Die Verfassung, über die Chile am 4. September in einem Referendum abstimmt, ist eine der fortschrittlichsten der Welt. Die feministischen Bewegungen haben sich in diesen Verfassungsentwurf eingeschrieben. Er macht vorstellbar, wie eine weniger patriarchale Gesellschaft aussehen kann. 

Es bleiben nur noch 2 Tage für die Mobilisierung – sie werden ausschlaggebend sein für den Erfolg des Apruebo. Die feministische Kampagne (#apruebofeminista) für das Referendum, läuft also auf Hochtouren. Unter dem Hashtag #BuenasNoticiasFeministas werden täglich Informationen über wichtige Verfassungsartikel veröffentlicht, die feministischen Errungenschaften darstellen. Sie soll Frauen und Queers in allen Regionen des Landes mobilisieren, für den Verfassungstext zu stimmen. „Es geht hier um ein episches Moment, das ist ein sehr wichtiger Punkt in der Mobilisierung“, erklärt Karina Nohales, Sprecherin der Coordinadora Feminista 8 de Marzo (CF8M) und nun Teil der Kampagne. „Wir gehen da raus und sagen: Die Stimmen der Frauen sind entscheidend für das Referendum – wir sind es, die die Verfassung des Tyrannen endgültig begraben werden.“

Eine feministische Verfassung

Die neue chilenische Verfassung ist geprägt vom Geist der jüngsten Welle des lateinamerikanischen Feminismus, der nicht nur in Chile Millionen Menschen auf die Straße brachte. Unter diesem Einfluss wurde sie als erste weltweit von einem paritätisch besetzten Gremium entworfen. Die Hälfte der 155 Konventsmitglieder waren Frauen. Das spiegelt sich im Ergebnis: Die Bedeutung von Geschlechterverhältnissen zieht sich durch den kompletten Verfassungstext, anstatt nur in einzelnen, speziellen Artikeln oder Kapiteln aufzutauchen. Wenn eins geschafft wurde in dem Jahr harter Arbeit, in dem der Verfassungskonvent den Vorschlag ausgearbeitet hat, dann ist es die Ausarbeitung einer Verfassung, die vom ersten bis zum letzten Artikel eine feministische Handschrift trägt.

„Wir überzeugen, indem wir erklären, dass unsere Rechte in der neuen Verfassung anerkannt werden: das Recht auf Anerkennung von Haus- und Pflegearbeit, die geschlechtliche Parität in allen staatlichen Organen, die sexuellen und reproduktiven Rechte – die Abtreibung“, sagt Karina. Der Kampf gegen patriarchale Gewalt und für das Recht auf Abtreibung hat in den letzten Jahren in Lateinamerika Massen bewegt und eine ganz neue junge Generation Feminist*innen politisiert. In Chiles Nachbarland Argentinien wurden Anfang 2021 freiwillige Schwangerschaftsabbrüche legalisiert – ein riesiger Triumph für die feministischen Bewegungen der ganzen Region, der durch unermüdliche Protestbewegung erkämpft wurde.

Gerade deshalb ist auch die Polemik gegen das Recht auf Abtreibung in der zutiefst katholischen Region groß. Es in den Verfassungsentwurf aufzunehmen war ein großer strategischer Streitpunkt innerhalb des Konvents, selbst unter Feminist*innen. Viele waren der Ansicht, das das Anlass für ein Rechazo, die Ablehnung des Entwurfs im Referendum, geben könnte. Karina Nohales sieht das anders: „Es wird gerade die Abtreibung sein, die uns das Apruebo garantieren wird. Denn in Chile sind genau dafür Millionen Frauen auf die Straße gegangen. Die feministische Bewegung hat die größte Mobilisierungskraft unter allen sozialen Bewegungen in diesem Land. Wir können Sachen erreichen, die die Größe unserer Organisationen absolut übersteigen. Das ist so.“ Das hat die feministische Bewegung in den letzten Jahren vielfach unter Beweis gestellt – zum Beispiel mit ihren Kampagnen gegen die „Prekarisierung des Lebens“, unter deren Dach sie die verschiedenen sozialen Kämpfe der letzten Jahrzehnte wie keine andere Bewegung vereinen konnte und deren Forderungen sich jetzt im Verfassungstext widerspiegeln. Oder durch die Unterstützungskampagne für Präsidentschaftskandidat Gabriel Boric, der nicht zuletzt dadurch im zweiten Wahlgang die Stichwahl gewinnen konnte.

Dennoch könnte es für das Apruebo knapp werden, denn mediale Großkampagnen und Fake News aus dem konservativen Lager bestimmen die öffentliche Meinung. Es geht aber nicht nur darum, die Abstimmung zu gewinnen, sondern auch das Ergebnis zählt: ein höherer Sieg würde die nötige Legitimität schaffen, um nicht sofort wieder dem politischen Druck ausgesetzt zu sein, Reformvorhaben abzuschwächen oder zurück nehmen zu müssen.

Dass die so wichtige Forderung der feministischen Bewegung nach dem Recht auf Abtreibung nun sogar Verfassungsrang bekommen soll, ist Teil einer Reihe von sozialen Kämpfen, die sich in die Institutionen eingeschrieben haben. Sie ist elementarer Teil der sexuellen und reproduktiven Rechte und der freien Entscheidung über den eigenen Körper. In diesem Rechtekomplex wird in der neuen Verfassung auch explizit das Recht auf die eigene Sexualität und Lust festgeschrieben sowie der Zugang zu Verhütungsmitteln und zu einer selbstbestimmten und geschützten Geburt und Mutterschaft, die der Staat ohne Diskriminierung garantieren muss.

Geschlechtliche Gleichberechtigung und Parität sind zum grundlegenden Prinzip der Verfassung geworden. Alle staatlichen Organe, öffentliche Institutionen, Verwaltung, Justiz und öffentliche Unternehmen müssen mindestens zur Hälfte mit Frauen besetzt sein. Repräsentation ist nicht alles, aber, so Alondra Carillo, die als Feministin in ihrer Nachbarschaftsorganisation in den Verfassungskonvent gewählt wurde: „Wenn wir präsent sind, ändern sich die Inhalte der Demokratie. Wenn wir in Räumen anwesend sind, in denen demokratische Entscheidungen getroffen werden, haben unsere Leben die Möglichkeit als politisches Problem sichtbar zu werden. Sonst werden sie oft zum letzten Punkt auf der Tagesordnung oder nur als spezifische Probleme, nicht als generelle betrachtet. So erreichen wir, dass sich der Staat dieser Probleme annimmt und dass es politische Antworten darauf gibt.“

Die Verfassung zielt grundsätzlich darauf ab, dass diejenigen, die von politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen waren und sind, nun an jenen Orten teilhaben können, wo Gesetze geschrieben, Politikprogramme entschieden und Budgets entworfen werden. Dort, wo Macht verhandelt wird. Das Paritätsprinzip trägt einer historischen, fast 100 Jahre alten Forderung der feministischen Bewegung Rechnung und will das demokratische Defizit von einer systematischen Unterrepräsentation von Frauen in politischen Entscheidungsprozessen entgegenwirken.

Politisierung des Alltags 

Auch die Lebensbedingungen und der Alltag von Frauen und Queers stehen im Zentrum des Verfassungsentwurfs. Vieles, was heute als private Angelegenheiten, als Teil der häuslichen, feminisierten Sphäre abgetan wird, wird in der Verfassung als Politikum aufgegriffen und in den Artikeln behandelt. So garantiert die Verfassung Frauen, Kindern, Jugendlichen, trans und nicht-binären Personen das Recht auf ein Leben frei von geschlechtsspezifischer Gewalt. Der Staat ist verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um geschlechtsspezifische Gewalt durch Prävention und Strafverfolgung zu verhindern. Dazu gehört auch, patriarchale gesellschaftliche Muster abzubauen, Gewaltbetroffene zu unterstützen und zu entschädigen. Im Artikel zum Recht auf Wohnraum ist zudem die Bereitstellung von Notunterkünften für Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt vorgesehen. Die Anerkennung unterschiedlicher Familienmodelle, ohne sie auf biologische Verbindungen zu beschränken ist ebenso in der Verfassung festgeschrieben, wie das Recht auf die freie Entscheidung zur geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung.

Jede Person hat das Recht auf eine umfassende Sexualerziehung, die nicht-sexistisch ist, in der diverse sexuelle und geschlechtliche Identitäten Platz finden, Selbstbestimmung und Konsens gelehrt werden und so sexualisierter Gewalt vorgebeugt wird. Bahnbrechend aus feministischer Sicht ist die Anerkennung von unbezahlter Haus- und Sorgearbeit und ihrer gesellschaftlichen Notwendigkeit: Als „sozial notwendige und unerlässliche Arbeit zur Aufrechterhaltung des Lebens und der Entwicklung der Gesellschaft“ erweitert der Verfassungsentwurf erstmalig den Begriff von Arbeit und bezieht damit die Arbeit von Menschen ein, die historisch von kollektiven (Arbeiter*innen-)Rechten und der politischen Repräsentation der traditionellen Arbeiter*innenklasse ausgeschlossen waren. Haus- und Sorgearbeit werden in der Verfassung als für die Volkswirtschaft relevante wirtschaftliche Tätigkeiten anerkannt, die als solche in Politikprogrammen berücksichtigt werden müssen.

Die verfassungsmäßige Anerkennung der Carearbeit, geteilter Verantwortung zwischen den Geschlechtern und der Mitverantwortung des Staates sind erste Schritte hin zu einer dringend notwendigen Vergesellschaftung der ungleich verteilten Sorgelast – immer noch eines der Fundamente geschlechtlicher Ungleichheit. In diesem Zusammenhang steht auch das Recht auf Sorge (Betreuung und Pflege), welches das Recht für andere zu sorgen und versorgt zu werden mit einschließt: Der Staat muss eine würdevolle Sorgearbeit durch die Einrichtung eines integralen öffentlichen Sorgesystems mit intersektionalem Ansatz ermöglichen. Dies eröffnet neue Wege, die Pflegekrise gesellschaftlich anzugehen und der geschlechtlichen Arbeitsteilung entgegenzuwirken – eine Forderung, die auch in der internationalen Debatte große Beachtung erfährt, aber kaum umgesetzt wird.

Und auch in den Artikeln zu Bildung, Gesundheit, Arbeitsrechten, sozialer Sicherheit, Wohnraum, Umwelt, Zugang zu Wasser und natürlichen Ressourcen werden historische Forderungen aufgenommen. Hier sind feministische und intersektionale Perspektiven eingeflossen, die zu einem Paradigmenwechsel geführt haben, der verschiedene Machtstrukturen – zum Beispiel den Zentralismus – und auch andere Arten der Unterdrückung – wie beispielsweise die von Menschen gegenüber der Natur – mit in den Blick genommen hat. Feministische Perspektiven wurden in dem Verfassungsgebenden Prozess also zu einer generellen Perspektive, um die Gesellschaft zu betrachten: „Die Erkenntnis, dass wir in einer patriarchalen Gesellschaft leben, ist grundlegend und zieht sich durch den gesamten Verfassungstext. Und er zielt darauf, diese Gesellschaft zu überwinden und dem Staat, sowie den Communities und den Menschen, die in diesem Land leben, die Werkzeuge an die Hand zu geben, um diese strukturelle Ungleichheit und Gewalt zu überwinden“, erklärt Alondra Carillo.

Weg und Vision 

Die neue Verfassung ist ein Instrument, um die Leben von Frauen, Kindern, Queers und derjenigen zu verändern, die sich der patriarchalen Norm widersetzen. Sie ist eine mögliche Antwort auf viele langjährige feministische Forderungen für ein besseres Leben für alle: „Esa vida que nos deben“ – das Leben, das sie uns schuldig sind. Insgesamt geben die Artikel eine Vision davon, wie eine nicht-sexistische, weniger patriarchale Welt aussehen kann. Mit der Annahme der neuen Verfassung ist diese Vision noch lange nicht erreicht. Sie kann aber die Grundlage dafür sein, weiter kollektiv – wie im Verfassungsprozess selbst – und kontinuierlich daran zu arbeiten, diesen strukturellen Transformationsprozess zu verfestigen und ihn in Gesetzen, Justiz, Politik und Gesellschaft konkret umzusetzen. Nicht nur im Text der Verfassung, sondern im Prozess selbst, in dem verschiedene gesellschaftliche Kräfte nicht vereinzelt, sondern gemeinsam für ein lebenswertes Leben gekämpft haben, liegt das große Potential. Er ist weit über Chile hinaus bedeutend für die Weltöffentlichkeit, da er alternative Wege aus den globalen Krisen aufzeigt, die die ganze Welt betreffen und inspirieren können.


Dieser Artikel erschien zuerst bei medico international