Frankreich erlebt aktuell wieder bewegte Zeiten. Wie es unter der Präsidentschaft Emmanuel Macrons seit 2017 üblich geworden ist, hat sich die Anzahl sozialer Kämpfe deutlich erhöht. Nicht alle nehmen ein derartig großes Ausmaß an, dass sie über Frankreich hinaus Beachtung finden. Die aktuellen Streiks und Proteste gegen die geplante Rentenreform allerdings, mit der das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre erhöht werden soll, überstrahlen aufgrund ihrer Länge und Intensität selbst die weit rezipierte Gelbwestenbewegung. Beide Bewegungen sollten jedoch nicht getrennt voneinander betrachtet werden, vielmehr stehen sie in einer Kontinuitätslinie. Hatten schon die Gelbwesten offensiv die unsoziale Politik Macrons kritisiert, geht nun auch das restliche Frankreich auf die Straße. Der Präsident und sein politisches Umfeld sind sich dieser Problematik bewusst. Dennoch, so scheint es, will man diese letzte Schlacht gegen die Zivilgesellschaft schlagen, um endgültig freie Hand für einen weiteren radikalen Umbau des französischen Wirtschafts- und Sozialmodells zu haben. Schon der Umgang mit den Gelbwesten und die demokratietheoretisch betrachtet höchst fragwürdigen Möglichkeiten der Exekutive, ohne jede politische Mehrheit regieren zu können, ließen die Wut vieler Französ*innen jedoch wachsen und mehr und mehr die Legitimität des Präsidenten und der von ihm eingesetzten Premierministerin Élisabeth Borne infrage stellen.

Macrons Arroganz heizt die Stimmung an

Zwar konnte sich Macron zweimal in der Stichwahl gegen die Kandidatin des ultrarechten Rassemblement National durchsetzen, doch wurde Marine Le Pen von vielen Wähler*innen nicht als wirkliche Alternative betrachtet, sondern weckte eher Ängste. In der letzten Legislaturperiode (2017-2022) reichte es Macron und seinem Lager noch für eine klare Mehrheit im französischen Parlament. Ohne jede tiefgreifende Debatte über seine „Reformen“ wurden so zum Beispiel in größter Eile weite Teile des Arbeitsrechts dereguliert, die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Gewerkschaften geschwächt, das Bildungssystem umgebaut sowie der Bezug von Arbeitslosengeld deutlich erschwert. Das Parlament segnete zudem weitreichende Steuersenkungen für Großunternehmen und Vermögende sowie die Umwandlung der Staatsbahn SNCF in ein privatrechtliches Unternehmen ab. Der gesamte öffentliche Verkehr wurde für den privaten Wettbewerb geöffnet, was für die dort Beschäftigten deutliche Lohnsenkungen und eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zur Folge hatte. Gleichzeitig haben besonders die Energiekonzerne in der letzten Zeit Rekordgewinne eingefahren und einzelne Minister*innen der Macron-Regierung, die zur Hälfte aus Millionär*innen besteht, profitieren beträchtlich von ihren Unternehmensbeteiligungen. Bereits die extrem repressive Politik in Frankreich während der Covid-Pandemie, vor allem die strikten Ausgangssperren, die penibel kontrolliert worden waren, hatte scharfe Kritik aus allen Fraktionen der Gesellschaft hervorgerufen. Macron begegnet dieser Kritik jedoch immer wieder in abschätziger Weise und versucht, seine politischen Gegner*innen als reformunwillig und bösartig darzustellen.

In diese Kerbe schlug er erneut in einem TV-Interview vom 22. März, als er all jene, die seit dem 19. Januar an den bereits zehn „Aktionstagen“ der Gewerkschaften teilgenommen haben, in die Nähe von Faschisten und Querulanten rückte. Die „Masse“, so Macron, habe keinerlei Legitimation, die Politik der Regierung und Behörden infrage zu stellen. Dieses Recht stehe nur den Abgeordneten der Nationalversammlung zu. Für Macron existiert also kein Recht der Bürger*innen auf direkte politische Intervention. All die theoretischen Rechtfertigungen des „Macronismus“ werden endgültig zur Farce, wenn man sich klarmacht, dass selbst die gewählten Volksvertreter*innen bei entscheidenden Fragen völlig machtlos sind. Obwohl das Macron-Lager bei den Wahlen im Juni des vergangenen Jahres deutlich eine parlamentarische Mehrheit verpasste, ermöglichen es Sonderregelungen der Verfassung der V. Republik, die im Wesentlichen der damalige Staatspräsident de Gaulle in den späten 1950er-Jahren durchgesetzt hatte, der Regierung, am Parlament vorbei zu regieren.

So ließ Macron bereits kurz nach der Wahlniederlage seines Parteienbündnisses die übrigen Fraktionen wissen, dass diese sich den politischen Vorstellungen seines Lagers zu beugen hätten und keiner Verhandlungen und Zugeständnisse bei wichtigen Punkten zu erwarten seien. Grundlage dafür ist Artikel 49.3 der französischen Verfassung. Dieser erlaubt es der Regierung, die Wirtschafts- und Sozialpolitik betreffende Gesetze per Dekret umzusetzen, das heißt ohne parlamentarische Abstimmung. Dagegen hilft nur ein Misstrauensvotum, um die Regierung zu stürzen, was in der Geschichte der Republik freilich erst ein einziges Mal gelang. Das Macron-Lager hatte bereits den Haushalt 2023 per Dekret durchgesetzt, da der Präsident und seine Premierministerin nicht einmal zu Kompromissen gegenüber den nationalkonservativen „Republikanern“ bereit waren. In der ersten Parlamentssitzung 2023 erklärten sie dann das Rentengesetz zu einem haushaltsrelevanten Gesetz nach Artikel 47.1 der Verfassung, was es der Regierung ermöglicht, den Zeitraum der parlamentarischen Debatte in den Ausschüssen und im Plenum strikt zu begrenzen. Auch das verhinderte eine angemessene Auseinandersetzung sowie eine ordentliche Beschlussfassung. Im Oberhaus des Parlaments, dem Senat, bezog sich die Regierung dann noch auf Verfassungsartikel 44.1 und ließ deren Mitglieder nur noch über den Gesetzesentwurf der Regierung und bereits eingearbeitete kleinere Änderungen abstimmen. Noch nie zuvor hat eine französische Regierung in der V. Republik derartig viele Verfahrenstricks angewandt, um einen umstrittenen Gesetzesentwurf in kürzester Zeit durchzupeitschen.

Macron, der seinen Gegner*innen gern unterstellt, „Putschisten“ zu sein, und sich darin gefällt, sich als Bewahrer der Französischen Republik zu inszenieren, agiert in Wirklichkeit als ihr größter Feind. Zu argumentieren, der Staat sei eine unantastbare Institution und die Bürger*innen hätten sich ihm einfach unterzuordnen, ist postdemokratisch. Schon seine erste Amtszeit hatte sich durch etliche neue Gesetze ausgezeichnet, mit denen es unter anderem für den Staat einfacher geworden ist, unliebsame politische Gruppen und Vereine zu verbieten. Zudem wurden die Kompetenzen der Polizei weiter ausgebaut. Bereits das Vorgehen der Polizei gegen die Gelbwesten war nach Einschätzungen vieler Beobachter*innen äußerst brutal und nahm zahlreiche Verletzte in Kauf. Nun sehen wir eine ähnliche Entwicklung. Seitdem sich die Protestbewegung gegen die Rentenform radikalisiert hat – dies hat mit der expliziten Weigerung Macrons zu tun, trotz der Massen auf der Straße das Gespräch mit den Gewerkschaften und einen politischen Kompromiss zu suchen – und sich nach der Farce im Parlament (eine verfassungsrechtliche Prüfung des Gesetzes steht noch aus) mehr und mehr Jugendliche dem Protest angeschlossen haben, reagiert die Bereitschaftspolizei erneut mit unverhältnismäßiger Gewalt. Die eigentlich legalen Spontandemonstrationen, die überall im Land seit dem 16. März (dem Tag der Verabschiedung der Rentenform im Parlament) stattfinden, werden vielerorts kriminalisiert und behindert. Seit Mitte März kam es zu weit über 1.000 Verhaftungen. Betroffene berichten von physischen und psychischen Schikanen polizeilicher Greiftrupps, Bruchverletzungen und offene Wunden sind keine Seltenheit.

Den demonstrierenden Schüler*innen und Student*innen geht es nur zum Teil um die Rentenreform. Dass die Macron-Regierung Artikel 49.3 der Verfassung nutzt, um sich über demokratische Prinzipien hinwegzusetzen, steht für sie für eine insgesamt autoritäre Entwicklung in Frankreich. So haben junge Menschen in Frankreich besonders unter der Corona-Pandemie gelitten: zum einen unter sozialer Isolation infolge eines mit großer staatlicher Härte durchgesetzten Ausgangsverbots, zum anderen unter den wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns. Die Mehrheit der Student*innen hat in dieser Zeit von staatlicher Seite keinerlei finanzielle Unterstützung erfahren. Das empört die junge Generation. Hinzu kommt die Angst von Schüler*innen, durch den inzwischen erschwerten Zugang zum Hochschulstudium einer guten beruflichen Perspektive beraubt zu werden. Die allgemeinen Bewerbungen finden inzwischen über eine Onlineplattform statt, und wenig ist über die Kriterien bekannt, nach denen die Zuteilung der Studienplätze erfolgt. Vieles deutet aber darauf hin, dass die soziale Herkunft ein entscheidender Faktor ist. Aktivist*innen aus dem Umfeld von La France insoumise, insbesondere der ehemalige Schülergewerkschafter und jetzige Parlamentsabgeordnete Louis Boyard, haben diese Ängste aufgegriffen und kanalisiert. Sie sind in den vergangenen Wochen (und Monaten) viel im Land umhergereist und haben auch Universitäten und Schulen in Regionen des „bodenständigen“ Frankreichs besucht. Auch trotzkistische Gruppierungen spielen eine Rolle bei der Mobilisierung der jungen Generation.

Eine ungewohnt geeinte Gewerkschaftsbewegung koordiniert die Proteste

Zentraler verbindender Akteur der sozialen Proteste bleiben aber die Gewerkschaften. Dass sich sämtliche Gewerkschaftsverbände zusammengefunden haben und gemeinsam agieren, ist eine Art politische Sensation. Denn die soziale Zusammensetzung ihrer Basis und die Zielsetzung ihrer Funktionäre unterscheiden sich doch in mancherlei Hinsicht. So versteht sich die Confédération générale du travail (CGT) im Kern als eine klassenkämpferische Organisation, die eine grundlegende soziale und wirtschaftliche Transformation der Gesellschaft anstrebt. Inzwischen grenzt sie sich aber offiziell von der Kommunistischen Partei ab, mit der sie über Jahre symbiotisch verbunden war. Man sieht sich weiterhin dem Geist der berühmten „Erklärung von Amiens“ 1906 verpflichtet, mit der sich die damals noch mehrheitlich anarchistische CGT von der jungen parteiförmigen Linken distanzierte und eine Überwindung der Kapitalismus durch Generalstreiks forderte. Bis heute vertritt eine Mehrheit der Mitglieder der CGT den Ansatz, dass die Bereitschaft zur Konfrontation mit dem Arbeitgebern Grundlage jedweder Gewerkschaftsarbeit sein muss, dass also nur über militante Streikaktionen und aus einer Position der Stärke heraus die Gegenseite zu Zugeständnissen gezwungen werden kann.

Völlig anders sieht das die ähnlich mitgliederstarke, früher einmal christlich ausgerichtete und heute der Sozialdemokratie nahestehende Confédération française démocratique du travail (CFDT). Sie definiert sich als sozialpartnerschaftlich und pragmatisch orientierte Gewerkschaft und lehnt Massendemonstrationen und Streiks ab. Dies war nicht immer so. Bis Ende der 1970er-Jahre bekannte sie sich zu Konzepten der Arbeiterselbstverwaltung in den Betrieben, danach schwor man jedoch einer gesellschaftsverändernden politischen Praxis ab, auch in der Hoffnung, mit Anerkennung der bürgerlichen Spielregeln sich institutionell stärker verankern zu können. Später wurde der Ansatz des Korporatismus in der Organisation derartig dominant, dass ihre Funktionäre in den 1990er-Jahren selbst neoliberale Strukturanpassungsprogramme verschiedener Regierungen offen unterstützten. Damit stand die CDFT nicht allein, auch andere Gruppierungen und Intellektuelle der sogenannten „Zweiten Linken“ gingen diesen Weg. Infolgedessen verlor die CFDT aber ihren linken Flügel, der sich mit anderen kleineren Gewerkschaften zur SUD-Föderation zusammenschloss. Neben GGT, CFDT und SUD besteht die gegenwärtige geeinte Gewerkschaftsfront auch noch aus der Force ouvrière (FO), einer alten „antikommunistischen“ CGT-Abspaltung, der christlichen Confédération française des travailleurs chrétiens (CFTC), der sozialpartnerschaftlichen Union nationale des syndicats autonomes (UNSA), der Confédération générale des cadres (CGC-CFE), einer Gewerkschaft für Angestellte in Führungspositionen, sowie der linken Gewerkschaft im Bereich Bildung und Erziehung Fédération Syndicale Unitaire (FSU).

Zwar waren die CFDT und ihr Generalsekretär Laurent Berger getreu ihrer sozialpartnerschaftlichen Ausrichtung grundsätzlich bereit, mit dem Macron-Lager über eine Rentenreform zu verhandeln. Da die Mitglieder auf einem Kongress im Frühjahr des Jahres 2022 eine Erhöhung des Renteneintrittsalter mit einer Zweidrittelmehrheit abgelehnt hatten, konnte Berger, der als „Macron-kompatibel“ galt, dessen im Januar 2023 verkündeten Rentenplänen jedoch unter keinen Umständen zustimmen. Das galt umso mehr, als dass sich die Regierung zu keinerlei Zugeständnissen bereitfand. Dennoch reagierte das Macron-Lager überrascht, als Berger sich öffentlich gegen ihre Reform aussprach und sich die CFDT daraufhin in die Ablehnungsfront einreihte und zusammen mit der CGT wöchentliche Aktionstage organisierte, die in der französischen Öffentlichkeit positiv aufgenommen werden. Bis heute hofft man im Umfeld Macrons, Berger und die CFDT wieder aus der Gewerkschaftsfront herauslösen zu können. Bisher waren allerdings alle diesbezüglichen Bemühungen ohne Erfolg.

Dennoch stoßen die Gewerkschaften mit ihrer inzwischen ritualisierten Form des Protests schnell an Grenzen. Anfang der 2000er-Jahre gelang es ihnen noch, so viel Druck auf die Regierung auszuüben, dass sich diese mitunter genötigt sah, geplante sozial- und arbeitsmarktpolitische „Reformen“ abzuschwächen oder zurückzunehmen. Macron jedoch ließen die gewerkschaftlichen Proteste bislang eher unbeeindruckt, da ihre Aktionen nicht wirklich bedrohlich für Wirtschaft und Staat waren. Während die Zahl derjenigen, die man zu Demonstrationen mobilisieren konnte, zunahm, ging die Zahl der Streikenden kontinuierlich zurück. Am 7. März beschloss das Gewerkschaftsbündnis, die Protestaktionen zu intensivieren. Seitdem finden fast tagtäglich Blockaden von Industriebetrieben, Straßen- und Autobahnen sowie Schienenwegen statt. Im Energiesektor Beschäftigte erhöhen über kurzfristige Stromabschaltungen den Druck in Industriebetrieben, aber auch bei Politiker*innen des Macron-Lagers. Besonders streikwillig zeigten sich die Pariser Müllwerker*innen und die in den Raffinerien Beschäftigten. Auch die Hafenarbeiter*innen streiken in regelmäßigen Abständen. Sämtliche Aktionen werden von Student*innen unterstützt.

Während sich „Müllstreiks“ aktuell über das ganze Land ausbreiten, haben die Mitarbeiter*innen der Pariser Müllabfuhr inzwischen ihren Streik beendet. Finanzielle Einbußen und zunehmende Drohungen des Arbeitgebers – staatliche Stellen haben die rechtliche Möglichkeit, Beschäftigte gewissermaßen zur Arbeit zwangszuverpflichten, sollten sie die öffentliche Ordnung bedroht sehen – ließen es nicht mehr zu, diesen Streik aufrechtzuerhalten. Versuche, die Streiks der Raffineriearbeiter*innen auf ähnliche Weise zu brechen, scheinen aktuell zu scheitern, da alle entsprechenden Anordnungen zurückgenommen wurden. Dementsprechend werden sowohl Kraftstoffe für Autos als auch Flugbenzin in Paris und im Umland inzwischen knapp.

Trotz massiven gesellschaftlichen Widerstands ist offen, ob die Rentenreform noch verhindert werden kann

Auch wenn die vielen Aktionen des zivilen Ungehorsams und die teils lang andauernden Streiks als Reaktion auf die neoliberale und autoritäre Politik des Macron-Lagers Frankreich in eine heftige politische Krise gestürzt haben, bleibt offen, ob damit die Rentenreform noch verhindert werden kann. Bisher ist es nicht gelungen, den Staat und seine Funktionsfähigkeit derart stark zu erschüttern, dass damit Macrons Position ernsthaft gefährdet wäre. Insbesondere in den privatwirtschaftlichen Unternehmen finden kaum Streikaktivitäten statt. Hier gibt es keine oder kaum Gewerkschaftsvertreter*innen, die als Katalysatoren dienen und die Beschäftigten vor Repression vonseiten der Arbeitgeber schützen könnten, sollten diese ihr Grundrecht auf Arbeitsausstand wahrnehmen. Das heißt, obwohl vielleicht der individuelle Wille da ist, schrecken viele Beschäftigte vor einem politischen Streik zurück. Von daher wird die Frage, wie mehr Angehörige der Arbeiter*innenklasse für die Gewerkschaften gewonnen werden können, heiß diskutiert. Auf dem gerade zu Ende gegangenen CGT-Kongress, forderte eine traditionalistische klassenkämpferische Fraktion jedenfalls, konsequent die „Arbeiteridentität“ zu stärken und sich von zivilgesellschaftlichen Gruppen aus anderen gesellschaftlichen Milieus abzusetzen. Kurz zuvor war mit Sophie Binet zum ersten Mal eine Frau an die Spitze der CGT gewählt worden. Diese Wahl Binets, die selbst keiner Branchengewerkschaft der CGT angehört, die Arbeiter*innen organisiert, sondern Ingenieur*innen und leitende Angestellte, verweist allerdings darauf, dass diese Linie derzeit nicht mehrheitsfähig ist. Etliche Aktivist*innen sehen darin den Beleg dafür, dass die CGT längst auf dem Weg sei, eine zweite CFDT zu werden und sich wie diese sozialpartnerschaftlichen Illusionen hinzugeben. Was an den aktuellen Protesten allgemein ermutigend ist, ist das große Engagement der jungen Generation, die überwiegend mit der Linken sympathisiert. Die zunehmende „Politisierung“ nach Jahren der Lethargie könnte den Linksparteien in Frankreich wieder Aufschwung verleihen. Wobei vor allen Dingen La France insoumise profitieren dürfte. 

Derzeit ist es noch keine ausgemachte Sache, dass die Rentenreform tatsächlich in Kraft treten wird. Zahlreiche Verfassungsjurist*innen verweisen auf schwere Verfahrensmängel. So hätte dem Parlament ausreichend Zeit zur Debatte gegeben werden müssen, zudem sei fraglich, ob tatsächlich eine haushaltsrechtliche Dringlichkeit bei der Verabschiedung bestanden hätte. Zu diesen Fragen wird sich der Verfassungsrat, der weniger ein Gericht als ein politisches Gremium ist, das in den vergangenen Jahrzehnten versucht hat, sich das Image eines unabhängigen Gerichts zu geben, am 14. April äußern. Bis zu dieser Entscheidung wird Frankreich weiterhin in Aufruhr bleiben.

Es lässt sich also von paradoxen politischen Verhältnissen in Frankreich sprechen. Einerseits scheint Macron, dessen Zustimmungswerte mit 23 Prozent inzwischen auf einen historischen Tiefstand für einen französischen Staatschef gesunken sind, deutlich geschwächt und selbst innerhalb des rechtsliberalen Lagers isoliert zu sein. Andererseits steht ein knappes Viertel der französischen Bevölkerung, darunter die reichsten und ältesten Bevölkerungsgruppen, unvermindert hinter ihm, was den „Macronismus“ weiterhin zu einer zentralen Kraft des politischen Systems macht, die mangels einer geeinten Opposition weiterhin die Leitung der Regierungsgeschäfte für sich beanspruchen kann. Die linken und rechten Gegner*innen des Macron-Lagers können allein schon aus programmatischen Gründen keine gemeinsame Sache machen. Und die zum Teil rein taktische Ablehnung des Regierungskurses von Borne und Macron durch einen Teil der „Republikaner“ und den ultrarechten Rassemblement National darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Parteien einer Neujustierung des französischen Sozialstaats durch höhere Steuern oder Vermögensabgaben für Reiche oder aber auch durch Lohnerhöhungen eindeutig entgegenstehen.