hemmen die Kosten das Engagement. Viele von uns können sich ein Bus- oder Bahnticket zu Treffen oder Kundgebungen nicht leisten oder haben niemanden, der in der Zeit Kinder oder Angehörige betreut.

Was plant ihr, um Druck aufzubauen? 

Wir sind auf vielen Ebenen aktiv. Zum einen machen wir auf Twitter weiter Druck. Außerdem planen wir Kundgebungen und Proteste, so wie am 15. Oktober vor dem Kanzleramt in Berlin wollen wir auch in Städten wie Kiel, Köln, Berlin, München, Bochum oder Hamburg demonstrieren. Wir sind im Bündnis unter anderem mit Genug ist Genug bundesweit, gehen aber auch mit breiteren Bündnissen aus Gewerkschaften und anderen linken Gruppierungen auf die Straße, um für eine solidarischere Gesellschaft zu kämpfen. Und wir planen weiterhin eigene Aktionen.

Wie muss eine erfolgreiche linke Bewegung für Umverteilung aussehen, die nicht nur für, sondern mit armutsbetroffenen Menschen kämpft? 

Zuerst einmal brauchen wir Augenhöhe! Nehmt uns endlich ernst! Ich wurde letztens erst von einer Politikerin der Partei DIE LINKE paternalistisch übergangen, die mir den Stempel „arm gleich dumm“ aufdrückte, ohne mich überhaupt zu kennen. Sie hat vor größerer Runde behauptet, wir wären nur durch ihre Unterstützung in zwei Medienberichten erwähnt worden, dabei bestanden die Kontakte schon zuvor. Das ist typisch für den Umgang mit Armutsbetroffenen und für mich Klassismus pur. Nicht nur in Unions- und Ampelparteien, auch in linken Gruppen und Parteien gibt es Menschen, die uns nichts zutrauen.