Dieter hat uns verlassen. Nach einem relativ kurzen Krebsleiden ist er von uns gegangen und hinterlässt eine große Lücke. Elisabeth Abendroth, Stefan Schmalz, Ingar Solty, Jens Kastner, Alke Jenss und viele andere haben die traurige Nachricht bereits auf sozialen Medien kommentiert, verschiedene Nachrufe sind mittlerweile in Tageszeitungen erschienen, andere werden folgen. Die wertschätzenden und persönlich akzentuierten Worte zeigen an, wie groß dieser Verlust ist. 


Ich habe Dieter intensiver erst kennengelernt, als er schon gar nicht mehr als Lehrender im Hochschulbetrieb tätig war und ich schon nicht mehr in Marburg wohnte, aber regelmäßig dort aufschlug. Das muss 2012 gewesen sein. Weil ich mich in Kassel unterdessen verstärkt mit Lateinamerika beschäftigte, hatte der Betreuer meiner Doktorarbeit Frank Deppe dieses Match mit seinem Freund und Lateinamerikaexperten Dieter eingeleitet. 


Über die Jahre hinweg hat sich eine sehr inspirierende freundschaftliche Beziehung zwischen uns entwickelt. Besuche in Marburg bedeuteten stets auch Nachmittage mit Dieter im Roten Café – mit darauffolgendem Besuch im Buchladen, wobei wir die verschiedenen Themenecken durchstreiften, Lektüretipps austauschten, um letztlich (dies war hauptsächlich Dieters Part) mit dem Buchhändler Micha zu fachsimpeln oder einfach nur zu ›frozzeln‹.Die großen weltanschaulichen innerlinken Auseinandersetzung waren damals möglicherweise schon vorbei, doch wer Dieter kannte, weiß, dass er stets Lust auf inhaltliche Auseinandersetzung inklusive Polemik hatte. Er verteidigte, stets um Klärung und Auseinandersetzung bemüht, seine Ansichten in verschiedenen Diskussionen und Zusammenhängen:  innerhalb der Rosa-Luxemburg-Stiftung, für die er als Vertrauensdozent tätig war; innerhalb linker sozialwissenschaftlicher Debatten zu Lateinamerika, so in seiner Kritik des Konzepts der „imperialen Lebensweise“ oder in den inhaltlichen Auseinandersetzungen, wechselseitigen Rezensionen und Kommentaren, die er mit Klaus Meschkat über die politischen Projekte der Linksregierungen austauschte. Er suchte Debatten über zeitdiagnostische Begriffe, so mit seinen kritischen Kommentaren zu den Versuchen, faschismustheoretische Begriffe wiederzubeleben. Als manche das Bonapartismuskonzept vorschlugen, um den Blick auf die Rechtswenden der Gegenwart zu schärfen, kritisierte er diese Versuche als nicht zeitgemäß. Und auch an Jan-Werner Müllers Populismustheorie übte er scharfe Kritik, die schließlich auch eine Replik in den Blättern herausforderte. 


Die Polemik der Auseinandersetzungen konnte dabei auch persönliche Überwerfungen auslösen. Dieters Wille zur inhaltlichen Auseinandersetzung, ja zum Dissens, blieb nicht auf der Oberfläche, sondern argumentierte fachlich und sachlich begründet. Die Auseinandersetzungen wurden mit Sicherheit nicht als Selbstzweck oder aus Distinktionszwang geführt, sondern entsprangen dem Impuls eines kritischen Intellektuellen, der bestrebt war, Begriffe und Erklärungsangebote auf ihren kritischen Zeitdiagnosegehalt zu überprüfen und dabei stets die praxisphilosophischen, weltverändernden Implikationen im Blick zu behalten. 


Dieter verfolgte die politischen und sozialwissenschaftlichen Debatten unserer Gegenwart mit Unruhe und Besorgnis. Neben Auseinandersetzungen zu den Links- und Rechtswenden in Lateinamerika, zum Populismus, linker und rechter Spielart, zur Faschismustheorie beschäftigte er sich auch stets mit den Klassikern der Soziologie: von Werner Hoffmann bis zu ›den Frankfurtern‹; Pollok, Kracauer, Weil – keine der intellektuellengeschichtlichen neueren Historiografien der letzten Jahre blieben ungelesen. 


Die historisch-konkreten Analysen gesellschaftlicher Dynamik, von Klassenauseinandersetzungen und Kräfteverhältnissen hatte Dieter in Marburg, im Umfeld des ›Marburger Dreigestirns‹ von Werner Hoffmann, Wolfgang Abendroth und Heinz Maus, gelernt, wohin er nach ersten Frankfurter Studienjahren wechselte. Wie Georg Fülberth in seinen Nachruf (junge welt vom 07.12.2024) feststellt, hat der thematische Fokus auf Lateinamerika, den der in jungem Alter von noch nicht einmal 30 Jahren zum Soziologieprofessor Berufene ab 1972 vertrat, so etwas wie eine ›weitere Marburger Schule‹ begründet. Dies spiegelt sich in zahlreichen Abschluss- und Doktorarbeiten, Monografien und Sammelbände sowie einer langen Reihe von Schüler*innen wider. 


Jenseits des Interesses an konkreten Soziologien, durchaus auch im globalen Ausmaß, hatte Dieter auch ein Faible für sozialtheoretische und philosophische Debatten, die seine Lektüren der letzten Jahre noch bestimmten. So kamen neben seinen langjährigen linken Weggefährt*innen auch zuweilen neue Gesprächspartner*innen in Dieters Alltag im »Unruhestand«, er berichtete von den Treffen mit dem Kant-Forscher und ›Emeritierungscompañero‹ Reinhardt Brandt. Intensive Lektüren der Arbeiten von Reinhardt Koselleck wurden wohl mit dem Willen betrieben, Aufklärung zu erhalten über das Scheitern historischer Lernprozesse. Skepsis und Enttäuschung über die Niederlagen der Linksregierungen in Lateinamerika und das ihn zunehmend beschäftigende Problem, warum progressiv-emanzipatorische Bewegungen und politische Projekte auf so tragische Weise offensichtlich nicht aus ihren eigenen Fehlern lernen, haben ihn dazu gebracht, dem Phänomen der »politischen Kultur« mehr Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Und die zuletzt noch dringlichere Frage, warum es rechten, reaktionären politischen Projekten immer wieder gelingt, eine Massengefolgschaft zu erreichen, hat weitere neugierige Lektüren faschismustheoretischer Klassiker wie auch vieler Neuerscheinungen zum Thema motiviert. Die zahlreichen Rezensionen und Aufsätze in der Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung, für die er wichtige Funktionen übernahm, zeugen von dem breit gestreuten Interesse und seiner nicht nachlassenden Neugierde. 


Vor einigen Jahren haben wir aus Anlass seines 75. Geburtstags mit ehemaligen Kolleg*innen und Genoss*innen den Band »Globale Ungleichgewichte und soziale Transformationen« beim Wiener Mandelbaum-Verlag herausgegeben, der verstreut erschienene Publikationen von Dieter zugänglich macht. Zu einem weiteren Sammelband, der Dieter von einem befreundeten Verleger empfohlen wurde, hatte er ich schon Gedanken über mögliche Gliederungen und Schwerpunkte gemacht. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen.


Dieter und ich waren  zuletzt auch zum erneuten Rechtsdrift in Argentinien in regem Austausch. So sind zwei Publikationen zum Aufstieg ›des verrückten Präsidenten Milei‹ in der ersten Hälfte dieses Jahres erschienen (die ausführlichere Version im Mai 2024 in der Prokla). Darin haben wir versucht, soziökonomische Faktoren mit politischen und alltagskulturellen Entwicklungen synthetisch zusammenbringen, um diese außergewöhnliche Form von Rechtsruck zu erklären. Auf den Artikel gab es ein breites Feedback, ein Verlag unterbreitete uns zudem den Vorschlag, für 2025 eine Monografie über Rechtsruckphänomene in Lateinamerika zu veröffentlichen. Als ich im Juli in Deutschland war, wollten wir uns auch darüber beratschlagen. Einige Tage vor dem vereinbarten Termin im „Roten Café“ sagte mir Dieter ab, wichtige ärztliche Untersuchungen stünden an. Im Folgenden haben wir nur noch wenige E-Mails hin- und hergeschrieben, sie drehten sich hauptsächlich nur noch um sehr existenzielle und ernste Themen – Diagnose, (anstehende) Operation –, bis die Kommunikation einige Wochen nach dem Krankenhausaufenthalt schließlich vollkommen abbrach. Über Dritte war ich auf dem Laufenden, wie ernst die Lage war. Über Wochen hinweg dachte ich traurig vor mich hin, dass es wohl nicht mehr zum Austausch kommen würde. Die große räumliche Distanz zu Deutschland und zu Dieters Lebensmittelpunkt Marburg macht das Ausmaß des Verlustes noch weniger greifbar.


Buenos Aires, Anfang Dezember 2024