»Der dramatischste und weitreichendste soziale Wandel in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, der uns für immer von der Welt der Vergangenheit getrennt hat, war der Untergang des Bauerntums. […]. Dass sich die Vorhersage von Marx, dass das Bauerntum durch die Industrialisierung ausgerottet werden würde, schließlich in Ländern, die eine rasche Industrialisierung durchlebten, offenkundig bewahrheitete, ist weniger erstaunlich als ein ganz unerwartetes Phänomen: Die Anzahl der Bauern und Landarbeiter verringerte sich auch dort, wo die Industrialisierung ganz augenscheinlich ausgeblieben war.« (Hobsbawm 1995, 365 u. 367)
Es erscheint auf den ersten Blick paradox, dass zum Ende des 20. Jahrhunderts, also jener Zeit, die Hobsbawm als Phase des weltweiten Untergangs der bäuerlichen Landwirtschaft beschrieben hat, in internationalen Debatten ein Konzept auftaucht, das aufs Engste mit dieser verknüpft ist: das Konzept der Ernährungssouveränität.
Hobsbawm hatte für seine Diagnose starke Argumente an der Hand. Motorisierung, Entwicklungen in der Tier- und Pflanzenzucht sowie der Einsatz von Mineraldünger, zugeschnitten auf Monokulturen und kapitalintensive Betriebe, sorgten in den Industrieländern nicht nur für massive Produktionssteigerungen im Agrarbereich. Sie reduzierten zudem die Zahl der Erzeuger*innen derart, dass in Deutschland zu Recht von einem flächendeckenden »Höfesterben« die Rede ist. Während die Innovationen an der Masse der Kleinbäuer*innen im globalen Süden zunächst vorbeiliefen, ließen zwei Entwicklungen die ländlichen Regionen der Welt immer mehr zusammenrücken: zum einen die Motorisierung und die gesteigerte Leistungsfähigkeit der Schifffahrt sowie des Schienen- und Flugverkehrs, zum anderen die (De-)Regulierungen des globalen Agrarhandels, die insbesondere über die GATT-Verhandlungsrunden erfolgten und schließlich 1995 zur Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) führten.
Infolge dieser Entwicklungen fielen im Laufe des 20. Jahrhunderts die realen Preise von Grundnahrungsmitteln kontinuierlich. Die Masse der bäuerlichen Produzent*innen bekam dies weltweit massiv zu spüren. Ihre realen Einkommen sanken dramatisch, oft deutlich unter die eigenen Reproduktionskosten, was Armut und Hunger im ländlichen Raum verschärfte. Aus dieser Perspektive stellte die Gründung der WTO nichts anderes dar als die gewaltsame Durchsetzung des Prinzips komparativer Kostenvorteile in institutionalisierter Form. Sie band die Landwirtschaften über den Weltmarktpreis gnadenlos zusammen und zerstörte auf diese Weise Abermillionen bäuerliche Existenzen. Das ist ein Grund, warum mittlerweile mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten lebt. Anders als zu Zeiten der industriellen Revolution, als in der Landwirtschaft Mitteleuropas überflüssig gewordene Arbeitskräfte in die Fabriken des Nordens strömten, ist die Nachfrage nach zusätzlichen Arbeitskräften in der Industrie der urbanen Zentren heute vielerorts begrenzt.
Ernährungssouveränität – Genese eines alternativen Projekts
Der Zusammenschluss von Bauerninitiativen in der transnationalen Dachorganisation La Via Campesina (»Der bäuerliche Weg«) war eine unmittelbare Antwort auf diese Entwicklungen. Zunächst waren es insbesondere Bauernorganisationen aus Zentralamerika, Südostasien und Kanada, die versuchten, gemeinsam ihren Interessen auf internationaler Ebene Gehör zu verschaffen. Bereits Mitte der 1980er Jahre hatte die mexikanische Regierung Ernährungssouveränität als ein Ziel in ihr Programa Nacional de Alimentación aufgenommen und betont, es gehe dabei nicht um Autarkie, sondern um die nationale Kontrolle über die verschiedenen Stufen der Produktionskette (Anbau, Verarbeitung, Handel und Konsum). La Via Campesina griff dieses Leitbild auf: Erstmals auf dem UN-Welternährungsgipfel 1996 und anschließend bei WTO-Verhandlungen und auf Sozialforen prägte die neue Organisation die Proteste gegen die kapitalistische Welthandelsordnung. In dieser Phase verstanden die Protagonist*innen dieses Konzepts unter Ernährungssouveränität das »Recht aller Völker, ihre Landwirtschafts- und Ernährungspolitiken selbst zu definieren«.
Als Mitte der 2000er Jahre die Nahrungsmittelpreise stiegen und die kommerziellen und spekulativen Investitionen in natürliche Ressourcen (Land, Wasser, Saatgut) stark zunahmen, verschob sich dieses Verständnis. Insbesondere bei transnationalen Investitionen in Land waren und sind nationale Regierungen an den Deals beteiligt. Sie veräußerten Landrechte oftmals ohne die Bevölkerung vor Ort auch nur zu konsultieren. Darum bezieht sich das Konzept der Ernährungssouveränität zunehmend auch auf die Rechte von Gemeinschaften (Communities) und Einzelnen gegenüber dem Staat. Der Erklärung von Nyéléni etwa, im Februar 2007 von 500 Delegierten aus 80 Ländern auf dem ersten weltweiten Forum für Ernährungssouveränität in Mali verabschiedet, liegt ein Verständnis von peopl’s sovereignty zugrunde: »Ernährungssouveränität stellt die Menschen, die Lebensmittel erzeugen, verteilen und konsumieren, ins Zentrum der Nahrungsmittelsysteme, nicht die Interessen der Märkte und der transnationalen Konzerne. Sie verteidigt das Wohlergehen kommender Generationen und bezieht sie ein in unser vorsorgendes Denken. Sie ist eine Strategie des Widerstandes und der Zerschlagung derzeitiger Handels- und Produktionssysteme, die in den Händen multinationaler Konzerne liegen.«
Die Verbreitung des Konzepts der Ernährungssouveränität war auch eine Reaktion auf die von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) propagierte Politik der Ernährungssicherheit. Sie hat zum Ziel, »allen Menschen zu allen Zeiten« einen »physischen und ökonomischen Zugang zu ausreichenden, sicheren und nahrhaften Lebensmitteln« zu sichern und beschränkt sich damit auf das »Sattkriegen der Hungernden«. Die gesellschaftlichen und ökonomischen Umstände, die Hunger verursachen, werden außer Acht gelassen. Dies steht in vollem Einklang mit den Exportinteressen amerikanischer Maisbarone und der weltmarktorientierten Milchüberschusspolitik des Deutschen Bauernverbands. Ernährungssouveränität hingegen zielt auf die Repolitisierung der Produktionsverhältnisse. Vertreter*innen des Konzepts fordern die lokale Kontrolle über natürliche Ressourcen, eine Priorisierung regionaler Märkte gegenüber globalen und konzerndominierten Lieferketten, die Durchsetzung »fairer Preise« und eine ökologisch nachhaltige Praxis. Vielfach spielen auch Elemente kollektiver Kontrolle eine zentrale Rolle, etwa bei der Bewirtschaftung von Land, beim Management von Saatgutbanken oder in der gemeinsamen Vermarktung der Produkte.
Klassendifferenzierung auf dem Land
Die politische Bewertung des Leitbilds der Ernährungssouveränität ist in hohem Maße abhängig von den Vorstellungen und Bewertungen dessen, was bäuerliche Landwirtschaft eigentlich ist. Kritiker*innen des Konzepts setzen ›den Kleinbauern‹ häufig mit Subsistenzproduktion gleich, einer Form der Landwirtschaft also, mit der gerade einmal die Selbstversorgung gewährleistet ist und die daher im Sinne des Fortschritts überwunden werden sollte. Viele Verfechter*innen halten dagegen, es seien nach wie vor die Kleinbauern, die die Welternährung sicherstellen. Beide Perspektiven ignorieren dabei weitgehend die sozialen Dynamiken, Übergänge und Klassenstrukturen, durch die die bäuerliche Landwirtschaft genauso wie die meisten anderen gesellschaftlichen Bereiche gekennzeichnet ist. Die erste Sichtweise ist zudem sachlich falsch. So sind kleinbäuerliche Haushalte in der Realität immer schon in Marktbeziehungen eingebunden, seien diese formeller oder informeller Art (wie etwa Kreditarrangements mit Nachbar*innen). In den entwicklungspolitischen Debatten geht diese irreführende Vorstellung häufig mit der Forderung einher, die Subsistenzbauern müssten Landwirtschaft endlich als »Business« begreifen. Die Kommerzialisierung der bäuerlichen Betriebe wird als Voraussetzung für ein besseres Leben gesehen.
Historisch ist die Einbindung bäuerlicher Produzent*innen in moderne Gesellschaften und moderne Staaten vielfach gewaltsam erfolgt, etwa durch Einhegungen in Großbritannien, durch Leibeigenschaft und Enteignung (»Bauernlegen«) in Deutschland, später durch die Einführung von Kopfsteuern oder den Zwang des Anbaus von Exportgütern durch Kolonialregierungen in vielen Teilen des globalen Südens. Damals wie heute dient der Fortschritt als ein zentrales Rechtfertigungsmuster, wenn Menschen ausgebeutet, enteignet und vertrieben werden. Auch staatssozialistische Regime haben im 20. Jahrhundert mit zum Teil äußerster Härte Boden- und Agrarstrukturreformen durchgesetzt, in denen Bäuer*innen meist eher als Gegner denn als gestaltende Akteure behandelt wurden. Von daher können diese heute kaum zum Vorbild für genossenschaftliche oder andere Alternativmodelle taugen.
Der deutsche Begriff »Kleinbauer« ist darüber hinaus ungenau und suggeriert, die bäuerliche Landwirtschaft ließe sich nach der Hektargröße der bewirtschafteten Fläche kategorisieren. Sinnvoller ist eine Unterscheidung nach der Produktionslogik, wie sie Henry Bernstein vorschlägt: (1) Einem Teil der bäuerlichen Haushalte gelingt es, stabile Einkommen zu erwirtschaften und diese als Kapital zu reinvestieren, sodass im Laufe der Zeit Ressourcen akkumuliert werden können. Diese Haushalte agieren im Sinne einer erweiterten Reproduktion, die überproportional stark auf fremde Arbeitskraft zugreift. (2) Bäuerliche Haushalte, die ihr Produktionsniveau durch partielle Markteinbindung langfristig stabil halten, agieren im Modus der einfachen Reproduktion. (3) Haushalte, denen es trotz eigener Agrarproduktion kaum gelingt, die eigene Reproduktion sicherzustellen (Bernstein bezeichnet diese Situation als »simple reproduction squeeze«), sind oft verschuldet und müssen vielfach durch Lohnarbeit Zuverdienste erwirtschaften. Auch sind sie oftmals von Hunger betroffen. Aus diesem Blick auf bäuerliche Produktionsformen ergibt sich zweierlei: Erstens lässt sich Hobsbawms These vom »Untergang der Bauern« zurückweisen. Richtig ist zwar, dass sich seit dem Zweiten Weltkrieg die absolute Zahl der bäuerlichen Haushalte vor allem in Westeuropa stark verringert hat. Dafür ist sie aber im gleichen Zeitraum in anderen Regionen der Welt gewachsen. Was Hobsbawm als Untergang beschrieben hat, stellt sich bei genauerer Betrachtung als ein Prozess der Klassendifferenzierung dar. So lässt sich etwa die Grüne Revolution in Indien in den 1960er und 1970er Jahren als ein Prozess begreifen, in dem ein kleiner Teil der Bäuer*innen zu Kapital akkumulierenden Produktionsformen überging, während ein großer Teil der übrigen Haushalte zugleich unter großen ökonomischen Druck geriet und verelendete. Zweitens ergibt sich mit Blick auf das Konzept Ernährungssouveränität die Notwendigkeit zu analysieren, welche sozialen Klassen hier eigentlich ihre Souveränität einfordern. So sind die organisierten bäuerlichen Stimmen mancherorts mitnichten diejenigen, die die Interessen der Ärmsten in den ländlichen Regionen vertreten. Während die Produzentenklassen, deren Wirtschaftsform durch einfache Reproduktion und zusätzliche Lohnarbeit gekennzeichnet ist (Kategorie 2 und 3), etwa von La Via Campesina repräsentiert werden, haben sich viele Organisationen von Landwirten mit eher durchkapitalisierten Betrieben (Kategorie 1) in der World Farmers Organisation WFO, ehemals International Federation of Agricultural Producers/IFAP) zusammengeschlossen.
Politisierung landwirtschaftlicher Produktionsverhältnisse
In ihrer emanzipatorischen Stoßrichtung sind Parallelen zwischen der bäuerlichen Bewegung für Ernährungssouveränität und der Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts unübersehbar. Beide waren bzw. sind Projekte der Artikulation, der Emanzipation und des Widerstandes unterdrückter, ausgebeuteter und ausgeschlossener sozialer Klassen. Das Programm von Akteuren wie La Via Campesina ist dezidiert antikapitalistisch. Beide Projekte stellen Rechte und Würde der Arbeitenden der dominanten kapitalistischen Entwicklungslogik entgegen. Beide Projekte bleiben nicht bei individualistischen Rechtskonzepten stehen, sondern betonen das Potenzial und die Rechte von Kollektiven – »die Arbeiter« im Sozialismus bzw. »die Gemeinschaften von Kleinproduzierenden im ländlichen Raum«. Beide Projekte zielen auf eine weitreichende Transformation und Demokratisierung von Wirtschaftsstrukturen sowie auf die Aneignung und Umverteilung von Eigentum.
Zu den Stärken des Konzepts Ernährungssouveränität zählt, dass es kein akademisches, sondern ein populares Projekt ist, das von vielen verschiedenen sozialen und politischen Bewegungen aufgegriffen und weiterentwickelt worden ist. Keinem anderen Konzept ist es in den zurückliegenden 25 Jahren gelungen, als Grundlage für derart breite Mobilisierungen gegen eine konzerngetriebene, kapitalistische Globalisierung des Landwirtschafts- und Nahrungsmittelsektors zu dienen. Seine Stärke liegt darin, offen genug zu sein, um eine Vielzahl unterschiedlicher lokaler Kämpfe gegen die Privatisierung gemeinschaftlicher Ressourcen und die aggressive Expansion transnationaler Konzerne zu verbinden. Zugleich ist es schlagkräftig genug, um diese vielfältigen Gruppen zu gemeinsamen Aktionen etwa anlässlich von internationalen Gipfeltreffen oder Konferenzen zu mobilisieren. Außerdem haben es die Bewegungen für Ernährungssouveränität von Anfang an geschafft, sogenannte Einstiegsprojekte umzusetzen. Der Aufbau kollektiver Saatgutbanken in Mexiko und den Philippinen oder Landbesetzungen in Brasilien machen konkret fassbar, wie die Transformation und Demokratisierung der Ernährungssysteme aussehen könnte. Mit dem Konzept der Ernährungssouveränität ist es La Via Campesina und verbündeten Gruppen schließlich auch gelungen, Bündnisse mit solidarisch orientierten Milieus aus den urbanen Mittelschichten aufzubauen. Die Organisierung einer solch breiten Bewegung hat populare Zuspitzungen und Verallgemeinerungen zur Voraussetzung. Die zuweilen in Politik und Wissenschaft formulierte Kritik, Ernährungssouveränität lasse sich nicht ausreichend trennscharf definieren, mag stimmen. In der Praxis erwächst hieraus aber vielmehr eine Stärke, weil das Konzept erwiesenermaßen an konkrete Auseinandersetzungen und Situationen angepasst werden kann.
Dass es von Anfang an nicht nur ökonomisch und sozial, sondern auch aus ökologischer Perspektive eine Alternative zum Agrarkapitalismus verspricht, stellt eine weitere Stärke des Projekts dar. In kaum einem anderen Sektor als der Landwirtschaft wird so deutlich, dass gesellschaftliche Entwicklung immer schon Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur bedeutete. Der Agrarkapitalismus in seiner aktuellen Form zerstört seine natürlichen Grundlagen in jeder erdenklichen Weise: Mit fortschreitendem Artensterben schrumpft die Biodiversität, die Bodendegradation nimmt zu und in vielen Kernanbauregionen sinkt der Grundwasserspiegel stetig. Die mineralischen Ressourcen für die industrielle Düngerproduktion, insbesondere Phosphat, gehen zur Neige, die Treibhausgasemissionen steigen auch durch die industrielle Landwirtschaft rasant an. Aufgrund des hierdurch beschleunigten Klimawandels wird die Menschheit in den kommenden Jahrzehnten große Flächen nutzbaren Ackerlands unwiederbringlich verlieren. Vor diesem Hintergrund setzen sich Bewegungen, die sich auf Ernährungssouveränität berufen, zumeist ebenso für agrarökologische Produktionsweisen ein und versuchen, diese in der wissenschaftlichen Forschung stärker zu etablieren.
Eine Welt zu gewinnen
Auch wenn es sich bei Ernährungssouveränität nicht um ein wissenschaftliches Konzept handelt, das in den klimatisierten Büroräumen sozialwissenschaftlicher Forschungsinstitute ersonnen wurde, sondern um ein Bewegungskonzept, wirft es aus linker Perspektive einige Fragen auf.
Erstens: Inwiefern können bzw. müssen Kämpfe für Ernährungssouveränität Teil einer breiteren linken Transformationsbewegung sein? Das Konzept von people’s sovereignty weist mit seinem Bezug auf Territorialität Parallelen zu den Platzbesetzungsbewegungen des Arabischen Frühlings, der Indignados in Spanien oder zu Occupy Wall Street in den USA auf. Auch ist auffällig, dass in jüngerer Zeit nicht nur rechtspopulistische Akteure wie Le Pen oder Trump, sondern auch Podemos oder Bernie Sanders den Begriff der Souveränität verwenden und versuchen, ihn von links zu besetzen, das heißt gerade nicht im Sinne einer nationalstaatlichen »geschlossenen« Souveränität. In Spanien beispielsweise haben lokale Regierungen in Barcelona und Madrid die Macht von kommunalpolitischen Instrumenten entdeckt, um Fortschritte in der Wohnungspolitik zu erzielen und Migrant*innen besser zu unterstützen. Auch für die Bewegungen für Ernährungssouveränität stellt sich die Frage ihres Verhältnisses zu staatlicher Macht. Welche politische Macht soll lokale Ernährungssysteme stärken, eine Umverteilung von Land durchsetzen und die Macht transnationaler Konzerne brechen? Wird an konföderalistische Ansätze gedacht oder eher an Bündnisse zwischen Bewegungen und Staatsregierungen (wie etwa die Zusammenarbeit der Bewegung der Landlosen mit der ehemaligen Regierung der Arbeiterpartei in Brasilien)? Mit wem sollten die Bewegungen für Ernährungssouveränität auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene Bündnisse eingehen?
Zweitens gilt es, die Klassenverhältnisse im ländlichen Raum offensiver zu thematisieren, um progressive Bündnisse möglich zu machen. Die Bewegung für Ernährungssouveränität ist im globalen Maßstab im Wesentlichen eine Bewegung kleinbäuerlicher Akteure. Ihr Wirtschaften ist entweder durch einfache Reproduktion gekennzeichnet oder durch eine prekäre Kombination aus Eigenproduktion und Zuverdienst über Lohnarbeit. Letztere Form hat in den vergangenen Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen. Die vermeintlich klare analytische Grenze zwischen bäuerlichen Haushalten auf der einen und (besitzlosen) Landarbeiter*innen auf der anderen Seite existiert insofern nur bedingt. Diese Realität und auch das hierin steckende Potenzial werden von Vertreter*innen der Ernährungssouveränität bislang jedoch kaum thematisiert. Was Oliver Pye (2017, 528) in Bezug auf Südostasien beschreibt, ist weltweit gültig: »Die zahlenmäßige Bedeutung des Proletariats im Corporate Food Regime wie in den neuen Palmöllandschaften ist unbestreitbar. Millionen von ehemaligen Kleinbäuerinnen und -bauern oder Landlosen sind zu Lohnabhängigen auf den Palmölplantagen und in den Mühlen geworden.« Vertreter*innen des Konzepts Ernährungssouveränität müssen auch diese Kämpfe gegen Ausbeutung aufgreifen und verbindende Elemente zu den bäuerlichen Kämpfen herausarbeiten. Die Tatsache, dass sich unter dem Dach von La Via Campesina zunehmend auch Initiativen migrantischer Landarbeiter*innen etwa aus Mexiko und Spanien organisieren, deutet darauf hin, dass dieses Potenzial inzwischen erkannt wird.
»Unser Erbe und unsere Fähigkeiten, gute, gesunde und ausreichende Lebensmittel zu erzeugen, werden durch Neoliberalismus und einen globalisierten Kapitalismus zunehmend bedroht und untergraben. Ernährungssouveränität gibt uns aber die Hoffnung und die Macht, unser Wissen und unsere Fähigkeiten in der Lebensmittelerzeugung zu bewahren, wiederzugewinnen und zu entwickeln«, heißt es in der Erklärung von Nyéléni. In diesem Sinne ist die Zeit mehr als reif für Ernährungssouveränität. Das Konzept befindet sich in ständiger Weiterentwicklung und ist dabei inhaltlich umkämpft wie jeder Ansatz mit konkretem Veränderungspotenzial. Die politische Linke täte auch hierzulande gut daran, sich stärker mit dem Ernährungsregime und dem wachsenden globalen Widerstand dagegen zu befassen. Hier läge die Chance, Krisen und Widersprüche im globalen Norden – der Niedergang des ländlichen Raums, die mangelnde kulinarische Teilhabe von marginalisierten Gruppen, die Zerstörung der Umwelt – in einen globalen Zusammenhang zu stellen. Ernährungssouveränität als Transformationsprojekt kann Menschen im globalen Norden und im globalen Süden einen Gewinn an demokratischer Kontrolle und Gerechtigkeit versprechen. Nicht zuletzt ermöglicht es ein Sprechen über lokale Gemeinschaft und territoriale Verwurzelung »von links«.