Wir müssen jetzt, einige Monate nach der Bundestagswahl, endlich über die interne Kommunikation der Partei Die Linke reden. Es gibt immer noch viel Grund zur Freude, was den Wahlkampf und damit die externe Kommunikation anbelangt. Aber es gibt seit Jahren eine besorgniserregende Entwicklung, die oft genug auch die Außenwirkung der Linken schädigte: Das Ausmaß der inneren Kämpfe war im Verhältnis zu dem, was nach außen erreicht wurde, viel zu oft viel zu groß. Diese interne Krise der Linken ist nicht überwunden, auch wenn sich die Debattenkultur in der Linken seit Jahresbeginn spürbar verändert hat – nicht zuletzt durch die Zehntausenden, die neu in die Partei eingetreten sind. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um sicherzustellen, dass wir in Zukunft die Fehler der Vergangenheit vermeiden können. Deshalb müssen wir endlich darüber reden, warum wir oft so schlecht miteinander geredet haben.
Meine Perspektive ist die besorgte Außensicht eines langjährigen Freundes. Seit 2009 arbeite ich als Trainer, Coach und Prozessbegleiter auf kommunaler, Landes- und Bundesebene für linke Stiftungen, Vereine und in Parteizusammenhängen. Meine Seminare und Bücher drehen sich oft – genauso wie diese Zeilen – um die Kommunikation. Hier ist nicht der Ort für eine detaillierte Analyse. Stattdessen will ich hypothetisch diagnostizieren, warum Die Linke immer wieder innere Streitereien eskalieren lässt, warum viele Debatten von konfliktträchtigen Stimmungen, verzögerten oder ganz vermiedenen Entscheidungen sowie aggressiven Diskussionen bestimmt sind und warum Die Linke in vielen Krisensituationen auseinanderdriftet, statt – wie im zurückliegenden Bundestagswahlkampf – solidarisch zusammenzuhalten.
Es ist klar, dass es in allen Parteien und allen politischen Bewegungen inhaltliche Streitpunkte gibt, weil sich überall Flügelkämpfe und Machtrangeleien auch in inhaltlichen Diskussionen niederschlagen. Allerdings sind in meiner Wahrnehmung die Streitereien im linken Lager besonders ausgeprägt und schwerwiegend und treten zudem besonders explizit in der Öffentlichkeit auf. Letzteres kann man zum Teil mit der Disziplin anderer Parteien erklären. Aber meine Vermutung ist, dass sich Die Linke und ihre Mitglieder nicht nur darin unterscheiden, wie sehr etwas nach außen gelangt, sondern dass die Konflikte selbst intensiver sind.
1. Kritik als Kern linker Identität
Es gibt eine historisch gewachsene Rolle der gesellschaftlichen Linken als Kritikerin der Machtverhältnisse und eine dadurch stark ausgeprägte Kritik-Fokussierung in der linken Kommunikation. Diese Haltung hat historische Wurzeln im Marxismus, hängt aber auch mit der Rolle der Partei Die Linke als Oppositionspartei zusammen. Wer nicht mitgestalten kann, bleibt in der Position, kritisch von außen zu hinterfragen, ob das, was gestaltet wird, tatsächlich im Sinne der Menschen ist.
Wenn Kritik im Mittelpunkt des politischen Denkens steht, besteht die Gefahr, dass ein kritischer Modus zu einem kognitiven Automatismus wird. Menschen kann es passieren, dass sie ihre Aufmerksamkeit unbewusst und dauerhaft auf die negativen und kritikwürdigen Aspekte jeder Situation lenken, mit der sie konfrontiert werden. Das ist vor allem dann wahrscheinlich, wenn diese Art des Denkens und Kommunizierens innerhalb der Kreise, in denen man sich viel aufhält, als Wert angesehen wird.
2. Polemik als rhetorisches Ideal
Darüber hinaus ist bei Linken eine stark polemische Art der Kommunikation festzustellen, die die mediale Wahrnehmung prägt. Möglicherweise hat sich dieser Stil aus der Kritik-Fokussiertheit und durch bestimmte Sprecher*innen verfestigt, vielleicht hat er sich auch etabliert, weil andere Kommunikationsstile medial weniger erfolgreich waren oder als weniger erfolgreich wahrgenommen wurden.
Die Folge ist eine Fixierung auf Polemik als rhetorisches Ideal. Eine gute Rednerin ist eine, die mit beißendem Spott ihre Gegner*innen auseinandernehmen kann. Diese schleichende Professionalisierung der Polemik hat zu einer gefährlichen Scharfzüngigkeit geführt. Pointiert bösartige Sprüche erhalten mehr Aufmerksamkeit als wohlmeinend und konstruktiv vorgetragene Vorschläge. Die Partei-Rhetorik folgt häufig diesem Ideal, was zu der naiven Gleichsetzung führt, dass ein guter Redebeitrag immer ein polemischer Beitrag sein müsse.
Wer glaubt, dass politische Auseinandersetzung in erster Linie eine polemische ist, wird diesen Stil auch in internen Debatten übernehmen. Das hat schwerwiegende Nachteile. Wichtige Kommunikationsbedürfnisse – nach Wertschätzung, Anerkennung, Respekt, Augenhöhe und einem ebenbürtigen Austausch – bleiben chronisch unbefriedigt. Polemik untergräbt diese Bedürfnisse und frustriert sie, was zu Aggressionen führen kann. Eine wütende Kommunikation, selbst wenn sie hinter weiterer Polemik oder Sarkasmus versteckt ist, zerstört das Bedürfnis nach Einigung, nach Kompromissen und nach gemeinsam ausgearbeiteten Positionen.
Ein Nebeneffekt ist die Selbsterhöhung durch das Herabsetzen anderer. Diese Dynamik kann zu einem kollektiven Narzissmus führen, bei dem die ständige Polemik den eigenen Narzissmus nährt. Aber wer andere ständig herabsetzt, verliert möglicherweise die Fähigkeit, diesen destruktiven Mechanismus bei sich selbst zu erkennen und ihm entgegenzuwirken.
3. Vielfalt versus Harmonie
Ein anti-autoritäres Kommunikationsverständnis, verbunden mit flachen Hierarchien in der Entscheidungsfindung, stellt ein zentrales Element linker Bewegungen dar. Es gibt eine gesunde Skepsis gegenüber Führungspersönlichkeiten, es gibt das Bedürfnis nach Diversität und dem Ernstnehmen und Hörbarmachen unterschiedlicher Meinungen. Zugleich und nicht weniger stark wollen wir Harmonie und Einigkeit.
Beide Intuitionen sind wichtig und verständlich, doch ihre Kombination kann dazu führen, dass Diskussionen ergebnislos bleiben. Der heimliche Wunsch nach Einigkeit in jeder Entscheidung negiert nicht nur die erwünschte Diversität von Überzeugungen. Er bringt vielmehr einen impliziten Widerspruch mit sich, der linke Entscheidungen zu fragilen Gewächsen macht.
Das Ergebnis ist deshalb oft, dass Entscheidungen trotz langer Diskussionen nicht getroffen werden oder nicht akzeptiert werden, weil sie aufgrund von Hierarchiepositionen getroffen wurden, oder aber, dass sie ohne offene Diskussion im Nachhinein entstehen, was zur Frustration der Diskussionsbeteiligten führt.
4. Existenzangst und Erschöpfung
Ein weiteres Element ist gesellschaftlich bedingt, aber betraf in den letzten Jahren vor allem die Partei Die Linke. Aufgrund eines generellen Rechtsrucks in der Gesellschaft und zusätzlich dysfunktionaler Kommunikation blieben lange Zeit Erfolge aus. Das ist politisch ein Problem, aber es hat auch auf der persönlichen Ebene weitreichende Folgen für die, deren eigene Erwerbstätigkeit an den Erfolgen der Linken hängt, ob sie in der Partei selbst arbeiten oder in Stiftungen, Vereinen, Verlagen, Redaktionen oder für Dienstleister und Zulieferer tätig sind, die auf Mittel oder Aufträge von der Partei angewiesen sind. Das schürt Existenzängste bei nicht wenigen Menschen im linken Umfeld.
Diese Ängste sind nicht immer offen sichtbar, können sich aber zweifach auf das Verhalten und die Kommunikation auswirken: Zum einen bleiben wichtige Bedürfnisse nach Sicherheit und nach einer planbaren persönlichen Zukunft unerfüllt. Das trägt dazu bei, dass wir eine kürzere Lunte haben, permanent unter Druck stehen und potenziell aggressiv und ungeduldig reagieren. Diese Aggression zeigt sich nicht nur in politischen Diskussionen mit Andersdenkenden, sondern auch innerhalb der eigenen Reihen. Kleinigkeiten werden aufgebauscht, Konflikte eskalieren schneller, die Fähigkeit, in hitzigen Situationen Ruhe zu bewahren, geht verloren.
Zum anderen wird in solchen Krisenzeiten unser kämpferischer Geist wachgerüttelt und das Gefühl entsteht, dass noch mehr getan werden muss, um Die Linke zu retten. Dieser Aktivismus ist oft von einer Mischung aus Frust und Verzweiflung getrieben. Wenn er erfolgreich ist, so wie bei der letzten Bundestagswahl, ist das großartig. Aber bleiben die Erfolge aus, führt er zu noch größerer Erschöpfung. Menschen, die eigentlich kämpfen wollen, fühlen sich dann ausgelaugt und handlungsunfähig. Parallel dazu wächst der Druck, Ergebnisse zu erzielen, was den inneren Konflikt zwischen Erschöpfung und linkem Pflichtbewusstsein weiter verstärkt.
Die Auseinandersetzung mit anderen und vor allem mit Andersdenkenden erfordert viel Energie. Wenn diese Energie nicht da ist, werden diese Auseinandersetzungen nicht geführt, auch nicht innerhalb der Linken, oder sie werden ungeduldig und aggressiv geführt. Allzu häufig äußert sich die fehlende Energie dann darin, dass in solchen Diskussionen ein Reigen aus Schuldzuweisungen und Rechtfertigungen jegliche Lösungsorientierung verdrängt. Das Ergebnis ist eine Spirale aus Frustration und Konflikten, die nicht nur die linke Bewegung nach außen schwächt, sondern auch das Vertrauen innerhalb der Gruppen zersetzt.
5. Angst vor Selbstzufriedenheit
Ein weiterer Faktor speist sich aus mehreren der hier bereits ausgeführten Gedanken. Die Fokussierung auf Kritik und damit auf negative Aspekte einer Situation, das Misstrauen gegenüber Autorität und Hierarchien und die genannten Misserfolge lassen die Arbeit, die es zu tun gibt, und die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns überproportional groß erscheinen. Was bleibt, ist das Gefühl, dass jede Aufgabe, die vor uns liegt, ein übermächtiges Hindernis ist, das kaum überwunden werden kann, und dass die bisherigen Leistungen nichts im Vergleich zu den anstehenden Aufgaben sind.
Wir sind es nicht gewohnt, uns auf die eigene Schulter zu klopfen, auch die kleinen Erfolge zu feiern (statt nur viel zu trinken) oder hin und wieder einen Hauch von Selbstzufriedenheit zu verspüren. 8,8 Prozent bei der Bundestagswahl ist ein offensichtlicher Grund, ausgelassen zu feiern – und glücklicherweise war das kein Problem. Aber die letzten Jahre waren eher von der Angst geprägt, dass aus der Selbstzufriedenheit und dem wohligen Gefühl eines kleinen Erfolgs eine Anpassung an das Establishment entstehen könnte. Etwas übertrieben gesagt, könnte ja schon ein kurzes zufriedenes Innehalten die Entschlossenheit schwächen, die für den weiteren Kampf notwendig ist.
Diese Haltung verstärkt die Wahrnehmung, dass es schlecht läuft, dass wir mehr kämpfen müssen, dass wir alles geben müssen. Das verstärkt den inneren Druck, der ohnehin schon hoch ist. Was dabei oft übersehen wird, ist, dass das Fehlen von Anerkennung und Momenten der Zufriedenheit nicht nur das eigene Durchhaltevermögen schwächt, sondern auch die Verbindung zur Gemeinschaft belastet. Wenn niemand jenseits der großen Sensationen Erfolge benennt und würdigt, entsteht der Eindruck, dass die meisten Anstrengungen, die unternommen werden, vergeblich sind.
Gleichzeitig führt diese Dynamik dazu, dass die Kräfte stark nach außen gerichtet werden. Eben weil Zufriedenheit gefährlich ist, scheint es notwendig, jegliche Energie in die sichtbaren politischen Kämpfe zu stecken, statt sich mit dem eigenen Befinden auseinanderzusetzen. In Verbindung mit der schlechten inneren Kommunikation bedeutet das allerdings, dass schwelende Konflikte nicht ausreichend analysiert, besprochen und beseitigt werden. Diese Konflikte kosten Kraft und ziehen die Energie aus den eigentlich gut gemeinten und wichtigen Aktionen.
Treten wir kurz zurück. Die fünf beschriebenen Denk- und Verhaltensweisen sind typisch für Linke bzw. die Partei Die Linke. Auch wenn sie hier zugespitzt dargestellt sind und selbstredend nicht alle Linken so ticken, lassen sich aus meiner Sicht so die Tendenzen beschreiben, die viele Jahre lang wesentlich zum Auseinanderdriften der Partei Die Linke beigetragen haben. Die fünf Faktoren, die im Folgenden genannt werden, gelten auch für andere politische Gruppen, wirken sich aber im Zusammenspiel mit den bereits genannten Faktoren besonders stark auf Linke aus.
6. Ungeduld in Zeiten digitalen Überflusses
Die Art und Weise, wie Bedürfnisse im digitalen Raum befriedigt werden, hat zunächst überhaupt nichts mit Politik zu tun: Ich bin, wie viele andere, davon überzeugt, dass die Entwicklungen in der digitalen Welt einen Einfluss auf die aggressive Kommunikation unserer Zeit haben. Auf den ersten Blick mag dieser Gedanke wie ein Kulturpessimismus wirken, der hier irrelevant zu sein scheint. Ist er aber nicht.
Die Digitalisierung, die digitale Vernetzung und die globale Verfügbarkeit von Inhalten und Diensten haben das Leben in vielerlei Hinsicht revolutioniert. Diese Entwicklung, zusammen mit dem Siegeszug der sozialen Medien, der Smartphones und der unzähligen Apps, die uns ständig begleiten, hat dazu geführt, dass Bedürfnisbefriedigung heute schneller möglich ist als je zuvor. Wenn wir Lust auf eine bestimmte Musik oder einen bestimmten Film haben, können wir innerhalb weniger Klicks darauf zugreifen. Wollen wir etwas kaufen, erledigen wir dies bequem von der Couch aus, in Großstädten sogar mit Lieferung am selben Tag. Unser Smartphone bietet uns rund um die Uhr Zugang zu Computerspielen, Kurzvideos, sozialen Netzwerken, Nachrichten, Amateurlexika, Enthüllungen, spiritueller Begleitung und Schach. Egal ob Lifehacks, Pornos, Dadjokes, Fail-, Unbox- oder Reactionvideos – alles ist höchstens drei oder vier Daumenbewegungen entfernt. Diese ständige Verfügbarkeit hat die Geschwindigkeit, mit der wir unsere Bedürfnisse befriedigen können, auf ein absurdes Maß beschleunigt. Das hat Vorläufer in der Erfindung des Telegramms, des Telefons, der Flugzeuge, der Fernbedienung, des Speed Datings oder des Fast Foods. Doch in der heutigen digitalen Welt hat diese Entwicklung eine völlig neue Dimension erreicht.
Die Gewöhnung an schnelle Bedürfnisbefriedigung hat weitreichende Folgen für unser Verhalten. Wir haben immer weniger Geduld, um auf Belohnung zu warten. Und das bedeutet nichts Anderes, als dass wir uns die Fähigkeit zur Geduld regelrecht abtrainieren. Wir wollen schnelle Ergebnisse, wir wollen schnell zum Punkt kommen, wir wollen uns so schnell wie möglich den angenehmen Dingen zuwenden und uns nicht mit dem beschäftigen, was gerade vor uns liegt. Warten, Langeweile und Geduld werden zum Ausnahmezustand, den wir zunehmend als Fehler wahrnehmen.
Was zunächst wie ein trivialer Punkt erscheint, hat tiefgreifende Auswirkungen auf unsere Kommunikationskultur, denn diese Ungeduld überträgt sich direkt auf Diskussionen. Wir haben weniger Geduld, darauf zu warten, selbst etwas sagen zu dürfen. Wir haben weniger Geduld, uns anzuhören, was andere zu sagen haben. Und wir haben noch weniger Geduld, wirklich zu verstehen, was andere wollen oder meinen – vor allem, wenn sie anderer Meinung sind. Darüber hinaus antizipieren wir die Ungeduld der anderen und verkneifen uns die Genauigkeit, mit der wir früher argumentiert haben.
Die Beschreibung dieser Dynamik mag überzeichnet erscheinen, doch sie ist als Tendenz deutlich erkennbar und hat einen substanziellen Einfluss auf unser Diskussionsverhalten. Gespräche werden kürzer, härter und weniger produktiv. Der Raum für Empathie, für differenzierte Meinungen und für das gemeinsame Verstehen schrumpft. Hinzu kommt die Informationsüberflutung, die ein weiteres Produkt der Digitalisierung ist. Die schiere Menge an Nachrichten, Meinungen und Inhalten, die uns täglich erreicht, erhöht den Druck, schnell zu reagieren. Wir nehmen uns immer weniger Zeit, um Informationen einzuordnen, geschweige denn, um sie gründlich zu hinterfragen.
Wenn wir uns in Diskussionen nicht mehr die Zeit nehmen, um uns wirklich zuzuhören und zu verstehen, droht uns das Ende jeder produktiven Auseinandersetzung.
7. Krise, Druck und Verunsicherung
Den Druck, der von den gesellschaftlichen Krisen der letzten Jahre – sagen wir der letzten zehn Jahre und vielleicht auch schon länger – ausgeht, kann man als eine große Verunsicherung beschreiben. Die geflüchteten Menschen, die im Jahre 2015 verstärkt in Deutschland Schutz suchten, verunsicherten einen Teil der Bevölkerung, was wiederum die Linke als bedrohlich wahrnehmen konnte, da diese Verunsicherung von rechts instrumentalisiert wurde. Die Corona-Krise war eine existenzielle Bedrohung in mehrfacher Hinsicht: gesundheitlich, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Und auch die neuen Kriege sowie die wirtschaftliche Belastung, die vor allem für ärmere Menschen spürbar ist, erhöhen den Druck.
All das sind existenzielle Bedrohungen oder sie werden zumindest als solche wahrgenommen. Damit schüren sie Ängste und untergraben unser starkes Grundbedürfnis nach Sicherheit – nach körperlicher Unversehrtheit, nach finanzieller Stabilität, nach Verlässlichkeit in unserem Alltag. Jedes einzelne dieser Elemente trägt zu dieser Verunsicherung bei.
In solchen bedrohlichen Situationen neigen Menschen dazu, emotionaler und zumindest in einer ersten Adaptionsphase ichbezogener zu handeln. Die berühmten Kampf- oder Fluchtinstinkte werden wachgerüttelt. Geduldiges Zuhören sowie entspannte und verständnisvolle Auseinandersetzungen kommen dabei grundsätzlich zu kurz. Das ist spätestens seit der Pandemiezeit in allen Gesellschaftsschichten deutlich wahrnehmbar. Freundeskreise, Familien oder einstige Mitstreiter*innen werden durch Konflikte gespalten. Menschen reden nicht mehr oder nicht mehr konstruktiv miteinander, und das hat weitreichende Folgen für das soziale Gefüge.
Es ist völlig klar, dass diese Entwicklungen psychologischen Mechanismen entspringen, die nichts mit einer politischen Ausrichtung zu tun haben. Aber genau deshalb ist auch klar, dass sie uns Linke genauso treffen wie andere. Wir können diese Faktoren nicht einfach in der Kommunikation ausschalten, selbst, wenn wir sie bemerken. Sie sind tief in unserer emotionalen Reaktion auf Krisen verankert und wirken sich daher unweigerlich auch auf den Umgang innerhalb der Linken und die Kommunikation nach außen aus. Dadurch und durch den oben genannten Umstand, dass sich gerade Die Linke in einer prekären Lage befindet, nehmen Verunsicherung und existenzielle Ängste noch weiter zu.
8. Polarisierung der öffentlichen Debatte
Mit den gesellschaftlichen Krisen ist auch eine Polarisierung in vielen öffentlichen Debatten verbunden. Der Ton wird rauer, die Bereitschaft, einst selbstverständliche Umgangsformen einzuhalten, nimmt deutlich ab. Wurde vor gewisser Zeit in öffentlichen politischen Debatten noch weitgehend auf persönliche Angriffe verzichtet, sind explizite und direkte Beleidigungen in den letzten Jahren immer häufiger geworden. Von Höflichkeit und Respekt kann in vielen Diskussionen keine Rede mehr sein. Dies betrifft nicht nur die sozialen Medien, wo die Hemmschwelle im Allgemeinen niedriger ist, sondern auch politische Diskussionen in traditionellen Medien und sogar persönliche Gespräche.
Die schon genannten Faktoren befeuern sicherlich diese Polarisierung – Ungeduld, Existenzängste und der Hang zur Polemik können ohne Weiteres den zunehmend destruktiven Ton und die größere Härte in den Auseinandersetzungen erklären. Auch die oben angesprochenen Mechanismen der öffentlichen Aufmerksamkeit passen ins Bild: Je schärfer der Ton, je zugespitzter die Aussagen, desto mehr Aufmerksamkeit erhalten sie. Genauere Überlegungen, die über ein Pro und Kontra oder gar These und Antithese hinausgehen, passen leider nicht in 10 oder 20 Sekunden. Wer in dieser kurzen Zeit nicht schwarz oder weiß sagt, wird verdächtigt, um den heißen Brei herumzureden, keine Ahnung zu haben oder sich hinter politischen Floskeln zu verstecken.
Diese »Verpixelung« wird durch den medialen Erfolg des Extremen weiter verstärkt. So entsteht leicht der Eindruck, dass es nur noch zwei Lager gibt: für oder gegen etwas. Das erhöht den Druck auf Einzelpersonen und Gruppen, sich klar zu positionieren. Nuancen und Zwischentöne stehen in Gefahr, nicht nur ignoriert, sondern als Schwäche oder Unsicherheit ausgelegt zu werden.
Die allgemeine Polarisierung beeinflusst auch das Verhalten innerhalb der linken Bewegungen und der Partei Die Linke, weil Härte und Zuspitzung der öffentlichen Debatten unbewusst auch die interne Kommunikation prägen. Selbst in Gruppen, die auf Solidarität und Konsens bedacht sind, geraten Meinungsverschiedenheiten schnell zu ernsthaften Konflikten. Auch linke Diskussion sind deshalb tendenziell von Unnachgiebigkeit, fehlender Differenziertheit und drohender Spaltung geprägt.
9. Krisenthemen als Spaltfaktor
Der nächste Faktor hat mit den Inhalten der Krisen zu tun. Es geht also nicht nur darum, dass Krisen den Druck steigern, bestimmte Krisen – wie die Corona-Krise oder Kriege – thematisch besonders dazu geeignet sind, Linke zu entzweien, wenn sie neue Widersprüche hervorbringen, auf die manch alte Antwort nicht mehr passt, und Gewissheiten verloren gehen.
Die Entwicklung im Frühjahr 2020 konnte aus linker Perspektive verblüffen. Es war zunächst eine offene Frage, wie man aus linker Sicht auf die Pandemie reagieren sollte. Angesichts der dürftigen Faktenlage in den ersten Wochen und Monaten konnte niemand sicher einschätzen, ob die größere Gefahr vom Virus oder von den Möglichkeiten eines Polizeistaates ausging. Diese Ungewissheit führte dazu, dass innerhalb der Linken unterschiedliche Schlüsse gezogen wurden. Für einige war die Solidarität mit vulnerablen Gruppen das oberste Gebot, was die Unterstützung der Maßnahmen rechtfertigte. Für andere überwogen die Bedenken hinsichtlich der Einschränkung bürgerlicher Freiheiten.
Auch wenn sich politisch schnell eine klare Linie etablierte, gab es im Frühjahr 2020 die verunsichernde Erfahrung, dass langjährige Mitstreiter*innen plötzlich auf eine existenziell wichtige Frage ganz andere Antworten fanden. Diese Diskrepanz war besonders schmerzhaft, weil sie nicht nur die politische Zusammenarbeit, sondern auch persönliche Beziehungen belastete. Ähnlich verhält es sich mit den beiden Kriegen, die uns aktuell besonders beschäftigen: dem Angriff auf die Ukraine und dem Krieg im Gaza-Streifen.
Natürlich gab es in der Geschichte der Linken immer wieder Themen, zu denen man unterschiedlicher Meinung war. Das liegt in der Natur einer Bewegung, die Vielfalt und Diversität schätzt. Doch zusammen mit der Polarisierung, der Angst und der Aggression, die durch die aktuellen Krisen geschürt werden, sind die Diskussionen über Corona und die Kriege von Anfang an sehr viel schärfer geführt worden. Das Ergebnis ist, dass Krisenthemen nicht nur die Gesellschaft polarisieren, sondern auch innerhalb der Linken tiefe Gräben aufreißen.
10. Überzogene moralische Kritik
Das letzte Element auf meiner Liste ist die allgegenwärtige moralische Empörung, die heute viele Debatten eskalieren lässt. Moralische Kritik und entsprechende moralische Argumente können angemessen sein. Wenn jemand die Position vertritt, dass ein ungezügelter Kapitalismus die Welt besser macht, halten wir seine moralischen Überzeugungen für falsch. Verdient jemand mit seinen Handlungen Milliarden, weil er andere ausbeutet, oder befiehlt ein Machtinhaber einen Angriffskrieg, halten wir seine Handlungen für moralisch falsch. Eine entsprechende Kritik ist angemessen.
Unangemessene moralische Kritik ist im Spiel, wenn entweder moralische Probleme dort gesehen werden, wo es eigentlich nur um praktische Fragen geht (das ist als Moralisieren verschrien), oder wenn kein Unterschied zwischen kleinen und großen moralischen Verfehlungen gemacht wird. Wenn beispielsweise bei der Planung eines barrierefreien WC der Bauzeichnerin ein Fehler unterläuft, der die Benutzung mit einem Rollstuhl erschwert, ist es denkbar, dass das nicht auf ein diskriminierendes Denken zurückzuführen ist – und damit wäre auch eine scharfe moralische Kritik an der Bauzeichnerin unangemessen. Das bewusste Moralisieren ist ein machtvolles rhetorisches Mittel, weil moralische Kritik schwer relativierbar ist und das Selbstbild viel stärker trifft als Kritik an organisatorischen oder alltäglichen Fehlern. Moralische Kritik wird als Angriff auf die eigene Integrität wahrgenommen. Darin ist sie effektiv und destruktiv.
Aber es gibt auch eine moralische Empörung, die nicht als rhetorische Waffe, sondern als authentisch empfundenes Gefühl sehr schnell, sehr oft und schon mit sehr schwachen Auslösern ins Spiel kommt. Sie kann, wie die entsprechende Kritik auch, angemessen sein. Aber wenn sie permanent empfunden und zum Ausdruck gebracht wird, ist sie in ihrer Wirkung ähnlich wie das aus niederträchtigen Motiven eingesetzte Moralisieren: Sie ist ein Brandbeschleuniger, der aus kleinen Meinungsverschiedenheiten energiezehrende Kämpfe macht.
Moralische Empörung ist ein Ausdruck unserer Ängste und Sorgen. In einer Zeit, in der immer mehr Aspekte des Lebens als bedrohlich empfunden werden, erscheint es auch bedrohlich, wenn uns nahestehende Personen unsere moralischen Intuitionen nicht teilen. Diese Diskrepanz trifft uns emotional besonders hart, weil wir unbewusst davon ausgehen, dass moralische Grundsätze, die für uns selbstverständlich sind, von unseren Mitstreiter*innen geteilt werden müssen.
Wenn wir in einem angst- und wutbestimmten Ausnahmezustand leben, fehlt uns die Energie und die Geduld, solche Differenzen rational zu diskutieren. Stattdessen greifen wir reflexartig auf moralische Vorwürfe zurück. Die Reaktionen darauf sind oft selbst eine Form der Empörung, sei es in Form moralischer Gegenargumente oder eines empörten Abwendens. Dadurch entsteht eine Spirale, in der die Kommunikation nicht mehr auf Verständnis oder Kompromiss abzielt, sondern auf Verteidigung und Angriff. Diese Dynamik schließt nahezu aus, produktiv und solidarisch zu diskutieren.
Resümee
Ich habe hier zehn Faktoren aufgelistet, die zusammen erklären könnten, warum es in linken Kreisen in den letzten Jahren schnell und häufig zum Auseinanderdriften kam. Sie handeln von Ängsten, Frustrationen, Wut und fehlender Geduld, von Empörung und von schlechten kognitiven und kommunikativen Gewohnheiten. Meine Ausführungen sind eher Karikaturen als technische Zeichnungen, und nicht alles wird allen gleichermaßen plausibel vorkommen. Aber selbst dann, wenn die Beobachtungen noch ungenau oder teilweise irreführend sein sollten, scheinen sie mir doch zumindest bedenkenswert zu sein. Wie immer bei Karikaturen steht der Verdacht im Raum, dass in ihnen mehr als ein Körnchen Wahrheit enthalten ist.