Die kurdische Stadt Cizre, ein Ort mit 150 000 Seelen im Südosten der Türkei, befindet sich zum zweiten Mal im Belagerungszustand durch die türkischen Streitkräfte und die sogenannten Kräfte für besondere Operationen der Polizei. Zuvor war eine zweiwöchige Belagerung für zwei Tage unterbrochen worden. Zu einer 24-stündigen Ausgangssperre kommen Stromsperren und die Unterbrechung aller Kommunikationsmittel, eingeschlossen Mobiltelefone und Internet. Nach Unterbrechung der ersten Belagerung gab es Hinweise auf ein fürchterliches humanitäres Drama. Mehr als 30 Zivilpersonen kamen zu Tode, von einem 35 Tage alten Kind bis zu einem 75-jährigen Mann. Regierungsnahe Quellen verlauteten, die Sicherheitskräfte hätten mehr als ein Dutzend KämpferInnen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) getötet, während jegliche zivile Opfer bestritten wurden. Wie das Baby und der alte Mann zum Kampf der Guerilla beigetragen haben könnten, bleibt allerdings ein von Regierungsstellen unaufgeklärtes Mysterium. Die bedrängte Lage Cizres ist nur die jüngste und dramatischste Episode in einem Krieg, den der türkische Staat seit Ende Juli gegen seine eigenen BürgerInnen in den kurdischen Regionen führt. Er wurde begonnen unter dem Vorwand des Massakers von Suruç am 20. Juli, bei dem 32 junge türkische Linke umkamen. Sie hatten durch eine Pressekonferenz ihre Solidarität mit den Menschen in Kobanê, einer Stadt in der kurdischen Region Rojava in Syrien, bekundet. Die jungen Linken wurden bei einem Selbstmordanschlag umgebracht, aller Wahrscheinlichkeit das Werk des sogenannten Islamischen Staats. Die türkische Regierung, Recep Tayyip Erdoğans Partei AKP, begann daraufhin einen Krieg – nicht gegen den IS, sondern gegen die PKK und die kurdische Bevölkerung. Es ist richtig, dass die AKP-Regierung Konzessionen gegenüber den USA gemacht hat, indem sie schließlich die Nutzung des türkischen Flugstützpunktes İncirlik erlaubte, und dass sie, etwas später, zustimmte, selbst an derartigen Luftangriffen teilzunehmen. Jedoch war dies nur ein Manöver, um die eigene Flanke zu schützen, während gleichzeitig mit einer Großoffensive gegen die kurdische Bewegung begonnen wurde. So vermied die türkische Regierung Spannungen mit den USA und warf sich in ein vertracktes militärisches Abenteuer.
Krieg der Türkei gegen die PKK und die kurdische Bevölkerung
Der Krieg gegen die kurdische Bevölkerung hat drei Formen angenommen: Erstens die des militärischen Konfliktes zwischen türkischer Armee und PKK. Im Nordirak, auf dem Territorium der von Barzani geführten kurdischen Regionalregierung, einem der Türkei und den USA nahestehenden Bündnispartner, werden Bombardierungen von PKK-Lagern durchgeführt. Die PKK antwortete darauf einige Male mit der Ermordung türkischer Soldaten und Polizisten. Die zwei spektakulärsten dieser Angriffe fanden Anfang September innerhalb von 48 Stunden statt, als die PKK im Südosten des Landes durch Anschläge 16 Soldaten und darauf folgend im Nordosten 13 Polizisten tötete. Die große geographische Distanz zwischen den Orten beider Vorfälle, und ebenso die hohen zahlenmäßigen Verluste, die den Streitkräften so beigebracht wurden, sollten die Kampfkraft der PKK demonstrieren. Eine zweite Form des Krieges, sind die Mühen des Staates, die Unruheherde in den Großstädten und kleineren Orten der kurdischen Osttürkei zu befrieden. Seit Beginn des Jahres 2013 war eine Serie von Verhandlungen zwischen Regierung und PKK, genannt »Lösungsprozess«, begonnen worden.
Allerdings sind nicht alle in der kurdischen Bewegung mit diesem zufrieden. Abdullah Öcalan, der seit 1999 in Gefangenschaft befindliche historische Führer der PKK, ist der Architekt des Prozesses. Es gibt jedoch noch andere Akteure auf der Bühne. Die offiziellen sind die PKK im Nordirak und die HDP, die Demokratische Partei der Völker, die die parlamentarische kurdische Bewegung verkörpert und ein Bündnis dieser mit einer Reihe türkischer sozialistischer Parteien und Organisationen darstellt. Unter diesen dreien ist Öcalan der flexibelste, während die PKK ein unversöhnlicheres Bild abgibt. Doch es gibt noch einen vierten Akteur, die YDG-H, die im Allgemeinen als Jugendflügel der PKK beschrieben wird, sich in letzter Zeit allerdings als quasi-unabhängige Kraft verhalten hat. Sie zählt zur äußersten Linken der Bewegung, und obwohl sie unentwegt ihre Loyalität zu Öcalan bekundet, steht sie dem »Lösungsprozess« offensichtlich kritisch gegenüber. Diese Organisation ist es, die ganze Nachbarschaften in vielen kurdischen Städten und kleinen Orten organisiert und für die türkischen Sicherheitskräfte unzugänglich macht, indem Gräben ausgehoben und, wenn nötig, mit der Waffe in der Hand verteidigt werden. Die breite Bevölkerung mag mit ihren Methoden zwar nicht einverstanden sein, schließt sich ihnen in Zeiten des Flächenbrands, gegen die Truppen der Regierung jedoch an. Daher sind die Attacken auf kurdische Städte Teil eines anhaltenden Krieges – Städte wie Silopi, Varto, Yüksekova, Silvan, und jetzt, mit höchster Dramatik, auf Cizre, die prominenteste Hochburg der YDG-H.[1]
Im Gegensatz zur ersten Form des Krieges, einem Konflikt zwischen zwei bewaffneten Mächten, ist dies ein Krieg, der gegen die zivile Bevölkerung geführt wird. Insofern als dass fast die gesamte Bevölkerung hinter der Jugend steht, transformiert sich das, was als Angriff auf eine Miliz erscheint, notwendig als Angriff auf die Bevölkerung. Nur Wochen vor Veröffentlichung dieser Zeilen besuchte ich aus Solidarität die Kleinstadt Silvan nahe Diyarbakir, wo es direkt zuvor einen ähnlichen Angriff durch Sicherheitskräfte gegeben hatte, und wurde mit eigenen Augen Zeuge der überall in der Stadt angerichteten Verwüstung. Eine dritte Form des Krieges ist die potenzielle Bedrohung durch einen veritablen Bürgerkrieg, in den zivile Kräfte beider Seiten verstrickt wären. Diese Bedrohung wird geschürt durch das unaufhörliche Bedienen nationalistischer und chauvinistischer Emotionen, nicht nur auf Seiten der Kräfte, die Erdoğan und der AKP nahestehen, sondern in gleichem Maße durch die »Grauen Wölfe«, die Partei der nationalistischen Bewegung MHP. Diese traditionellere faschistische Bewegung ist die drittgrößte Partei der türkischen Bourgeoisie (nach der kemalistischen Republikanischen Volkspartei CHP, die sich als sozialdemokratisch darstellt). Es waren die Grauen Wölfe, die in der Nacht des 8. September in Reaktion auf die zwei oben erwähnten Attacken der PKK mehr als 140 Räume der HDP angegriffen, viele gingen in Flammen auf. Kurdinnen und Kurden wurden auf den Straßen der türkisch dominierten Städte und Orte des westlichen Landesteils gejagt, Überlandbusse angehalten und mit Steinen beworfen. Kurdische SaisonarbeiterInnen wurden überfallen, ihre Behausungen und Autos niedergebrannt, und sie selbst massenweise vertrieben. Die KurdInnen bilden in den Städten der Westtürkei eine Minderheit, die aber vielerorts beträchtlich ist und in stark politisierten Communities über erhebliches kämperisches Potenzial verfügt. Wenn sie nicht in gleicher Weise antworteten, so geschah dies in Selbstbeherrschung. Dies verweist darauf, dass die Situation in Zukunft außer Kontrolle geraten kann, und dass der Krieg zu einem extrem blutigen ethnischen Bürgerkrieg ausufern könnte.
Dynamiken des Krieges
Bevor ein Frieden oder zumindest ein Waffenstillstand (wieder)hergestellt werden kann, muss die hinter dem Krieg stehende Dynamik offengelegt werden. Das Hauptmotiv für den Krieg leitet sich aus den Interessen Tayyıp Erdoğans her. Erdoğans Partei AKP erzielte mit einem Verlust von zehn Prozent der Stimmen ein klägliches Ergebnis. Dies ist Ausdruck seiner strategischen Fehleinschätzungen gegenüber den Massen: Zuerst während der Volksrevolte, die um die Auseinandersetzung um den Gezi-Park im Juni 2013 ausbrach, dann während der serhildan (Intifada; Aufstand) im Oktober 2014, den die kurdische Bevölkerung in Reaktion auf Erdoğans gefühllose Haltung angesichts der Bedrängnis von Kobanê unter den Attacken des IS begann. Die Wahlergebnisse waren in doppelter Hinsicht eine Katastrophe für Erdoğan. Einerseits braucht er eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, um die Verfassung zu ändern und damit das politische System der Türkei in ein präsidiales umzuwandeln, welches ihm die Macht verleiht, den politischen Prozess zu kontrollieren. Das Präsidentenamt ist derzeit formal eher auf eine zeremonielle Funktion beschränkt – auch wenn Erdoğans es völlig anders ausfüllt.
Andererseits öffnet der Umstand, dass die AKP nicht einmal ihre parlamentarische Mehrheit halten konnte, womöglich die Tür für eine Untersuchung der schwerwiegenden und gut dokumentierten Fälle von Korruption, in die nicht nur seine Minister involviert sind, sondern auch er selbst. Die meisten KommentatorInnen hoben auf seine Ambitionen zur Übernahme des von ihm exekutiv interpretierten Präsidentenamtes ab. Aus meiner Sicht geht es weit eher um ein dringendes Bedürfnis, eine Situation zu vermeiden, in der die Korruptionsakten durch ein Parlament geöffnet werden, in dem die AKP sich nun in der Mindeheitsposition befindet. Sofern die übrigen Parteien sich untereinander einigen und diese Akten öffnen, droht vielen in der AKP und möglicherweise Erdoğan selbst eine Verurteilung. Nachdem die HDP es bewerkstelligte, die extrem hohe Sperrklausel von zehn Prozent zu überschreiten, was zum Verlust der parlamentarischen Mehrheit der AKP führte, setzten Erdoğan und sein Gefolge darauf, türkisch-nationalistischen Chauvinismus anzustacheln und die HDP als eine den »Terrorismus« der PKK stützenden Kraft hinzustellen. Absicht ist es, Angst zu verbreiten, um die HDP bei den vorgezogenen Neuwahlen am 1. November unter die Zehn-Prozent-Hürde zu drücken. Folglich ist dieser Krieg für Erdoğan zuallererst ein Krieg um sein persönliches politisches Überleben. Es hat in der Geschichte imperialistische Kriege gegeben und antikolonialistische. Dies ist der erste egoistische Krieg.
Gleich nach den Wahlen schrieb ich dazu: »Die fehlerhafte Politik der Linken gab Erdoğan eine Atempause, die er nutzen konnte um das Präsidentenamt zu erklimmen. Nun kann die AKP zwar nicht allein die Regierung bilden, doch Erdoğan wird weiterhin die Zügel der Macht in Händen halten. Er wird jedes bisschen des eroberten Raums nutzen, um sich an der Macht zu halten, und er könnte für dieses Ziel sogar in den Krieg gegen die Kurden ziehen, oder gegen den Mittleren Osten als ganzem. In der Politik hat jeder Fehler seinen Preis.« Leider hat sich diese Voraussage bewahrheitet. Es war ein Fehler der Linken, es unterlassen zu haben, Erdoğan zu Fall zu bringen, als es im Bereich des Möglichen war. Nicht zuletzt ist dies eine Niederlage der kurdischen Bewegung. Angesichts der Stärke, die sie bei der Organisierung der Massen insbesondere in Diyarbakir zu entfalten vermag, hätte Erdoğan ein gefährlicher Stoß versetzt werden können, wenn sie in Verbindung mit dem durch Gezi ausgelösten Volksaufstand agiert hätte. Es ist betrüblich, eingestehen zu müssen, dass das Leiden der kurdischen Bevölkerung durch die grauenhaften Attacken der türkischen Sicherheitskräfte zumindest teilweise durch die Fehler der kurdischen Bewegung hervorgerufen wurde. Natürlich gibt es noch weitere langfristige und strukturelle Faktoren, die die Türkei dazu treiben, einen Krieg gegen die kurdische Bewegung zu beginnen. Einer wurde bereits angesprochen. Der radikale Flügel der kurdischen Bewegung, am sichtbarsten verkörpert durch ihre Jugendbewegung, ist gegen den »Lösungsprozess«, solange nicht zuvor Öcalan aus dem Gefängnis entlassen wird.
Die Jungen haben viele UnterstützerInnen. Fast die ganze Bevölkerung tendiert dazu, die Reihen zu schließen, wenn es hart auf hart kommt – was häufig geschieht. Der serhildan vom Oktober 2014 verbreitete in den herrschenden Kreisen Angst und ließ sie den Plan zur Liquidation des bewaffneten urbanen Widerstands auf die Tagesordnung setzten. Anders als die ländliche Guerilla würde ein städtischer Kampf eine neue Qualität der Bedrohung darstellen. Der jetzt geführte Krieg kann also auch als Versuch des türkischen Staates verstanden werden, eine solche Entwicklung zu verhindern. Ein weiterer Faktor ansteigender Spannung zwischen Staat und PKK ist die schiere Existenz Rojavas, der autonomen kurdischen Region südlich der türkisch-syrischen Grenze. Kurdische Autonomie oder sogar Unabhängigkeit, etwa in Irak, Iran oder Syrien, spielte als Bedrohung für die türkischen herrschenden Klassen stets eine große Rolle, da dies als Beispiel für die KurdInnen der Türkei wirken könnte. In den ersten 15 Jahren des 21. Jahrhunderts erlangten zuerst Irakisch-Kurdistan, dann Syrisch-Kurdistan Autonomie. Nachdem die Türkei sich an der Gründung des autonomen Irakisch-Kurdistan unter Barzani zuerst empfindlich störte, arrangierte sie sich schließlich damit und wurde inzwischen zur dominanten Macht über die kurdische Regionalregierung, sowohl ökonomisch als auch politisch. Die türkische Bourgeoisie ist erfüllt von Erwartungen großer Profite, wenn erst das Öl aus der Region Kirkuk fließt. Barzani ist ein zuverlässiger Verbündeter der USA, sogar ihr Protégé, und in neuster Zeit auch der Türkei selbst. Bei Rojava indes liegt der Fall anders. Es wurde unter einer Führung gegründet, die der PKK organisch verbunden ist. Die AKP-Regierung hat stets klargemacht, dass die Türkei niemals eine PKK-dominierte politische Einheit in ihrem Süden dulden würde. So war Rojava in den drei Jahren seiner Existenz immer ein Stachel im Fleisch des »Friedensprozesses«.
Was nun? Ein Flächenbrand…?
Letzteres legt nahe, dass die Zukunft der kurdischen Frage in der Türkei, ja die Zukunft der Türkei selbst, eng verknüpft ist mit den Perspektiven für Syrien. Bekanntermaßen sind Erdoğan und seine AKP Hauptakteure der Produktion von Leid in Syrien seit 2011. Im Verein mit Saudi-Arabien und Katar hat Erdoğan die Flammen von Hass und Krieg zwischen sunnitischer und alevitischer Bevölkerung angefacht (die AlevitInnen bilden eine Minderheitenkonfession im Islam, die dem Schiitentum nähersteht als dem Sunnitentum). Dies ist Teil einer umfassenderen Anordnung, innerhalb derer Erdoğan versucht, eine Führungsrolle gegenüber der sunnitischen Bevölkerung des Mittleren Ostens einzunehmen und die Türkei zum Ruhm des Osmanischen Reiches zurückzuführen. Dies ist einer der Gründe, weshalb die AKP-Regierung bis vor kurzem den IS und auch weiterhin andere islamistische Gruppen gegen das Assad-Regime unterstützt. Seit Ende Juli besteht ein Deal zwischen den USA und der Türkei: Letztere öffnete den Stützpunkt İncirlik für Angriffe der USA in Syrien, im Austausch für die das Stillschweigen der USA über türkische Angriffe auf die PKK.
Die damit entstandene Situation birgt einen dialektischen Widerspruch, der die Türkei alsbald in einen Bodenkrieg in Syrien hineinziehen kann. Im Kampf gegen den IS stützen sich die USA u.a. auf die bewaffneten Kräfte Rojavas als Bodentruppen. Die Bemühungen der Türkei richten sich hingegen darauf, dieselben Kräfte außerhalb jener Regionen südlich der türkisch-syrischen Grenze zu halten. Doch die USA brauchen die Streitkräfte von Rojava, um den IS am Boden zu bekämpfen. Der einzige Weg für die Türkei, die USA von einer Kollaboration mit Rojava abzubringen, besteht darin, selbst Bodentruppen zu entsenden, um sogenannte Sicherheitszonen zu etablieren. Zur widersprüchlichen militärischen Allianz der USA und der Türkei gesellt sich die infernalische Logik von Erdoğans Überlebenskampf: Sollte die AKP daran scheitern, die Mehrheit im Parlament zu erhalten, so muss Erdoğan die normale Funktion des Systems außer Kraft setzen. Dies ließe sich am ›einfachsten‹ über die Ausdehnung des Krieges um Syrien, oder gleich um den Mittleren Osten als Ganzes, realisieren.
…oder ein progressiver Ausweg?
Natürlich gibt es auch gegenläufige Tendenzen. Möglich ist, dass Öcalan – der seit den Wahlen und dem Ausbruch des Krieges geschwiegen hat – sich zu Wort meldet, um eine Art Tauwetter einzuleiten. Das kommende Opferfest, das große religiöse Fest der islamischen Welt, wäre ein geeigneter Moment für ihn, ein neues Kapitel im »Lösungsprozess« aufzuschlagen. Trotz der Grausamkeiten des Krieges haben bisher weder die AKP, noch Erdoğan, noch die kurdische Bewegung die Möglichkeit eines Neubeginns völlig ausgeschlossen. Erdoğan hat wie er sagt die Gespräche des »Lösungsprozesses« eingefroren, nicht beendet. Sobald er selbst sich in Sicherheit wähnt, könnte er zum status quo ante zurückkehren. Das wäre der reaktionäre Ausweg aus der gegenwärtigen Sackgasse. Erdoğan ist ein Fluch für die Türkei und den Mittleren Osten. Je länger er an der Spitze seines Landes verbleibt, desto mehr Unruhe braut sich für die Völker der Region zusammen. Der progressive Ausweg wäre eine Niederlage Erdoğans, seine Amtsenthebung und Verurteilung für seine Verbrechen.
Die Bedingungen dafür verbessern sich gegenwärtig. Allein die jüngste Abfolge von Massenauseinandersetzungen in der Türkei, der Gezi-Aufstand (2013), der serhildan um Kobanê (2014) und der Metallarbeiterstreik (2015), folgten kurz hintereinander und demonstrieren, dass zahlreiche gesellschaftliche Gruppen nur darauf warten, ihrem Ärger Luft zu machen. Der Unmut wächst. Zu allem Überfluss hat Erdoğan gegenüber seinen früheren Bündnispartnern, den USA und der EU, der Gülen-Bruderschaft und den Liberalen der Türkei sowie gegenüber Teilen der kapitalistischen Klasse seine Glaubwürdigkeit verloren. Inzwischen verliert er mehr und mehr an Unterstützung in seiner eigenen Partei. Abdullah Gül, der frühere Staatspräsident und ebenfalls ein Gründer der AKP, steht bereit, um die Partei im richtigen Moment zu übernehmen. Der bevorstehende Parteitag wird die tiefen Risse, die die AKP durchziehen, noch nicht zum Vorschein bringen, doch die Widersprüche reifen auch hier heran. Selbstverständlich wird es einen großen Unterschied machen, ob es die von Gül geführte bourgeoise Opposition innerhalb der AKP und die zwei bourgeoisen Parteien – sozialdemokratisch und faschistisch – sind, die Erdoğan zu Fall bringen, oder ob die Massen diese Aufgabe übernehmen, angeführt von der arbeitenden Klasse. Diese scheint nach langer Abwesenheit wieder in Aktion zu treten. Letzteres ist meine Hoffnung.
Dieser Artikel erschien zuerst in The Bullett No. 1162. Aus dem Englischen von Corinna Trogisch