Soweit ich mich erinnere, hatte ich mich auf das Jahr ’89 gefreut. Der Fahrerlaubnis näher zu kommen. Bald kein Kind mehr zu sein. Das nichts sagen darf. Was ich wirklich nicht erwartet hatte, war, im November des Jahres schamvoll auf der Rolltreppe eines Westberliner Warenhauses zu stehen.

Im falschen Stück gelandet. Lost in the Supermarket. In meiner Erinnerung wirkt das Gefühl der Deplatziertheit noch nach. Unvergesslich: die Entscheidungsparalyse angesichts endloser Regale mit nahezu identischen Produkten in unterschiedlichen Kartons. Alles riecht gleich intensiv. Nur Gemüse – das riecht nicht. Dabei wusste ich es besser. Schließlich hatte ich meine halbe Kindheit im HO-Gemüseladen des Vaters verbracht, zwischen Kohlrüben und Kartoffeln. Aber was nutzte einem diese Erfahrung nun? Und was war mit den Verkäufern in der Damenabteilung los? Hatten die noch nie einen Teenager gesehen, der nicht lächelt? 

Kurz vor dem Jahreswechsel 88/89 war ich 14 geworden. Auf Fotos von damals – Familie im Tierpark, Familie bei Feier, Familie im Urlaub – wirke ich verschüchtert. Mein Vater neigte zu rigiden Erziehungsmethoden. Seine Vorstellung davon, wie ein Mädchen zu sein habe, entsprach der seines kaisertreuen Großvaters. Ich teilte mir ein Zimmer mit dem sechs Jahre jüngeren Bruder und schrieb heimlich, mit der Taschenlampe unter der Bettdecke, Gedichte, die ich meist dem Weltfrieden oder ähnlich existenziellen Themen wie Vögeln, Wald und Freundschaft widmete. Glaube ich jedenfalls, denn diese Geheimnisse meiner Kindheit sind mit dem Land verschwunden, in dem sie stattfand. Sicher bin ich nicht die Einzige, deren Familie die Vergangenheit zu bewältigen suchte, indem sie sich in den folgenden Jahren ihrer schriftlichen politiZeugnisse entledigte. Aber wahrscheinlich haben andere wenigstens vor der dichterischen Produktion ihrer Kinder haltgemacht. Meine Großmutter jedenfalls erkannte meinen Kummer. Ohne Worte. Nur vom Sehen. So trat sie mir – als Geburstagsgeschenk – eine ihrer Dachstuben ab, die geräumigste. Ich besaß nun ein eigenes Zimmer. Das Jahr '89 ging alles in allem gut los. 

Im Februar, in Warschau hatten gerade Gespräche zwischen Vertretern der Regierung, der verbotenen Solidarność und der Kirche am Runden Tisch begonnen, durchquerte ich mit einer FDJ-Delegation die düster umwölkte Volksrepublik Polen auf Schienen. Wir hatten keine Ahnung von dem Aufbruch, der um uns herum längst stattfand. Hatten keine Ahnung von gar nichts. Bestaunten Elend und Mangel. Die Verwahrlosung in Ruinen, gegen die das eigene Land, die DDR, plötzlich heller erschien. Weniger kaputt. Doch immerhin gab es Westmusik auf den Schwarzmärkten zu kaufen, schlechte Raubkopien zwar, aber wir brauchten sie. Kauften sie. Hörten und tauschten sie. So ist das wohl mit 14. Normal auch, dass wir auf der Rückfahrt Michael Jackson aus dem Kofferradio hörten und nicht die Nachricht von Salman Rushdie, den eine BBC-Reporterin gerade auf der Beerdigung Bruce Chatwins über die gegen ihn verhängte Fatwa informierte. 

Im April, am Tag nach unserer Jugendweihe, wurde die polnische Gewerkschaft schließlich legalisiert. Kein Thema für uns. »Denn die Welt braucht dich genau wie du sie, die Welt kann ohne dich nicht sein. Das Leben ist eine schöne Melodie, Kamerad, Kamerad, stimm‘ ein!« So klang das Auftaktlied der Zeremonie. Die Bilder zeigen mich und meine Mitschülerinnen mit teilnahmslosen Blicken und hängenden Schultern. Eine Live-Band steht auf der Bühne des Kulturhauses. Zum Abschluss spielten die in weiße Dederon-Anzüge gekleideten Männer den Dauerbrenner »Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘.« Das Transparent zum 40. Republikgeburtstag bammelte hoch über der Bühne. »Mit uns zieht die neue Zeit!« Wo war ich in Gedanken? Was war meine Ferne? Neue Zeit? 

Auf die Klassenfahrt nach Bad Freienwalde brachte eine Mitschülerin ein Aufklärungsbuch mit. Allnächtlich vertieften wir uns darin, ließen manchmal Jungs ins Zimmer kommen, um die Dinge genauer zu ergründen, und besuchten im Gegenzug gruppenweise ihre Zimmer. Am Ende der Reise wussten alle Bescheid. 

Mitte August reimte Erich Honecker anlässlich der feierlichen Übergabe des 32-Bit-Mikroprozessors U80701: »Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.« Die besten Programmierer des Landes teilten sich derweil die wenigen leistungsfähigen Rechner zu viert und in größeren Gruppen. Auch wir saßen im Computerunterricht auf dem Gelände des VEB Mikroelektronik »Bruno Baum« gedrängt vor den Geräten und bejubelten eine von uns selbst programmierte pixelige Rakete, die über den Bildschirm des KC 85 flimmerte. Fortschritt hin oder her – das war interessant. Nicht die Worte alter Männer, die seit den Siebzigern in denselben Kleidern steckten. Die man sich nicht mehr als Kämpfer für oder gegen irgendetwas vorstellen konnte. 

Beim Fahnenappell zum Schuljahresende überreichte mir, der erfolgreichen Frühstarterin bei der Russisch-Olympiade, ein Vertreter der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft die Herder-Medaille in Bronze und einen Büchergutschein. Den tauschte ich für eine Kassette ein, die gerade frisch im Buchladen eingetroffen war: »Paule Panke – Ein Tag im Leben eines Lehrlings« von Pankow. Leerkassetten, auf deren Erwerb ich eigentlich gehofft hatte, gab es nicht. Die Instrumentalisten der Band hatten einmal Veronika Fischer begleitet, »die Verräterin«, wie meine Mutter sie nannte, weil sie »rübergemacht« hatte. Wie etliche Bekannte aus dem Umfeld meiner Eltern, über die einfach nicht mehr gesprochen wurde. Das Album war gerade erst durch die Zensur gekommen, das Programm schon sieben Jahre alt. Von alldem ahnte ich nichts, hörte stattdessen fasziniert den Trotz in der Stimme des Sängers. Die Wut und Lakonie, die in der Beschreibung eines Alltags lag, den ich allmorgendlich in den Gesichtern der Werktätigen lesen konnte und gerade erst im praktischen Unterricht selbst kennengelernt hatte, wo wir in fleckigen Kitteln an Bohrmaschinen und Fräsen hantierten, inmitten eines ruinösen Ziegelwerks, dessen monotone und schwere Verrichtungen die Körper der Arbeiterinnen und Arbeiter seit hundert Jahren zerstörte. Paule Panke war aufregend, aber nichts gegen die mir unvertraute Welt. Nach zweimaligem Durchhören brach ich den Überschreibschutz aus der Kassette und bespielte sie mit Depeche Mode, deren Ruhm gerade die Kinderzimmer der Provinzen flutete. Mit derselben Selbstverständlichkeit gehörte ich beim Republikgeburtstag zum Jubelvolk, trug meine Fackel durch die Straßen Ostberlins und war enttäuscht, als unser Zug vor der Haupttribüne umgeleitet wurde. Später saßen wir betrunken vorm SEZ und schauten anderen dabei zu, wie sie ihre FDJ-Hemden verbrannten. Und ein schmächtiger Junge, der aussah wie Billy Idol, pisste das Feuer wieder aus. 

Die Nachrichten von Massendemonstrationen bestimmten nun auch die Gespräche der Erwachsenen an den Bushaltestellen und in den Pausenräumen unserer kleinen Stadt. Die Vermeldung von Honeckers Rücktritt erreichte uns beim Abendessen in einer Dorfgaststätte zwischen Tierpark Eberswalde und Zuhause. Vom Mauerfall erfuhren wir erst mit einem Tag Verspätung. Das Nächste, an das ich mich erinnern kann, ist diese vollgestopfte Rolltreppe in Westberlin. Der Menschenstrom hatte uns dorthin mitgerissen. Dies war die wohl höchste Verdichtung von DDR-Bürgern, die ich jemals erlebt hatte. Nicht mal im Jubelzug zum Staatsjubiläum hatten die Leute einander gleichzeitig auf beiden Füßen gestanden. Die Geräuschkulisse war unmenschlich. Ochsen und Esel mit Raketen im Kopf. Von diesem Tag an gibt es in meiner Erinnerung nur noch Rauschen, Tränen, Jubelschreie. Schließlich tauchen die Ceauşescus in verwackelten Fernsehbildern auf, ein letztes Mal in ihren Gorki-Stück-Mänteln. Stille Nacht. Dann Schüsse. 

Dachte ich daran, als ich zu Jahresbeginn 1990 in der Arbeitsgemeinschaft Schießen das Gewehr auf die Zielscheibe richtete? Wohl kaum. Aber danach, beim Judo-Training im selben Übungsraum, bohrten sich die Munitionsreste so in die Füße, dass es weh tat. Noch im Laufe des Schuljahres wurde der Wehrunterricht abgeschafft. Nichtsdestotrotz errang unsere Mädchenmannschaft den letzten Bezirksmeistertitel am Großkaliber, der vergeben wurde. Die Siegerehrung, für die wir stundenlang auf einem Parkplatz bei Potsdam ausharren mussten, fiel schließlich aus. Es waren keine Medaillen mehr geprägt worden. Das sinnlose Warten hatte ein Ende. 

Aufgrund einer schweren Erkrankung meines Vaters verbrachte ich viel Zeit zu Hause und erlebte, wie sie in Kolonnen über die holprigen Landstraßen einfielen: Vertreter, Händler und Berater. Händeschüttler mit schweren Katalogen, Lexika, Staubsaugern, Versicherungen und Teppichen. So saßen sie in unserem Wohnzimmer. Einer nach dem anderen. Fremd in fremden Sachen und Gerüchen mit einstudierten Gesten und Merksätzen, vielen Worten, großen Worten, unbekannt und eckig. Und doch war es ihre Bühne. Unsere Couch. Nur unser Hund, der hasste sie gleich, die frisierten Herren. 

Jahrzehnte später sollte ich zwei ehemalige polnische FDJ-Funktionäre im Zug von Odessa treffen. Reiche Männer nun, die ihre erste Million mit dem An- und Verkauf gebrauchter Personalcomputer zwischen Westberlin und Moskau gemacht hatten. Wir verabschiedeten uns auf einer Rolltreppe des Warschauer Hauptbahnhofes. Sie fuhren nach oben. Neuen Geschäften entgegen. Den Skandinaviern, hatten sie gesagt, würde die Biomasse zum Betrieb moderner Kraftwerke ausgehen. Und lachend: »Wir machen aus Scheiße Gold.« Ich fuhr nach unten, wo mir das russische Zugpersonal den Zutritt zum gebuchten Liegeplatz im Nachtzug aus Moskau verwehrte. So stand ich im Gang bis Berlin. Umringt von Leidensgenossen. Blickte durch dreckige Scheiben. Draußen das Land, das keinem von uns gehörte. Dörfer zogen vorbei. In zeitloser Ödnis. Verfallen. Lagen geduckt im Schatten riesiger Werbewände. Seht ihr das? Sie spielen unser Stück. 

Sicher hat das Jahr ’89 alles verändert. Mein Gefühl der Fremdheit ist geblieben. Mit jedem weiteren Jahr, das vergeht, schrumpfen die Ereignisse von damals auf weniger Bilder zusammen. Auf eine einzelne Fahrt mit der Rolltreppe. Als Teil einer Masse. Im Warenhaus.