8 Minuten, 46 Sekunden. Das Zeitintervall hat inzwischen weltweit traurige Berühmtheit er­langt. Fast neun Minuten lang hat der Polizist Derek Chauvin am 25. Mai 2020 sein Knie gegen den Hals von George Floyd gepresst. Der Mord löste in den USA und weltweit erneut große Proteste gegen Polizeigewalt und systemischen Rassismus aus. Doch die polizeiliche Gewalt vor allem gegen Schwarze Amerikaner*innen geht ungebremst weiter. Allein in den vier Monaten seit Floyds Tod töteten US-amerikanische Polizeibeamt*innen nach der Zählung der Organisation Mapping Police Violence 349 Menschen, darunter weit überproportional viele Schwarze Menschen. Diese brutalen Erscheinungsformen staatli­cher Gewalt und die anhaltenden Demons­trationen der Black-Lives-Matter-Bewegung haben überfällige Diskussionen zu Polizei und Staatsgewalt hervorgerufen. Sie werfen erneut die grundsätzliche Frage auf, wie Staatsgewalt eigentlich zu verstehen ist und ob die in der historischen Soziologie gängige These ihrer zunehmenden Rationalisierung durch solche Gewaltexzesse empirisch entkräftet wird.

Moderne Staatsgewalt nach Weber

In der zeitgenössischen bürgerlichen Staats- und Gesellschaftstheorie wird staatliche Gewalt üblicherweise in Weber’schen Katego­rien erfasst. Demnach gilt staatliche Gewalt als Möglichkeit, Zwang auszuüben und so eine gesetzlich verfasste Ordnung durchzusetzen. Dieses Verständnis von Staatsgewalt ist ein fundamentaler Ausgangspunkt der Sozialwis­senschaften und gesellschaftlich weitgehend unumstritten. Max Webers klassische Definiti­on, dass der Staat die Gemeinschaft bezeichne, »welche innerhalb eines bestimmten Gebietes […] das Monopol legitimer physischer Ge­waltsamkeit für sich mit Erfolg beansprucht«, fehlt wohl in keiner Einführungsvorlesung der Sozial- und Politikwissenschaften (Weber 1919, 4). In diesem Sinne wird Gewalt als Durchsetzungsmittel verstanden, um Geset­zesbrüche und Unordnung zu ahnden sowie die Unversehrtheit der staatlichen Ordnung zu garantieren oder wiederherzustellen.

In der rechtsstaatlichen Perspektive ist Staatsgewalt dann legitim, wenn sie von staatlich autorisierten Beamt*innen in deren offizieller Funktion zum Zwecke der Durchsetzung der gesetzlichen Ordnung, der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und des sozialen Friedens ausgeübt wird, und zwar rechtmäßig und verhältnismäßig. Normalerweise bedeutet dies, dass physische Gewaltsamkeit nur als Selbstverteidigung oder zum Schutze anderer gegen eine unmittel­bare Bedrohung von Leben und Gesundheit gerechtfertigt ist, und selbst dann nur, wenn keine anderen Mittel zur Verfügung stehen (vgl. UN Human Rights 1990). Anders ausge­drückt: Staatliche Gewaltsamkeit ist nur als Gegengewalt gerechtfertigt und nur als letzter Ausweg (vgl. Balibar 2010). Exzessive und disproportionale Gewalt sowie arbiträre oder missbräuchliche Praktiken, die grundlegende Menschenrechte verletzen, sind unrecht, sowohl von ihrem Wesen wie auch mittelbar, indem sie die Legitimität und die moralische Geltung des Staates infrage stellen.

Die Aussagekraft des Weber’schen Staats­begriffes hängt maßgeblich daran, dass er den Staat soziologisch-deskriptiv und (zumindest vordergründig) nicht normativ beschreibt, dass es also nicht um die Zwecke geht, die der Staat verfolgt, sondern um das ihm spezifische Mittel, nämlich die physische Gewaltsamkeit. Es spielt also keine Rolle, ob der Staat Gerech­tigkeit anpeilt wie bei Platon, Glück – wie es Aristoteles vorschwebte – oder Frieden wie bei Hobbes. Der Clou an Webers Definition ist, dass der Staat instrumentell erfasst wird, durch seine alleinige Fähigkeit, legitime Gewalt auszuüben. Nun ist aber ironischer­weise bei Weber wie auch in großen Teilen der gegenwärtigen Staats- und Gesellschafts­theorie der entscheidende Gewaltbegriff komplett unterbestimmt. Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit wird vorausgesetzt, dass die Handlungs- und Erfahrungsstrukturen staatlicher Gewalt einem einfachen Zwangs­modell folgen. Dieses Zwangsmodell zeichnet sich durch eine dyadische Struktur aus: Es nimmt eine soziale Handlungssituation an, in der staatliche Funktionäre die öffentliche Ordnung durch unmittelbaren Zwang oder glaubwürdige Drohungen durchsetzen. Die Durchsetzungskraft staatlicher Gewalt liegt also in der frontal ausgeübten Zwangsmaß­nahme oder ihrer Androhung. Das zugrunde liegende Muster ist das eines Duells: ein Kräftemessen zweier Widersacher, auf dessen Höhepunkt einer den anderen besiegt.

Staatsgewalt als Spektakel

Nun trifft aber dieses Schema die tatsäch­lichen staatlichen Gewaltpraktiken nur teilweise und lässt wichtige Aspekte aus dem Blickfeld verschwinden. Das Zwangsmodell erklärt Staatsgewalt nur eingeschränkt, da ein bedeutsamer Teil staatlichen Gewalthandelns nicht dem dyadischen Muster entspricht. Zusätzlich zur Zwangslogik weist Staatsgewalt eine zweite Grammatik auf, die ich exempla­risch im Rückgriff auf Niccolò Machiavellis Gewalttheorie entwickeln möchte. Für den Florentiner operiert Staatsgewalt nicht primär dyadisch, sondern triadisch. Im Gegensatz zum Zwangsparadigma funktioniert sie nicht, indem ein Akteur durch physische Nötigung dazu gezwungen wird, gegen seinen Willen zu handeln, sondern auf der symbolischen Ebene, indem öffentliche Effekte für einen Dritten – das Publikum – produziert werden. Das klassische Beispiel ist die öffentliche Hinrichtung, deren detaillierte Inszenierung darauf angelegt ist, symbolisch und somit kommunikativ zu wirken. In seinen politi­schen Hauptwerken beschreibt Machiavelli die Wirkungsmacht politischer Gewalt und untersucht deren dramaturgische Gestaltung. Dabei zeigt er, wie das Spiel mit Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit diverse kommunikative Effekte produziert.

Diesem kommunikativen und symbo­lischen Aspekt der Staatsgewalt wird in der politischen Soziologie nicht angemessen Rechnung getragen. Dies hat wohl zwei Ur­sachen: erstens, der überragende Stellenwert von Webers Staatsdefinition, deren Grenzen ich oben bereits skizziert habe; zweitens, der Konsens in der historischen Soziologie von Max Weber über Norbert Elias bis Michel Foucault, der die theatralische Aufbereitung von Gewalt als archaisches Relikt des Ancien Régime interpretiert. So zählt Foucault die inszenierte Hinrichtung und das Kalkulieren von Pein und Qual in der Folter zu den Machttechniken des Absolutismus, während die Staatsgewalt bei Weber durch die moderne Bürokratie und die staatlichen Kontroll- und Durchsetzungsapparate rationalisiert wird.

Zur Gegenwärtigkeit exzessiver Staatsgewalt

Gegen dieses Bild, das exzessive Staatsgewalt allein in einer archaischen Vergangenheit verortet, kann argumentiert werden, dass vor allem Polizeigewalt weiterhin stark von theat­ralischen Formen und Figuren des Spektakels geprägt ist. Dies lässt sich am Beispiel der Polizeimorde von unbewaffneten Schwarzen US-Amerikaner*innen eindrücklich zeigen. Die aus den internationalen Medien bekann­ten Namen der Opfer bilden dabei nur die Spitze des Eisbergs: Trayvon Martin, Teenager aus Florida, der vom Bürgerwehrler George Zimmerman erschossen wurde; Eric Garner, der von einem Polizeibeamten in New York erwürgt wurde und dessen Worte »I can’t breathe« immer noch widerhallen; Michael Brown, dem in Ferguson, Missouri, in den Rücken geschossen wurde; der zwölfjährige Tamir Rice, von der Polizei in Cleveland erschossen; Freddie Gray, in einem Polizeiwa­gen in Baltimore getötet; bis zum erstickten George Floyd in Minneapolis.

Auch wenn Polizeimorde in den USA besonders grassieren – dort tötet die Polizei an einem Tag mehr Menschen als die Polizei der meisten demokratischen Rechtsstaaten in einem Jahr –, wäre es falsch, sie als ein spezifisch US-amerikanisches Phänomen zu betrachten. Im Mai 2018 ermordeten Polizis­ten im indischen Bundesstaat Tamil Nadu 13 unbewaffnete Demonstranten, als sie in eine Menschenmenge schossen. Im europäischen Kontext ist etwa der Fall von Adama Traoré zu erwähnen, der 2016 in Polizeigewahrsam in Paris starb, oder der noch immer unge­klärte Tod durch Verbrennung von Oury Jalloh vor 15 Jahren in einer Polizeizelle in Dessau (vgl. Bangel 2020). Das Dossier »Tödliche Polizeischüsse« der taz analysiert tödliche Schusswaffeneinsätze von 1990 bis 2017 und kommt zu dem Schluss, dass in Deutschland alle fünfeinhalb Wochen jemand von Polizist*innen erschossen wird (Peter/Bednarczyk 2017). Auch nicht-lethale Formen exzessiver Polizeigewalt zeigen, wie schwierig, vielleicht gar unmöglich es ist, polizeiliche Gewalt zu kontrollieren und einzuhegen. So wurden im Mai 2019 italienische Polizeibe­amte dabei gefilmt, wie sie Stefano Origone, einen Journalisten der Zeitung La Repubblica, verprügelten. In Frankreich hat der exzessive Gebrauch von Tränengas und Gummigeschos­sen gegen die Bewegung der Gelbwesten zu ernsten Verletzungen geführt. Für Deutsch­land geht der Kriminologe Tobias Singelnstein von mindestens 12 000 Fällen ungerecht­fertigter Polizeigewalt pro Jahr aus, die meisten davon nie angezeigt oder untersucht, geschweige denn strafrechtlich verfolgt. Diese Dunkelziffer weist auf die Unzulänglichkeit der rechtsstaatlichen Aufarbeitung polizeili­cher Gewalt und damit auf das Spannungsfeld zwischen Rechtsstaatlichkeit und exekutiver Gewalt hin (vgl. Vitale 2017; Loick 2012, 2018; Neocleous 2000).

Vor dem Hintergrund solcher Zahlen muss sich die politische Soziologie fragen lassen, ob die These der Gewaltrationalisie­rung diese Entwicklungen erklären kann. Laut dieser These geht mit dem Rationalisierungs­prozess des Staates und der Bürokratie in der politischen Moderne eine Reduktion von Gewaltsamkeit sowie das Verschwinden von Grausamkeit einher. Die Häufung der Fälle von Polizeigewalt legt aber nahe, was auch gesellschaftskritische Stimmen in den USA behaupten: dass es sich nicht um einzelne Entgleisungen handelt, sondern dass eine gewisse Systematik im Spiel ist. Dass Polizei­gewalt eine konstitutive Rolle in der Reproduk­tion von rassistisch organisierter Ungleichheit spielt, ist keine Neuigkeit. Schon James Baldwin (1966) hat auf die performative Rolle der Polizei hingewiesen, und viele radikale Kritiker*innen, von Stuart Hall (1978) bis zu Angela Davis (2003, 2018), Michelle Alexander (2012) und Alex Vitale (2017), haben zeitge­nössische Formen der polizeilichen Arbeit mit der Geschichte von Sklavenfängern, mit Lynchmorden, mit der Unterdrückung von Migrant*innen, mit der school-to-prison pipeline und mit der Kriminalisierung der Obdachlo­sigkeit in Verbindung gebracht.

Exzessive Gewalt als konstitutiver Bestandteil moderner Herrschaft

Mit Rückgriff auf Machiavellis theatralische und kommunikative Gewaltanalyse, derzu­folge Gewalt ihre Wirkungsmacht dadurch entfaltet, dass sie ein bestimmtes Publikum adressiert, lassen sich diese Exzesse der Staatsgewalt als Komponenten einer gewissen Logik erfassen. Die Polizeimorde sind nicht Entgleisungen des staatlichen Gewaltapparats, denn dieser wird nicht mehr anhand des dya­dischen Zwangsmodells konzipiert, sondern nach dem triadischen Muster der kommunika­tiven Gewalt. Mithilfe dieses Schemas lassen sich Gewaltexzesse wie die polizeiliche Tötung von unbewaffneten Afroamerikaner*innen als Teile eines Funktionszusammenhangs denken, der darauf hinausläuft, kulturelle Skripte über Rasse, Klasse und Ethnizität zu reproduzieren und Gewalt gegen Schwarze Menschen zu normalisieren. Es geht hierbei nicht um eine Verschwörungstheorie, derzufolge die Polizei vorsätzlich rassifizierte Menschen tötet, sondern um eine funktionale Logik, in der Momente polizeilicher Brutalität, unabhängig von der jeweiligen Motivation der individu­ellen oder kollektiven Akteure, strukturelle Herrschaftsformen reproduzieren – inklusive entsprechender Bilder und Erwartungsmuster. Diese These, dass exzessive Gewalt funkti­onal für die Reproduktion herrschaftlicher Ordnung ist, findet sich in moderner Form auch bei Frederick Douglass (1855). In seiner Analyse der amerikanischen Sklaverei zeigt Douglass, dass die brutale öffentliche Züchti­gung von Sklaven nicht nur dazu dient, diese in permanenter Angst zu halten, sondern auch die gesellschaftliche Ordnung als Rassenordnung reproduziert, die wiederum die spezifische Form der Besitzsklaverei ermöglicht. Mit Bezug auf die Situation in den USA kann diese Argumentation dahingehend erweitert werden, dass exzessive Polizeigewalt rassifizierte Menschen als zweitklassig und entbehrlich produziert. Hierauf nehmen der Slogan Black Lives Matter und das Movement for Black Lives (M4BL) unmittelbar Bezug.

Um diese Funktion staatlich ausgeüb­ter – wenn auch nicht offiziell autorisierter – Gewaltsamkeit zu verstehen, muss exzessive Brutalität als Bestandteil des staatlichen Gewaltmonopols berücksichtigt werden. Demnach erfasst das Weber’sche Zwangsmo­dell staatliches Gewalthandeln nur unvollstän­dig und muss ergänzt oder revidiert werden. Dies ist aber nicht ohne ein grundsätzliches Infragestellen der Weber’schen Kategorien zu leisten. Denn die offiziell desavouierten Gewaltexzesse staatlicher Akteure lassen sich weder mit dem Begriff der legitimen Ge­waltsamkeit noch mit dem der erfolgreichen Monopolisierung unter einen Hut bringen. Da diese Formen exzessiver Gewalt konsti­tutiv für die Reproduktion herrschaftlicher Ordnung sind, können sie nicht einfach als kriminell abgewickelt werden. Diese Einsicht hat weitreichende Folgen für die Kritik und Bekämpfung von Polizeigewalt. Einerseits kann auf die Forderung nach einer Poli­zeireform mit rechtsstaatlichen Verfahren zur Aufarbeitung polizeilicher Brutalität, Schulungsmaßnahmen etc. nicht verzichtet werden. Andererseits muss klar sein, dass weder Sensibilisierungsworkshops noch Verfassungsnormen die Grundproblematik der Polizeigewalt lösen können, da beide der Idee einer rationalisierten Rechtsgewalt verhaftet bleiben. Eine kohärente Kritik der Rechtsgewalt ist, wie Walter Benjamin (1921) schon vor fast 100 Jahren gezeigt hat, ohne eine grundsätzliche Herrschaftskritik nicht zu bewerkstelligen.