Die Diskussion um einen neuen Munizipalismus hat seit den spanischen Kommunalwahlen im Mai 2015 Fahrt aufgenommen, bei der sogenannte Bürgerplattformen erstmals Kandidat*innen für das Bürgermeisteramt und für die Stadtparlamente stellten. In zahlreichen Städten – darunter Madrid, Barcelona, Valencia, Zaragoza und La Coruna – sind diese neuen Bündnisse nun an der Regierung, in anderen bilden sie die stärkste Oppositionskraft. Zwei Momente sind entscheidend für diese Entwicklung: Das ist zum einen das Entstehen neuer politischer Kräfte im spanischen Staat. Die junge Partei Podemos ist in fast allen Städten Teil dieser Bündnisse und die sozialen Bewegungen dominieren seit dem 15. Mai 2011 die politische Szene. Darü- ber hinaus spielen eine Reihe übergreifender Faktoren eine Rolle: Dies ist die kapitalistische Finanzialisierung sowie die Bedeutung von kommunalen Austeritätspolitiken innerhalb des europäischen Krisenmanagements. Vor diesem Hintergrund ist die Erfahrung von Barcelona en Comù besonders spannend: Das Bündnis war nicht nur imstande, einschneidende Veränderungen in der politischen Imagination wie der politischen Realität anzustoßen, sondern hat außerdem der Frage alternativen Regierens auf kommunaler Ebene in ganz Europa neue Aufmerksamkeit verschafft (vgl. Zelik sowie Bruchmann/Candeias in diesem Heft).

Dass sich diese neue Politik ausgerechnet in Barcelona, einer der wichtigsten europäischen Städte, entwickelt, spricht für ihre Kraft. Metropolen sind heute der Raum gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion par excellence: durchzogen von Logistikzonen und Strukturen eines Plattform-Kapitalismus (Sascha Lobo), Orte, an denen neue Formen der Ausbeutung mehr als irgendwo sonst greifen, ideale Experimentierfelder eines neoliberalen Finanzkapitalismus, der qua Verschuldung, Schuldverschreibungen und Immobilienspekulation einen permanenten Angriff auf den gesellschaftlich produzierten Wohlstand darstellt.

Doch unsere Städte sind auch Orte des Widerstands und der Erfindung neuer Lebensformen. Es sind Orte, an denen neue soziale Konflikte, Formen der Kooperation und der unabhängigen Kultur entstehen. Den heutigen Metropolen kommt eine ähnliche Rolle zu wie der Fabrik in der vorhergehenden fordistischen Epoche: Sie sind Terrain von Auseinandersetzungen, Orte der Ausbeutung sowie des Widerstands, von Herrschaft sowie von Emanzipation, ein Schauplatz unauflöslicher Spannungen zwischen widerstreitenden gesellschaftlichen Kräften und Machtverhältnissen (vgl. Harvey 2012).

Städte unter europäischem Krisenregime

Diese Tendenz hat sich unter dem autoritären europäischen Krisenmanagement der letzten acht Jahre noch verstärkt. Sowohl die Finanzialisierung öffentlicher Schulden als auch die Austeritätspolitiken haben die Ebene der Kommunen ins Visier genommen. Seit den frühen 2000er Jahren erhielten Kommunalverwaltungen verstärkt Zugang zu Finanzprodukten und Derivatenmärkten, während ihnen staatliche Mittel stetig gekürzt wurden. Es kam zu einem exponentiellen Anstieg der Verschuldung – wobei diese eng an die Bewegungen der globalen Finanzmärkte gekoppelt war. Auch die erbarmungslose Anwendung innerstaatlicher Stabilitätspaktkriterien auf der kommunalen Ebene wird mit Ressourcenknappheit gerechtfertigt. Tatsächlich handelt es sich aber um die strukturelle Konsequenz einer europäischen Politik, die auf eine Kürzung staatlicher Ausgaben im Bereich öffentlicher Dienstleistungen, insbesondere der sozialen Daseinsvorsorge (als vermeintlich ›unproduktivem‹ Bereich) zielt (vgl. Wiegand in diesem Heft). Zu diesem neoliberalen Angriff gehören auch eine Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen in den Kommunen sowie der Verkauf oder besser gesagt der Ausverkauf von Vermögenswerten, die zuvor als öffentliche Güter galten, in denen sich ein über Jahrzehnte geschaffener gesellschaftlicher Reichtum materialisiert. Schaut man sich an, wie weitreichend die nationalen Staatshaushalte unter dem Diktat der Europä- ischen Zentralbank seit 2011/12 reorganisiert wurden, findet man diese Trends bestätigt.

Städtische Widerstandsbewegungen, die versuchen, Alternativen ›von unten‹ aufzubauen, sind insofern ein wichtiger Teil neuer sozialer Kämpfe, weil sie diesen Prozessen entgegentreten (vgl. Juncker et al. in diesem Heft). Wie andere Bürgerplattformen hat Barcelona en Comù es geschafft, diese Erfahrungen zu politisieren und zu verstärken, indem sie Teilbereiche verbunden und soziale Bewegungen und bürgerschaftliche Initiativen mit ›alten‹ und ›neuen‹ politischen Kräften zusammengeführt hat. Sie hat dies mit dem erklärten Willen getan, eine gesellschaftliche Mehrheit zu erringen und diese in eine Wahlmehrheit zu überführen. Sie wollte die Stadtregierung übernehmen, um echte Veränderungen anstoßen zu können.

Eine lange Geschichte von ›freien Städten‹

In der Diskussion um einen neuen Munizipalismus lohnt der Blick auf verschiedene historische Vorläufer. Hannah Arendt zeichnete in »Vita Activa« (1958) die altgriechische poleis geradezu als Paradigma städtischen Lebens. Die mittelalterlichen Städte in Italien und anderswo galten als Orte der Befreiung von Untertanenschaft – die Redewendung »Stadtluft macht frei« steht dafür – und die kleinen »Republiken zur Zeit der Königreiche« verfügten über ein gänzlich anderes Souveränitätsmodell. Später ist der Widerstand gegen Zentralisierungsprozesse interessant, wie er zur Zeit der Entstehung moderner Nationalstaaten charakteristisch war. Teils speiste er sich aus Überbleibseln des Ancien Régime, doch meist verbündete er sich mit der entstehenden Arbeiterbewegung. Dies war Gegenstand einer Auseinandersetzung zwischen Proudhon und Marx, wobei Letzterer später im Kontext der Pariser Kommune von 1871 zugestand, dass die Verbreitung von Kommunen in anderen Städten Frankreichs durchaus einen strategischen Vorteil innerhalb des revolutionären Prozesses hätte bedeuten können.

Und selbst innerhalb der Grenzen des spanischen Staates gibt es eine Tradition, die vom Denken Francesc Pi i Margalls (1863) ausgeht, einem katalanischenr Philosophen und Politiker. Mergall hatte ein föderalistisches Konzept entworfen, das auf einer Dezentralisierung der Verwaltung und bilateralen Abkommen zwischen den Kommunen beruht (vgl. Observatorio Metropolitano 2014).

In den 1990er Jahren lebte der munizipalistische Diskurs wieder auf. Bedeutend war der kommunalistische Entwurf von Murray Bookchin, der 1987 schrieb: »Die unmittelbare Absicht des libertären Munizipalismus ist es, die öffentliche Sphäre als Gegenentwurf zu einer zentralistischen Verstaatlichung stark zu machen und im wahrsten Sinne des Wortes ein Maximum an Demokratie zu ermöglichen; Institutionen zu schaffen, die den Bürger*innen zu politischer Macht verhelfen.« Nach Murray kann es keine Politik ohne Beteiligung der Community geben, wobei sein Konzept von Community eine freie Assoziation von Bürger*innen auf kommunaler Ebene vorsieht, deren wirtschaftliche Autonomie von Grassroots-Organisationen und von anderen Zusammenschlüssen gestützt und in regionalen Netzwerken organisiert wird.

Dem Aufstand der Zapatisten im Januar 1994 ist es zu verdanken, dass die politische Idee gemeinschaftlicher Selbstverwaltung Verbreitung erfuhr und im Kontext des Global Justice Movement genau die Argumente lieferte, die sowohl die lokalen partizipatorischen Prozesse in Lateinamerika unterstützten als auch die gegen imperialistische Tendenzen gerichteten Netzwerke wie das Forum of Local Authorities als Teil des Weltsozialforums.

Gemeinde, Kommune, Common-Wealth

Will man also einen neuen munizipalistischen Horizont eröffnen, braucht man einen föderalistischen Ansatz, der auf starken materiellen sozialen und egalitären Prinzipien fußt. Mit etwas Mut könnte man auch einfach sagen: Wir brauchen einen neuen Klassenstandpunkt. Auch lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Kommune (in ihrer Doppelbedeutung als ursprüngliche lokale Institution und als historisch-revolutionäres Beispiel) und der Idee der Commons herstellen. In der Commons-Debatte (vgl. u.a. Hardt/Negri 2010) ist Common die kollektive – von der Multitude betriebene – Produktion einer materiellen wie immateriellen Realität, die ihrer privaten oder öffentlichen Aneignung (z.B. durch den Staat) vorausgeht. Vor diesem Hintergrund müssen wir die Bedeutung von Demokratie theoretisch wie praktisch neu überdenken. Kurz gesagt, muss Demokratie heute als kollektive politische Entscheidungsfindung verstanden werden, als eine Entscheidung der Vielen über das ihnen Gemeinsame. Der neue Munizipalismus impliziert in diesem Sinne den Versuch, das Konzept und die Praxis von Demokratie neu zu erfinden.

In der Sprache von Barcelona en Comù heißt dies Bürgerprotagonismus, auch wenn der darin enthaltene Begriff der Staatsbürgerschaft (citizenship) nicht unproblematisch ist. Denn Staatsbürgerschaft selbst ist ein Moment von Differenzierung und Exklusion aus genau der Rechtssphäre, die man normalerweise mit Staatsbürgerrechten in Verbindung bringt. Ada Colau hat sich deshalb im Namen der Stadt Barcelona für die Gründung eines Netzwerkes von sogenannten »Shelter-Cities«, Zufluchtsstädten, eingesetzt. Mit dieser inklusiven Idee von Staatsbürgerschaft positionierte sie sich gegen die Abschottungspolitik der nationalen Regierung wie die der europäischen Institutionen.

Auch der Begriff Protagonismus verdient Beachtung. Es ist an der Zeit, sich von bestimmten ›partizipativen‹ Illusionen der globalen munizipalistischen Welle der frühen 2000er Jahren zu verabschieden. Beim Protagonismus geht es nicht um formalisierte Konsultationsprozesse, sondern darum was, wie und vor allem von wem entschieden wird. Diese Fokussierung auf die politische Entscheidung ist die eigentliche Errungenschaft der Bewegung der Plätze. Diesen unterschiedlichen Kämpfen gegen Ungleichheit ist es gelungen, den flottierenden Signifikanten von ›denen da oben‹ und ›denen da unten‹ mit sozialer Bedeutung zu füllen. Die Oligarchien haben kollektive Ressourcen und die Produktion des gesellschaftlichen Reichtums an sich gerissen. Und die munizipalistische Bewegung versucht, die Rhetorik der »99 Prozent gegen die ein Prozent« in eine konstitutive politische Praxis zu überführen, und zwar mit der Perspektive einer Transformation der Metropole und ihrer Institutionen, um »grundlegende Rechte und ein für alle Menschen lebenswertes Leben« zu sichern, und zwar auf der Grundlage einer »auf soziale und ökologische Gerechtigkeit aufbauenden Wirtschaft« – so heißt es in den Prinzipien von Barcelona en Comù.

Die iberischen Bürgerplattformen inspirieren europaweit ein Umdenken, das sich nicht mehr auf soziale und politische Praxen auf lokaler Ebene beschränken lässt. Dennoch wäre es falsch, von einem Modell zu sprechen. Barcelona ist eher ein exemplum in dem Sinne, dass es die herrschende Verteilung politischer Rollen infrage stellt. Der Geist dieses munizipalistischen Diskurses und die Auswirkungen, die er auf die politische Vorstellungskraft hat, sind imstande, jeglichen lokalen Kontext mit seinen spezifischen sozialen, politischen und institutionellen Dynamiken in ein ernstzunehmendes Laboratorium zu verwandeln.

Einer der häufigsten Fehler an solchen Punkten, ist es, analytische Modelle zu basteln, bei denen alles genau zusammenpasst. Von solchen Konstrukten ausgehend, wird dann die abstrakte Zentralität dieses oder jenes politischen Prinzips behauptet. Wir sollten uns hüten, die munizipalistischen Erfahrungen mit unserer gesamten Hoffnung auf einen fundamentalen Umschwung zu überfrachten – auch wenn Europa diesen sicherlich nötig hätte, um es vor völliger Desintegration zu schützen. Und trotzdem sind diese Erfahrungen ein wichtiges Gegenmittel gegen die gefährliche Rückkehr der Nationalismen. Sie sind ein Experimentierfeld für innovative Praktiken eines Bürgerprotagonismus und können zur Wiederherstellung des sozialen Gefüges beitragen, welches nach vier Jahrzehnten neoliberaler Politik ziemlich mitgenommen ist. Wollen wir allerdings Demokratie und soziale Gleichheit in Europa wirklich auf die politische Agenda setzen, müssen wir uns an eine MehrEbenen-Logik herantrauen und von der Theorie des »gesellschaftlichen Konstitutionalismus« lernen (Joerges et al. 2004). Um die dramatische Asymmetrie innerhalb der derzeitigen Machtverhältnisse umzukehren, müssen Kräfte gebündelt und eine Vielzahl von Initiativen artikuliert werden. Deshalb geht es beim neuen Munizipalismus auch nicht darum, im ›kleinen Rahmen‹ zu arbeiten, darum, dass Initiativen ›von unten‹ dort leichter einen Zugang finden als auf der nationalen und transnationalen Ebene. Auch wenn der Ansatz teils durchaus nach einer Rhetorik des »klein, aber fein« klingt oder nach der lokalistischen Ideologie der »kleinen Vaterländer«.

Grenzen des Munizipalismus überwinden

»Wahlen zu gewinnen ist nicht das gleiche wie eine Stadt zurückzugewinnen« (Shea Baird, 2015). Regierung und Macht sind zwei verschiedene Dinge, auch wenn ein neuer Regierungsansatz vielleicht in der Lage ist, die Fallen einer repräsentativen Logik zu vermeiden. Die Krise der politischen Repräsentation ist ernst und irreversibel. Zentral ist hier das gespaltene Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie. Die Bürgerplattformen haben die spanischen Kommunalwahlen mit einer klaren Botschaft gewonnen: Es geht ihnen nicht darum, »die Kämpfe zu repräsentieren«, sondern stattdessen darum, die Stadt selbst zu regieren und dabei echte Veränderungen herbeizuführen.

Dies ist nur möglich, wenn es gelingt, eine Dialektik offenzuhalten zwischen konstituierenden und konfliktorientierten Dynamiken gesellschaftlicher Mobilisierung auf der einen Seite und kreativen und öffnenden institutionellen Praktiken (innerhalb der konstituierten Macht) auf der anderen. Ein solcher Prozess wird aber notwendigerweise an die internen und externen Grenzen stoßen, mit denen selbst die radikalste und innovativste lokale Erfahrung konfrontiert ist. Denn inmitten des dichten Geflechts aus wirtschaftlichen und sozialen, medialen und politischen Verhältnissen, die das Leben der Metropole durchziehen, stellt sich die Frage der Machtverhältnisse. Jede Entscheidung einer Stadtverwaltung wird von rechtlichen und institutionellen, finanziellen und ökonomischen Restriktionen beeinflusst. Daraus ergibt sich eine zentrale Herausforderung: Gegen jede lokalistische Versuchung müssen wir diese Beschränkungen angehen und dazu Netzwerke rebellischer Städte aufbauen (wie Gerardo Pisarello sie in Bezug auf David Harvey so trefflich nennt). Städte, die in der Lage sind, produktive Verbindungen zwischen Kämpfen und sozialen Bewegungen, aber auch mit transformationsorientierten politischen Parteien aufrechtzuerhalten, und zwar auf nationaler Ebene sowie in Bezug auf die noch entscheidenderen transnationalen Aktivitäten in Europa und im Mittelmeerraum. Die Verlagerung der Souveränität von oben nach unten, von den Institutionen hin zu den Bürger*innen, ist notwendige Voraussetzung, um Räume zu öffnen, in denen man ein demokratisches, von unten kommendes Souveränitätsmodell installieren kann. Nur so können wir ein sprunghaftes Umschwenken von Enthusiasmus zu Desillusionierung und von Euphorie zu Depression vermeiden.

Aus dem Englischen von Svenja Bromberg