Die Machtübernahme der progressiven oder neuen linken Regierungen in Südamerika führte zu einem Politikwechsel: Man hat sich vom Reduktionismus des Marktmodells verabschiedet und verfolgt eine andere Entwicklungsstrategie. In einigen Teilbereichen wurden bedeutende Fortschritte erzielt, so z.B. auf dem Terrain der internationalen Politik und bei der Bekämpfung der Armut. In diesem Sinne hätte man auch in der Umweltpolitik Veränderungen erwartet, die der fortschreitenden Umweltzerstörung ein Ende setzten. Stattdessen wurde in fast allen Ländern ein extraktivistischer Weg eingeschlagen, mit vielschichtigen sozialen und ökologischen Folgen.

Grosse Ankündigungen

Die neue Linke Südamerikas ist eine heterogene Einheit von Regierungen, politischen Parteien und Koalitionen. Am bekanntesten sind die Regierungen von Néstor Kirchner und Cristina Fernández de Kirchner (Argentinien), Evo Morales (Bolivien), Luiz Inácio Lula da Silva (Brasilien), Rafael Correa (Ecuador), Fernando Lugo (Paraguay), Tabaré Vázquez und seines Nachfolgers José Mujica (Uruguay), Hugo Chávez (Venezuela) sowie die ehemalige Regierung von Michelle Bachelet (Chile). Ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede sind Ausgangspunkt vieler Analysen.1 Mit ihrer Machtübernahme kündigten sie umfassende, teilweise radikale Veränderungen an: In Ecuador verteidigt die Alianza País2 eine »Revolution der Bürger«, in Venezuela wird der »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« propagiert, und in Uruguay sprach Tabaré Vázquez bei seinem Amtsantritt im März 2005 davon, dass »die Bäume bis in die Wurzeln erzittern werden«. Allerdings bedeutet Transformation in jedem dieser Länder etwas sehr unterschiedliches, und so werden sich z.B. Uruguay mit seiner Überbürokratisierung und Bolivien mit seinen sozialen Brüchen niemals gleichen.

Einig ist man sich allerdings darin, dass mit der neoliberalen Politik der Privilegierung des Marktes gebrochen werden muss. Die Regierungen verstehen sich als Vertretung der einfachen Leute und in einigen Fällen sogar der am meisten Unterdrückten wie der indigenen Bewegungen oder der Kleinbauern. Die Welle der Privatisierungen wurde gestoppt und teilweise wurden Unternehmen wieder verstaatlicht. Das Problem der Armut wird nicht weiter verschleiert, sondern mit staatlichen Programmen bekämpft. Es wird zweifelsohne versucht, eine Art Sozialstaat zu befördern, d.h. ihn zu stärken oder dort, wo er bisher nicht existierte, aufzubauen. Trotz aller Verlautbarungen sind jedoch zahlreiche Kontinuitäten zu beobachten: Entwicklung wird als ökonomische Entwicklung verstanden, und das wichtigste sei es, Exporte, speziell die Ausfuhr von Primärrohstoffen, zu fördern sowie Investitionen anzulocken. Dieser Weg produziert tiefe ökologische und soziale Widersprüche, deren Wirkung bereits zu spüren ist.

Zerstörung der Natur

In allen Ländern mit progressiven Regierungen wurden der Bergbau, die Gas- und Erdölgewinnung und die ausgedehnten Monokultur-Anbauflächen, die für den Export produzieren, nicht angetastet. Oft wurden diese extraktivistischen Sektoren sogar noch gestärkt. Ihre volkswirtschaftliche Bedeutung ist immens: Der Anteil der fossilen Energieträger am Export beträgt in Venezuela über 90 Prozent, in Chile machen Mineralien 60 Prozent der Exporte aus. Die sozialen und umweltpolitischen Folgen dieser Wirtschaftszweige reichen von der Vertreibung ganzer Bevölkerungsgruppen über Gesundheitsschäden bis hin zu Entwaldung oder Wasserverschmutzung. Zugleich führen sie zu sozialen Protesten, Gerichtsverfahren, Straßenblockaden oder Streiks.

In einigen Fällen verhält sich der Staat betont zentralistisch und kontrolliert nicht, was in den entlegenen Ecken des Landes geschieht. In der Folge weitet sich die Ausbeutung der Ressourcen in den Berg- und Wüstenregionen nahezu unbeobachtet aus. Ein Beispiel sind die informellen Goldminen oder die Waldrodungen in den unzugänglichen Teilen des Amazonasgebietes. Die Bekämpfung von Umweltproblemen wird durch Korruption, eine unzureichende Überwachung, fehlende Sanktionsmöglichkeiten sowie die Schwäche der Gerichte behindert. In einigen Ländern gibt es zudem Kräfte, die versuchen, die Umweltgesetzgebung zu »flexibilisieren«, d.h. Mindestanforderungen zu reduzieren und die Kriterien großzügig auszulegen. Diese Tendenz war während der zweiten Amtszeit von Lula da Silva in Brasilien zu beobachten. Hier wurde sogar die Umweltschutzbehörde umstrukturiert, weil sie sich weigerte, Genehmigungen für Großprojekte wie den Staudammbau im Amazonas auszustellen. In Bolivien soll das Genehmigungsverfahren zur Erdölförderung in von bäuerlichen Gemeinschaften oder indigenen Völkern bewohnten Gebieten erleichtert werden; die Regierung Morales plant hierzu ein entsprechendes Gesetz über fossile Energieträger (Villegas 2010).

Alle progressiven Regierungen teilen die Vorstellung von einem ökologisch reichen Südamerika. Es wird unterstellt, dass die Ressourcen noch lange nicht zur Neige gehen, dass die lokalen Ökosysteme enorme Potenziale enthalten, die Folgen des Raubbaus abzufedern, und dass die ökologischen Probleme, vor denen die Industrieländer stehen, sich hier nicht wiederholen werden. In Venezuela wird gebetsmühlenartig wiederholt, dass man die größten Reserven an fossilen Energieträgern in ganz Lateinamerika besitze, und der Druck, sie zu fördern, ist so groß, dass Debatten über die ökologischen Folgen kein Gehör finden (García Gaudilla 2009). Im Falle Ecuadors wiederholt Präsident Rafael Correa stetig, dass, »wenn man nicht ein Bettler sein wolle, der auf einem Sack mit Gold sitzt«, es unverantwortlich sei, den natürlichen Reichtum nicht auszuschöpfen. Diese Metapher hat er schon mehrfach benutzt, etwa um das Gesetz über den Bergbau (El Universo vom 16.1.2009) oder die Förderpläne für das Ölfeld Ishpingo Tambococha Tiputini (ITT) im Yasuní-Nationalpark zu begründen, sollte es nicht gelingen, auf internationaler Ebene Kompensationszahlungen dafür zu erhalten, die Vorkommen für immer unter der Erde zu lassen (EFE vom 21.2.2009). Correa hat den Abbau von Bodenschätzen sowohl als Instrument zur Armutsbekämpfung (Radio Cooperativa de Chile vom 6.6.2009) als auch als entscheidenden Impulsgeber für die wirtschaftliche Entwicklung bezeichnet (Reuters vom 5.11.2009).

Es wird sich auf technische Lösungen berufen, mit deren Einsatz Schäden für die Umwelt reduziert oder vermieden werden sollen. Neue Technologien können viel ausmachen, sie verhindern aber nicht grundsätzlich die negativen Folgen für die Umwelt. Manche dieser Lösungen strotzen nur so von Fortschrittsoptimismus, so etwa die vom brasilianischen Präsidenten Lula da Silva und seinem Umweltminister Carlos Minc unterstützten »Staudamm-Plattformen«: Die riesigen Wasserkraftwerke im Amazonasgebiet werden mit Offshore-Plattformen zur Erdölgewinnung gleichgesetzt, als ob sie isoliert in einem »Ozean des tropischen Regenwaldes« errichtet würden. Die Folgen der Aufstauung der Flüsse, des Eingriffs in den natürlichen Wasserkreislauf und des Verschwindens von Tausenden Hektar tropischen Regenwalds in den Fluten der Stauseen werden einfach ausgeblendet. Die Nachlässigkeit gegenüber der Umwelt zeigt sich besonders in der Vorstellung, Umweltgüter und -dienstleistungen seien vermarktbar. Ökosysteme werden in Waren und Dienstleistungen verwandelt und auf den Märkten gehandelt, um Mittel zu erwirtschaften, die wiederum in den Umweltschutz re-investiert werden. Die Natur wird wie ein Korb voller Waren betrachtet, und Entscheidungen werden nach Rentabilitätskriterien getroffen, d.h. danach, ob mehr Gewinn durch Umweltdienstleistungen oder durch den Export von Erdöl und Mineralien erzielt werden kann. Die Managementinstrumente sind dabei nur wenig erfolgreich und können eine staatliche Umweltpolitik nicht ersetzen.

Neo-Extraktivismus

Während die »alte Linke« die Bergbauindustrie oder die Erdölunternehmen nicht nur wegen der Folgen für die Umwelt, sondern auch dafür kritisierte, dass sie als Schlüsselindustrien keine nennenswerten Staatseinnahmen einbrachten, hält die »neue Linke« am Extraktivismus fest (Gudynas 2009). Zwar mischt der Staat im Vergleich zu früher stärker mit: In einigen Fällen wurden Abgaben und Gebühren erhöht und der Abbau wird effektiver reguliert. Jedoch sind die ausländischen Unternehmen nach wie vor beteiligt, die Abhängigkeit von den globalen Märkten verschärft sich und der Staat zahlt weiterhin Subventionen. Eines der prägnantesten Beispiele hierfür sind die Hilfen der Regierung Morales zur Ausbeutung der Eisenerzvorkommen.

Während der Extraktivismus in der Vergangenheit mit Armut und ökonomischer Marginalisierung verbunden war, ist er jetzt zum Motor der Entwicklung und zu einer unverzichtbaren Finanzquelle für die Sozialprogramme geworden, wie das Beispiel der brasilianischen Agrarreform zeigt. Die Comissão Pastoral da Terra (CPT), die Brasilianische Landpastorale, kritisiert, dass die Regierung von Lula da Silva sich von einer grundsätzlichen Landreform verabschiedet hat und auf die »Regulation des Eigentums«, die Regulierung einer weiteren Expansion der Agrarunternehmen setzt (de Oliveira 2009). Letztlich geht es darum, die Landnutzung am Bedarf der exportorientierten Agrarindustrie zu orientieren.

In vielen Fällen kommt es fast zu einer Art Erpressung: Wer den Extraktivismus in Frage stellt, riskiere, dass die Sozialpläne eingestellt werden müssten und Entwicklungschancen verpasst würden. Den Kritikern des Extraktivismus wird unterstellt, sie befürworteten Armut. Die gegenwärtige Form der Ausbeutung der Natur wird als alternativlos dargestellt. Es könne lediglich versucht werden, die sozialen und ökologischen Auswirkungen abzumildern. Mitte 2009 äußerte sich der bolivianische Präsident Evo Morales zu den Protesten der bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften gegen die Erkundung von Erdölvorkommen nördlich von La Paz mit deutlichem Unmut: »Wovon wird Bolivien leben, wenn einige Nichtregierungsorganisationen sagen ›Keine Ölförderung im Amazonas‹?« […] Sie sagen damit in anderen Worten, dass es kein Geld für das bolivianische Volk geben wird, dass es kein IDH geben wird, dass es keine Staatseinnahmen geben wird. Sie sagen aber auch, dass es weder die Gutscheinprogramme Juancito Pinto und Juana Azurduy noch eine würdige Rente geben wird.«3

Solche Erklärungen werden von allen progressiven Regierungen abgegeben, die auf ein exportgetriebenes und auf ausländische Investitionen zielendes Wirtschaftswachstum setzen. Sicherlich spielt der Staat heute eine aktivere Rolle und die Regeln, nach denen die Gewinne verteilt werden, haben sich geändert. Aber davon abgesehen wird Entwicklung weiterhin als ökonomisches Wachstum und als Kapitalzufluss organisiert. Die Investitionen oder Exporte dürfen nicht in Frage gestellt werden. Zur Debatte steht lediglich die Verwendung der Staatseinnahmen. Offen bekannt hat sich hierzu der neue Präsident Uruguays, José »Pepe« Mujica. Seinem radikalen Image zum Trotz stellte er kürzlich fest, dass »wir Investitionen von außerhalb brauchen« und es darüber keine Auseinandersetzung geben dürfe, weil dieses Kapital dringend notwendig sei. »Später können wir darüber diskutieren, ob wir die Erlöse aus den Investitionen, die Steuern, die wir einnehmen, gut oder richtig einsetzen, das ja«, so Mujica (El Observador Montevideo vom 12.2.2010). Schleichend konsolidiert sich ein Entwicklungsmodell, mit dem die uruguayische Linke mit vielen Grundsätzen ihrer eigenen Geschichte bricht. Ganz allmählich wird nicht mehr darüber gestritten, was Entwicklung ausmacht. Strategische Diskussionen finden überhaupt kaum noch statt, und es wird erst recht nicht mehr darüber gesprochen, diesen sozialstaatlichen Kapitalismus zu überwinden. Das Ergebnis ist ein »gütiger Kapitalismus«: Die kapitalistischen Grundlagen werden akzeptiert, man gesteht allerdings zu, dass einige der negativen Auswirkungen wie Armut oder Ungleichheit durch Reformen und Anpassungsmaßnahmen abgeschwächt werden (Gudynas 2010). Selbst in der gegenwärtigen globalen Wirtschaftskrise plädieren die Vertreter dieser Strömung dafür, den Extraktivismus zu verschärfen und zu beschleunigen, um mit Hilfe der Exporte die Finanzprobleme des Staates zu kompensieren.

Teilweise gerät diese Position bereits ins Wanken. Am wenigsten ist dies in Uruguay und Venezuela der Fall. In Uruguay dominieren die Parteien die Politik, und es existiert für lateinamerikanische Verhältnisse ein ausgeprägter Wohlfahrtsstaat. Außerdem interessiert sich die uruguayische Linke nicht für das Ökologie-Thema und begreift es als Gegensatz zur Produktion.4 In Venezuela sind die Umweltorganisationen geschwächt. Bei politischen Umwälzungen in einem Land mit dieser ungebrochen hohen kulturellen Bedeutung des Erdölreichtums stehen ökologische Fragen weit hinten an. In Bolivien dagegen kommt es, ausgehend von Protesten aus den ländlichen Regionen, schrittweise zu einer Wiederbelebung der Umweltdebatte, auch wenn die politische Hegemonie der MAS (Bewegung für den Sozialismus) und ihrer Verbündeten sowie die Leichtigkeit, mit der viele der umweltpolitischen Argumente als anti-revolutionär tituliert werden, Hindernisse darstellen. In Argentinien wird gegen den Bergbau protestiert und es gibt Kritik am extensiven Anbau von SojaMonokulturen. In Brasilien wird über den Bau von Staudämmen im Amazonasgebiet, über die Abholzung und die Ausdehnung der Anbauflächen im Cerrado5 oder über die Minen im Nordosten diskutiert. In Chile und auch in Paraguay wird über die Forstwirtschaft und die Bergbauindustrie gestritten. In Paraguay ist diese Diskussion unmittelbar mit Forderungen verknüpft, die Armut zu reduzieren und die Menschenrechte einzuhalten. In Ecuador werden die wahrscheinlich weitest reichenden Debatten geführt, etwa über den Schutz der Biodiversität oder ein Erdölförder-Moratorium im Amazonasgebiet.

Ökonomie gegen Ökologie

Die progressiven Regierungen betrachten die Ökologie-Debatten als Teil eines unvermeidlichen Widerspruchs zwischen Ökonomie und Ökologie, als Entwicklungshemmnis und als Hindernis für ihre Sozialpolitik. Diese Entgegensetzung ist ein Rückfall hinter die Debatten der 1970er Jahre, wie etwa in Die Grenzen des Wachstums (Meadows et al. 1972) diskutiert. Ende der 1980er Jahre wurde versucht, diese Gegensätzlichkeit aufzulösen und die Bewahrung der Umwelt als Grundvoraussetzung für Entwicklung zu verstehen. Mit anderen Worten: Es gibt kein Wirtschaften ohne eine ökologische Ausgangsbasis. Diese Vorstellung war nicht unproblematisch: Einflussreiche Sektoren, die Entwicklung nur als ökonomisches Wachstum verstehen, präsentierten die Bewahrung der Natur als zwingend notwendig, um Wachstum zu sichern und fortzusetzen. Am besten wird dies anhand der Bezeichnung »Nachhaltige Entwicklung« deutlich, die von der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung in ihrem Bericht Unsere gemeinsame Zukunft (CMMAD 1987) geprägt wurde. Der Gegensatz Ökologie versus Ökonomie der 1970er Jahre wurde in Richtung einer ökologischen Wachstumsökonomie aufgelöst.

Die Diskussion über diese Fragen kam in den 1990er Jahren und Anfang des 21. Jahrhunderts in Lateinamerika nur zögerlich in Gang. Die Marktreformen drängten das Umweltthema an den Rand und begünstigten einen sehr reduzierten Entwicklungsbegriff. Für die Umweltproblematik wurden unternehmerische und marktgerechte Lösungen gefunden und die Natur wurde selbst immer mehr zur Ware. Der Konflikt zwischen Ökologie und Ökonomie schien durch die Unterwerfung der Ökologie unter die Ökonomie des Marktes verschwunden. Ökologische Probleme werden heute nicht mehr geleugnet oder ausgeblendet, sondern es wird nach einer Lösung gesucht, mit der zugleich Geld verdient wird. Diese Botschaft wird derzeit überall verbreitet, wie z.B. im Bericht »Grünes Wachstum« des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP), der an den Umweltschutz angepasste Marktmechanismen fordert und eine »Ökonomie der Ökosysteme« ausruft (UNEP 2010). Es gibt hieran zwar Kritik aus der Umweltbewegung. Die Kritik der Linken am Reduktionismus des Marktes reicht jedoch nur bis zu dem Punkt, an dem das Ökologie-Thema aufgegriffen werden müsste. Letztlich wurde die marktförmige Inwertsetzung der Natur akzeptiert. Der globale Kapitalismus wird kritisiert, aber man will weiter am Weltmarkt teilhaben, z.B. am Emissionshandel mit CO2-Zertifikaten. Es wird von Alternativen geredet, aber tatsächlich wird eine Ökonomie gestärkt, die auf der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen beruht.

Einige Warnungen älteren Datums, vor allem aus den 1970er Jahren, sind heute noch aktuell. So publizierte z.B. Hans Magnus Enzensberger 1973 einen Schlüsseltext zur Ökologiepolitik. Dabei stellte er u.a. den technologischen Optimismus der marxistischen Tradition in Frage und zögerte nicht, trotz aller Kritik am Kapitalismus, darauf hinzuweisen, dass in den staatssozialistischen Ländern sich das ökologische Debakel wiederhole (Enzensberger 1976, dt. 1973). Die Regime dieses real existierenden Sozialismus verschwiegen die ökologischen Probleme und unterdrückten umweltpolitische Forderungen der Bürger. Jedwede Form eines neuen südamerikanischen Sozialismus darf diese historische Wahrheit nicht ignorieren. Ein weiteres Argument von Enzensberger passt, wenn auch etwas modifiziert, ebenfalls auf die heutige Situation: Die Kritik der Linken und teilweise sogar der fortschrittlichen Regierungen an den transnationalen Konzernen, die sich unserer Ressourcen bemächtigen, oder der Werbeindustrie, die den Konsum befördert, führt nicht per se zu einer Verbesserung der Umweltbedingungen. Die Kritik stoppt weder die Entwaldung noch reduziert sie den Konsumismus. Viele der Debatten führen eher dazu, wie Enzensberger es beschreibt, »die subversive Macht und die Kritik des Marxismus zu kommerzialisieren«, um sie letztendlich in eine »Serie von stereotypen Phrasen, die, in ihrer Abstraktion, so unumstößlich wie unnütz sind«, umzuwandeln. Dieser Eindruck wiederholt sich heute: Einige Regierende und progressive Intellektuelle geben sozialistische Schönfärbereien und harte Kritik am herrschenden Kapitalismus von sich – in vielen Fällen durchaus gut begründet –, setzen aber weder eine konzeptionelle Erneuerung noch eine effektive Regierungsführung um. Die globale Ökonomie wird kritisiert, und doch arrangiert man sich mit ihr. Der Kapitalismus wird kritisiert, aber in der Praxis wird das extraktivistische Wirtschaftsmodell gestärkt. Eine erneuerte Linke darf nicht aufhören, Kritik zu üben, aber diese allein ist nicht ausreichend. Auch muss das Umweltthema neu aufgenommen werden, anstatt diejenigen, die sich dafür stark machen, auszugrenzen.

Der Protest und die durch Umweltorganisationen angestrengten Gerichtsverfahren legen die Beschränktheit der gegenwärtigen Politik der progressiven Regierungen offen: Das Ziel »Soziale Gerechtigkeit«, eine der klassischen Forderungen der Linken, wird nicht konsequent verfolgt. Die Kritik ist für diejenigen, die aktuell regieren, teilweise schmerzlich, und es ist gut möglich, dass hierin die heftigen Reaktionen Rafael Correas, Lula da Silvas und Evo Morales’ gegen Umweltaktivisten gründen. Es sind jedoch die sozialen und ökologischen Folgen des Extraktivismus, die die Kritik, den Protest oder die Desillusionierung gegenüber der regierenden Linken befördern. In intellektuellen Auseinandersetzungen, aber auch unter sozial Engagierten und im alltäglichen Miteinander hört man immer wieder: Wenn diese Regierungen Erneuerung ankündigen, wenn sie Gerechtigkeit und Solidarität ausrufen, warum zerstören sie dann weiter die Natur?

Ökologie und politische Erneuerung

Im 21. Jahrhundert kann keine linke Alternative, sozialistisch oder nicht, das Umweltthema außen vor lassen. Es gehört zu jedwedem neuen Denken dazu und ist nicht nur ein Teilaspekt einer allgemeinen Kritik am Kapitalismus. Eine andere Haltung ist notwendig, die Missachtung der Ökologie muss beendet werden. Die Umweltverschmutzung, die Entwaldung, der Müll in den Städten etc. sind reale Probleme und betreffen viele Menschen. Eine Linke, die die Diskurse von vor mehr als zehn Jahren wiederholt und die Verschlechterung der Umweltbedingungen bagatellisiert oder gar verschweigt, ist nicht tolerierbar. Die ökologischen Grenzen müssen anerkannt werden. Wir können nicht endlos auf ökonomisches Wachstum setzen, weil der Planet die Folgen dieser Politik nicht aushält. Die Vorstellung vom Überfluss muss durch das Wissen um die reale Knappheit ersetzt werden. Das heißt nicht, dass es keine ernsthaften Probleme der Verteilung und der Teilhabe gibt, aber wir dürfen die Grenzen der Natur nicht ignorieren. Eine Gesellschaft des Überflusses zu propagieren, ist nicht mehr möglich (z.B. Ovejero Lucas 2005).

Die Linke hat mit ihrer Tradition moralischer Ablehnung von Ungleichheit stets die Ärmsten, die Lohnabhängigen, die Marginalisierten in den Vordergrund gestellt. Genau diese Gruppen sind es, die fast immer von den Verschlechterungen der Umweltbedingungen betroffen sind, deren Lebensraum vergiftet wird, die unter schlechten Arbeitsbedingungen leiden müssen und die hohen ökologischen Risiken ausgesetzt sind. Insofern muss jedes Programm der Linken im 21. Jahrhundert einen wirkungsvollen Aktionsplan zur ökologischen Gerechtigkeit beinhalten – doch den progressiven Regierungen fehlt ein solcher fast vollständig. Für ein Gleichheitsideal, das darauf zielt, die gleichen Konsum- und Verbrauchsraten wie in den industrialisierten Ländern zu erreichen, reichen die zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht aus. »Wenn es nicht genug für Alle und von Allem gibt, wenn wir keine Gesellschaft des Überflusses haben, tauchen die Probleme der Verteilung auf: Was soll verteilt werden? Mit welchen Kriterien? An wen?« (Ovejero Lucas 2005). Die kulturelle Vielfalt Lateinamerikas drückt sich auch in divergierenden Vorstellungen von Lebensqualität und den Beziehungen zwischen Mensch und Natur aus. Eine neue Reflektion über Gerechtigkeit muss die ökologischen Beschränkungen mit einbeziehen und sich zudem demokratisch neu orientieren, um dieser Vielfalt von Werten und Wahrnehmungen gerecht zu werden. Für die gegenwärtige Linke heißt das, der ökologischen Gerechtigkeit muss der gleiche Stellenwert eingeräumt werden wie der sozialen Gerechtigkeit. Die Erpressung, bei der etwa der Extraktivismus als unverzichtbar zur Reduzierung von Armut verteidigt wird, ist sinnlos. Soziale Gerechtigkeit kann ohne ökologische Gerechtigkeit nicht realisiert werden.

Biozentrismus und Entwicklung

Ein weiterer substanzieller Wertewandel muss auf dem Gebiet der Ethik erfolgen. Auch wenn in vielen Diskussionen der Linken Wertedebatten angerissen werden, geschieht dies oft nur rudimentär und beschränkt auf Fragen der Moral. Zwar wird in einigen Überlegungen zum Ökosozialismus die Bedeutung des Gebrauchswertes, also die Bedeutung für die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse, betont (z.B. bei Riechmann 2006). Doch auch der Fokus auf den Gebrauchswert macht die Natur zu einem Warenkorb und stellt ihren Nutzen für die Menschen in den Mittelpunkt. Diese anthropozentrische Herangehensweise bildet das Rückgrat der verschiedenen Ausprägungen der Fortschrittsideologie – auch derjenigen der progressiven Regierungen. Die Zerstörung der Umwelt wird toleriert, weil sie als Mittel zum Zweck der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse angesehen wird. Es gilt, die Natur zu erobern und zu dominieren. Dieses Mandat hat seinen Ursprung in der europäischen Moderne und ist in unterschiedlichen Prägungen seit dem Beginn der Kolonialisierung reproduziert worden. Für eine Ethik, verstanden als Debatte über die Formen der Wertzuschreibung, wäre notwendig, den moralischen Anthropozentrismus, für den der Mensch das wichtigste ist, hinter sich zu lassen und die der Natur immanenten Werte zu akzeptieren. Das bedeutet die Hinwendung zum Biozentrismus. Weder der Gebrauchswert noch die Wichtigkeit gesellschaftlicher Veränderung werden dadurch verneint. Es wird aber zusätzlich anerkannt, dass der Umwelt und den vielfältigen Lebensformen unabhängig von ihrer Nützlichkeit für den Menschen ein eigener Wert innewohnt. Die Bewertungsskala wird vielfältiger und es wird mit der Inwertsetzung der Natur gebrochen.

Diese Debatte setzt gerade ein, wie etwa die Anerkennung eigenständiger Rechte der Natur in der neuen Verfassung von Ecuador zeigt. Sie bereitet den Weg für einen Biozentrismus, der mit der anthropozentrischen Sichtweise bricht. Ein alternatives Entwicklungsmodell mit post-extraktivistischem Charakter, das sich vom instrumentellen Materialismus verabschiedet, nimmt bereits Fahrt auf. Es rückt die Qualität des Lebens als Gutes Leben (Buen Vivir) wieder in den Mittelpunkt und fördert eine neue Sensibilität für soziale und ökologische Gerechtigkeit. Wenn man sich im 21. Jahrhundert als progressiv, sozialistisch, revolutionär oder alternativ bezeichnet, muss man damit aufhören, die Natur zu zerstören, und damit beginnen, sie zu schützen – heute, ohne Ausreden, pausenlos.

Aus dem Spanischen von Stefan Thimmel

1 Auf die Unterschiede zwischen den neuen linken Regierungen kann hier nicht eingegangen werden. Die Begriffe »Linke«, »progressiv«, »Sozialismus« werden frei nach der in Lateinamerika üblichen Weise verwendet. Eine genauere Charakterisierung ist an dieser Stelle nicht möglich. Ich bitte die geneigte Leserschaft um Nachsicht.
2 Ein Parteien- und Bewegungsbündnis, das den amtierenden Präsidenten Rafael Correa unterstützt (Anm. des Übersetzers).

3 Zitiert nach Agencia Boliviana de Informaciones vom 10.10.2009. Die Sozialprogramme IDH, J. Pinto und J. Azurduy sowie die »Rente mit Würde« werden über den bolivianischen Haushalt, Steuern auf fossile Energieträger und Transferleistungen der staatlichen Erdölgesellschaft finanziert.

4 Die Frente Amplio (Breite Front) in Uruguay ist die erste linke Partei, die im 21. Jahrhundert in ihrem Programm keine Umweltthemen präsentierte. Während Parteien in anderen Ländern Wahlversprechen abgeben, die sie nicht einhalten, erfolgte in Uruguay noch nicht einmal das. Die Frente Amplio hat in den letzten Jahren den Anbau von genmanipulierten Pflanzen, eine Intensivierung der Landwirtschaft, die Nutzung von Atomenergie und die Privatisierung des Umwelt-Monitorings befürwortet.
5 Als »Cerrado« werden die Savannen Zentralbrasiliens bezeichnet (Anm. des Übersetzers).

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