Die Frage nach Zeit und Gesellschaft stellt sich heute drängender denn je. Denn diese unsere Zeit ist charakterisiert durch einen Umbruch der Epoche, der Gesellschaft, der Weltordnung. Und angesichts sich zuspitzender Konflikte, Krisen und Kriege nehmen Verunsicherung und Ängste in der Bevölkerung zu. Der individuelle und gesellschaftliche Bedarf an Zeitdiagnosen ist enorm gestiegen. Aber eine öffentliche gesellschaftliche, unvoreingenommene und aufklärende Debatte findet gegenwärtig zu selten und meist nur vereinzelt statt.
Bei Zeitdiagnosen geht es um den Versuch, wie Hegel es formulierte, „Die Zeichen der Zeit“ zu verstehen und auf den Punkt zu bringen. Angesichts eines komplexen und widerspruchsvollen Geschehens sicher eine nicht leichte, aber doch drängende Herausforderung.
Ausgangspunkt für Zeitdiagnosen sollte nicht zuerst die Theorie, sondern die Realität im nationalen und globalen Rahmen sein. Denn Zeitdiagnosen versuchen den Zustand der Gesellschaft, den kritischen Punkt und möglichen historischen Bruch zu erfassen. Ihnen liegen auch unterschiedliche Perspektiven zugrunde – sozialökonomische (Wandel von Ökonomie und Politik), sozialstrukturelle (Wandel der Klassen- und Sozialstruktur), soziokulturelle (Wandel der Werte und Einstellungen) oder wie in unserem Fall sozial-ökologische, d. h. Wandel der Produktions- und Lebensweise. Bei Letzterem geht es um die zentrale Herausforderung unserer Zeit, um den bis heute entscheidenden Transformations- und Gesellschaftskonflikt, der alle Bereiche unserer Arbeit und unseres Lebens durchdringt, geht es um die gesellschaftliche Auseinandersetzung, die über die Entwicklung und Zukunft unserer Gesellschaft entscheidet. Was jedoch auch immer sichtbarer wird, ist, dass im Zusammenhang mit dem sozialökologischen Konflikt der Migrationskonflikt und der globale Konfrontationskonflikt eine zunehmende Bedeutung erlangen. Auch das wird die Prioritäten von Zeitdiagnosen verändern.
Will man eine aktuelle Zeitdiagnose erstellen, sollte die lange und anregende Tradition soziologischer Zeitdiagnosen nicht fehlen. Hier freilich muss ein knapper Rückblick genügen.
Historische Zeitdiagnosen
Das gilt für die Marxsche „Kapital-Analyse“, Tocquevilles Verständnis von „Demokratie als moderne Lebensform“ wie Max Webers Credo „Ambivalenzen der Moderne und autonome Lebensführung“ (vgl. dazu H.-P. Müller 2021). Mit „Kapitalismus“, „Demokratie“ und „Selbstentfaltungswerte“ wurden damit Markenzeichen der neuen Zeit, der Moderne gesetzt.
Auch das 20. Jahrhundert war geprägt durch die Erarbeitung und Diskussion unterschiedlicher soziologischer Zeitdiagnosen. So verfasste Jürgen Habermas im Jahr 1979 mit „Stichworte zur geistigen Situation der Zeit“ gemeinsam mit renommierten Wissenschaftler*innen, Publizist*innen , Schriftsteller*innen jener Zeit, „eine“, wie er selbst definierte, „Zeitdiagnose aus linksintellektueller Sicht“. Er diagnostizierte hierin das „Ende der sozialliberalen Reformperiode“, eine stattfindende „Tendenzwende“, „eine marktliberale Wende“. Es ist die Zeit eines historischen Übergangs, die wir heute als Ende des „Fordismus“ und des Übergangs zum „Neoliberalismus“ charakterisieren. Vor allem der Wandel der Leitideen und des Zeitgeistes werden in den beiden „Stichworte“-Bänden (rd. 800 Seiten) genau beschrieben. Der große Philosoph verstand sich eben immer auch – und das bis heute – als ein „öffentlicher Intellektueller“, deren Zunft „die dumpfe Aktualität bewusst zu machen hat“ (S.9).
Habermas‘ Zeitdiagnose von 1979 deutete etwas an, was dann Ulrich Beck in seiner 1986 erschienenen „Risikogesellschaft“ zu einer weiterführenden soziologischen Zeitdiagnose entwickelte. Ist für ihn die Industriegesellschaft Kennzeichen der Ersten Moderne, so hat sich diese ungewollt durch die latenten Nebenfolgen der Modernisierungsdynamik in eine Risikogesellschaft, ja Weltrisikogesellschaft verwandelt – ein Kennzeichen der Zweiten Moderne. Er verweist auf die Ökologischen Gefährdungen, die Naturzerstörungen, die akute Reaktorunsicherheit (noch vor Tschernobyl), die zunehmenden Gesundheitsrisiken. Der gesellschaftliche Zustand sei charakterisiert durch „keine Sicherheit auf Zeit mehr“. Und der frühere „Fahrstuhleffekt nach oben“ wirke nicht mehr. Das Ganze erfordere eine „Neuerfindung des Politischen“ in Gestalt einer aktiven, mündigen Bürgergesellschaft (Beck 1993). Beck wurde damit zu einem Vordenker des Projekts der „Nachhaltigkeit“, der „Sozialökologischen Transformation“. Nun wissen wir im Rückblick, dass der im damaligen Diskurs (Club of Rome „Grenzen des Wachstums“ 1972; Beck 1986, 1989; Brundtlands UN-Bericht zur „Nachhaltigkeit“ 1987) und auch in der Gesellschaft thematisierte Übergang zu einer Nachhaltigkeitstransformation sich nicht vollzog, sondern im Gegenteil eine marktliberale Gesellschaftsform, ein finanzmarktgetriebener Entwicklungspfad (Neoliberalismus) sich durchsetzte. Zunächst im Westen, dann global und nach 1989 auch im Osten. Diese neoliberale Transformation mit ihren spezifischen Akkumulations- und Regulationsregimes bestimmte bis in die jüngste Vergangenheit den historischen Entwicklungsweg national und global.
Zeit- und Gesellschaftsdiagnose heute
In den 2000er Jahren entstand in der Tat ein breites Feld ambitionierter gesellschaftsanalytischer, -kritischer sowie -theoretischer Arbeiten. Es geht darin nicht vordergründig um Zeitdiagnosen im oben genannten Sinne. Aber ohne sie, ihre Kenntnis lassen sich diese nur schwer erarbeiten. Ihr gemeinsamer Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt ist in dieser oder jener Form die neuartige Krisen- und Konfliktsituation mit ihren Folgen für die Gesellschaft. Hierbei werden jeweils unterschiedliche konstitutive Prinzipien der Gesellschaftsbeschreibung in den Mittelpunkt gestellt. So das Prinzip der „Modernistischen Dynamisierung und Beschleunigung“ (Hartmut Rosa 2005, 2016), der „Sozialen Ungleichheiten und Spaltungen“ (Thomas Piketty 2014, 2022), der „Singularitäten“ (Andreas Reckwitz 2017), der „Anpassung“ (Phillip Staab 2022), der „Resilienz“ (Jeremy Rifkin 2022), des „Abstiegs“ (Oliver Nachtwey 2016), des „Gesellschaftlichen Nervenzusammenbruchs“ (Stephan Lessenich 2022).
Meiner Suche nach einer neuen Zeit- und Gesellschaftsdiagnose (s. Reißig 2024) liegt zunächst ein spezifisches Zeitmodell zugrunde, ein doppelter Zeitbegriff. Zum einen: Zeit als historische Umbruchszeit, als Übergang zu einer neuen sozialen Formation. Zum anderen: Zeit als Wechsel sozioökonomischer und soziopolitischer Entwicklungszyklen innerhalb einer Gesellschaftsformation. Ein solches Zeitmodell ermöglicht den Zugang sowohl zum Verständnis des Geschichtsprozesses als auch der heutigen Zeit.
Zeit historischen Umbruchs
Die heutige Zeit, die heutige Gesellschaft sind m. E. mit „Zeit historischen Umbruchs“ und mit „Umbruch-Gesellschaft“ am adäquatesten zu analysieren und zu deuten. Es geht in dieser neuen historischen Epoche des 21. Jahrhunderts nicht mehr nur um innersystemische Spannungen, Konflikte, sondern um ein neues, zukunftsträchtiges wirtschaftliches, soziales, kulturelles Entwicklungsmodell. In diesem Sinne ist Umbruch (und nicht schlechthin sozialer Wandel) der kritische Punkt zeitdiagnostischer Analysen, das allgemeine, übergreifende und alles bestimmende Merkmal zur Erfassung dieser heutigen Zeit, dieser heutigen Gesellschaft. In dieser Sichtweise verschränken sich zwei miteinander verbundene Perspektiven: die entwicklungstheoretische Perspektive des Übergangs und Umbruchs und die praxistheoretische Perspektive des Möglichen und Unmöglichen. Mithin die Wechselwirkung von System- und Handlungszusammenhängen (vgl. auch Institut für Sozialforschung/Perspektiven [IfS] Frankfurt a. Main 2024).
Betrachtet man diese heutige Zeit und die Gegenwartsgesellschaften, so offenbart sich ein dreifacher Umbruchprozess: die historische Epoche, die nationalen Gesellschaften und die bestehende Weltordnung betreffend. Das Spezifische dieser gegenwärtigen Zeit ist – wie noch zu zeigen sein wird – die Verschränktheit, ja das faktische Zusammenfallen von Epochen- bzw. Modernebruch, mit dem Wechsel spezifischer innersystemischer sozioökonomischer und soziopolitischer Entwicklungszyklen und mit einem grundlegenden Umbruch der bislang US-dominierenden unipolaren Weltordnung.
Der Kristallisationspunkt dieser Widerspruchs- und Umbruchskonstellation ist dabei der Umbruch der globalen Welt, der alle Bereiche der Gesellschaft und des Lebens erfasst. Es ist ein historischer, evolutionärer Epochenbruch, -wechsel, der auf einen grundlegenden Wandel im Verhältnis von Mensch-Natur-Produktion basiert. Unsere Gegenwart hat ihren Anfang in der fossilen Revolution, und deren Anfang ist nach über 500jähriger Entwicklung nun an einen Wendepunkt gekommen. Nach der Neolithischen Revolution (Übergang von der Jäger- und Sammlergesellschaft zur Agrargesellschaft) und der Industriellen Revolution (Übergang zur Industriegesellschaft) geht es nun um eine dritte große Transformation der Menschheitsgeschichte, um einen fundamentalen Wandel des unhaltbar gewordenen gesellschaftlichen Naturverhältnisses und damit der bislang dominierenden Produktions- und Lebensweise. Dieser ist in der Literatur strategisch-konzeptionell begründet (s. Brie [Hg.] 2014; Reißig 2019) und als komplexer gesellschaftlicher Umwandlungsprozess beschrieben (u. a. Schneidewind [Hg.] 2018) und soll hier vorerst mit „postfossiler“, „umweltkompatibler“, „nachhaltiger“, „gemeinwohlorientierter“ und „friedvoller“ Entwicklung benannt werden. Es handelt sich hierbei um Erfordernisse einer globalen Transformation unter dem normativen Leitbild Nachhaltigkeit, wie sie die Weltgemeinschaft (193 Staaten, 2015) mit der UN-Agenda 2030 und ihren 17 Nachhaltigkeitszielen überzeugend beschrieben hat. Es geht gerade für die Gesellschaften westlichen Typs um den Übergang von der expansiven industriell-kapitalistischen Spät-Moderne zu einer ökologischen und nachhaltigen Entwicklungsweise, um Herausforderungen, mit denen sie in dieser Art und Weise noch nie zu tun hatten. Zumal dieser Übergang zugleich mit einer „Produktivkraft-Revolution“ (Digitalisierung, Kybernetik, KI) verbunden ist. Die Rede von einer „Zeit historischen Umbruchs“ und einer „Umbruch-Gesellschaft“ ist deshalb nicht die Fixierung subjektiver Zustände, sondern widerspiegelt die Eigenlogik epochaler und zeithistorischer Entwicklungsverläufe.
Zeit gesellschaftlicher Entwicklungszyklen
Eine Zeitdiagnose muss in einer solchen Situation vor allem fragen, wie die Gesellschaft, ihre Subjekte und Akteure mit dieser Umbruchsituation, mit dieser historischen Herausforderung umgehen. Werden diese überhaupt wahrgenommen und gelingt es, diese Wandlungs- und Umbruchprozesse friedlich, im Konsens und transformativ gestaltend sowie mit sicherer Zukunft zu bewerkstelligen oder vollziehen sich diese Prozesse eher zwangsläufig, chaotisch, gar gewaltsam und ohne echte Perspektive.
Dieser Frage nachzugehen erfordert erst einmal, den Blick auf die Welt des 21. Jahrhunderts und insbesondere auf die Verfasstheit der darin „eingebetteten“ Gegenwartsgesellschaften zu richten. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Welt eine andere geworden, global und auch hierzulande. Eine lange Welle des Wechsels und der Abfolge sozioökonomischer und soziopolitischer Entwicklungszyklen findet vorerst einen (zumindest relativen) Abschluss. Für die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lassen sich im Prinzip für alle westlichen Gesellschaften zwei solche aufeinanderfolgende Entwicklungszyklen/-Pfade identifizieren: Zum einen der, der mit der New Deal-Transformation (beginnend in den USA der 1930er Jahre und nach dem 2. Weltkrieg sich in allen entwickelten kapitalistischen Ländern verbreitend) vollzogene Übergang zu einem „Teilhabekapitalismus“ (Busch/Land) bzw. zur „Sozialen Moderne“ (Nachtwey); zum anderen der, der sich seit Mitte/Ende der 1970er Jahre durchsetzte und als ein „Marktradikaler/Neoliberaler Pfad“ bezeichnet wird. Die heutige Zeit ist nun charakterisiert durch die Erosion dieses jahrzehntelang dominierenden neoliberalen Regulations- und Entwicklungspfades und die Entstehung einer sogenannten Zwischen- bzw. Übergangszeit. Zeitdiagnostisch können diese Entwicklungszyklen auch als „Aufstiegsgesellschaft“ (nach 1945), als neoliberale „Marktgesellschaft“ (seit den 1980er/90er Jahren) und heute als eine umkämpfte postneoliberale Übergangs- bzw. Umbruchgesellschaft definiert werden. All dies waren Wandlungen innerhalb der bestehenden Gesellschaftsformation, aber doch mit beachtlichen Veränderungen von Produktion, Arbeit, Kultur und Lebensweise verbunden (s. auch Reißig 2019).
Neue gesellschaftliche Entwicklungsperiode – neue Chancen und Blockaden
Doch immer deutlicher wurde, dass nun im 21. Jahrhundert grundlegendere sozioökonomische und soziopolitische Wandlungen und gesellschaftliche Veränderungen anstehen. Den Schnittpunkt dieser Entwicklung bildet die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008, die den finanzmarktgetriebenen Entwicklungspfad in ein tiefes Dilemma stürzte. Im Rückblick erweisen sich die vergangenen eineinhalb Jahrzehnte als eine neue gesellschaftliche Entwicklungsperiode, als ein beginnendes „post-neoliberales Zeitalter“, das mit neuen Chancen und Risiken einhergeht.
So eröffnete die einsetzende Erosion des bislang global und national dominierenden marktliberalen Entwicklungspfades neue Möglichkeiten hin zu einem Weg sozial-ökologischer Wandlungen. Denn die Reserven des Neoliberalismus waren erschöpft, seine Versprechungen nach mehr Freiheit und Wohlstand verloren an Wirkung. Der Markt, auf den alles konzentriert war, versagte. Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise mit ihren Folgen wurde nun auch physisch wahrnehmbar und spürbar. Ein gesellschaftliches Gefühl, dass etwas zu Ende geht und etwas Neues erforderlich aber auch möglich wird, machte sich breit. Die gesellschaftlichen Protestbewegungen wuchsen mehr und mehr an und erlangten erstmals wieder globalen Charakter (u. a. Weltsozialforen, weltweite Occupy Wallstreet-Bewegung). Nachhaltigkeit, Ökologie, Umwelt wurden zu wichtigen gesellschaftlichen Themen. Das Magazin „Die Zeit“ erschien im August 2007 unter dem Aufmacher „Deutschland rückt nach links“ und begründete dies mit der Zustimmung von Mehrheiten für soziale Gerechtigkeit, für einen Sozialstaat, für Erweiterung des Gemeineigentums. Das Thema „Transformation“ – nun nicht mehr als „postsozialistische Transformation“ im Osten, sondern aber als Suche nach einem zukunftsfähigen Entwicklungsmodus in der westlichen und globalen Welt – kehrte in die Zeitgeschichte zurück (u. a. Reißig 2009; WGBU 2011; Club of Rome 2012). Umwelt- und Klimaschutz, Transformation der Energiesysteme gewannen in der Folgezeit selbst bei staatlichen Akteuren an Relevanz („Grüne Transformation“).
Wie sich heute jedoch zeigt, konnte sich trotz zunächst gegebener Öffnungschancen und erster Transformationsschritte ein solch neuer, öko-sozialer Entwicklungspfad bislang gesellschaftlich nicht durchsetzen. Das 21. Jahrhundert bekam ein anderes Gesicht. Die Dringlichkeit gesellschaftlicher Umwandlungen nahm mit der neuen Krisen- und Konfliktsituation weiter zu, doch zugleich verstärkten sich auch die diesen entgegen gesetzten Blockaden und führten zu Stillstand und gar Rückschritten bei der Bewältigung der sozial-ökologischen Herausforderungen, so auch die UN 2023. Die Frage ist, wie es kommt, dass eine hochgradig von Widersprüchen, Krisen, Pandemien, sozialen und ökologischen Gefährdungspotenzialen geprägte Gesellschaftsform sich immer wieder von neuem reproduzieren kann. Dies steht – und jetzt mehr denn je – im Raum und bedarf neuer Überlegungen und Forschungen. An dieser Stelle soll und kann nur in Stichworten zeitgeschichtlich angedeutet werden, wo ich Ursachen einer solch regressiven Entwicklung, eines solch veränderten Gesellschaftszustandes sehe:
- In den Mittelpunkt dieser neuen post-neoliberalen Entwicklungsperiode rückten nicht die sozial-ökologischen Transformationserfordernisse und -schritte, sondern eine Krisenpolitik. Denn die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008 wurde zum Auftakt neuer Krisen in der Folgezeit: Eurokrise, Migrationskrise (2015), Coronakrise (2020 ff.), Energie- und Rohstoffkrise und die alles überwältigende Ökologie- und Umweltkrise. In dieser aufbrechenden, neuartigen „multiplen Krise“ bzw. „Polykrise“ (Adam Tooze) gewannen vor allem konservative und regressive Kräfte mit ihrer Art der Krisenpolitik, d. h. Versuche einer Stabilisierung des Alten vor Umbau zum Neuen, national und international die Dominanz.
- Die später in Regierungsverantwortung gelangten sozialdemokratischen und grün- liberalen Kräfte vermochten es nicht, ihr Vorhaben im Koalitionsvertrag 2021 (Transformation, Grüne Modernisierung, Respekt als Anerkennung und Teilhabe) als ein Konzept ökologisch-sozialer Transformation zu entwerfen, zu kommunizieren und schrittweise in die Praxis umzusetzen. Statt Steuerung und Regulierung des zugegebenermaßen schwierigen Umbaus zunehmende Verunsicherung, Konfusion, Rückwärtsgang.
- Die Transformationskräfte brachten schließlich kein breites gesellschaftliches Transformationsbündnis zustande und gerieten mit ihrem Projekt und ihren Botschaften allmählich in die Defensive.
- Mit dem Ukraine-Krieg und der damit einhergehenden globalen und insbesondere Ost-West-Konfrontation, Militarisierung und Aufrüstung entstand das Gegenstück und der Bremsklotz für eine Nachhaltigkeitstransformation im globalen und nationalen Maßstab – und das nicht als allgemeine Annahme, sondern als täglich zu erlebende Praxis.
- Schließlich, doch nicht zuletzt, vollzog sich ein tiefgreifender Wandel der geistigen Situation (vgl. auch Habermas 1979) in der Gesellschaft, nur dieses Mal viel gravierender: Klimakrise und sozialökologische Wende gerieten in der öffentlichen Debatte in den Hintergrund, Migration und Sicherheit in den Vordergrund; Aufstieg des Rechtspopulismus im nationalen, europäischen und internationalen Maßstab; angesichts von Krisen, Pandemien und Kriegen nehmen Ängste und Verunsicherungen in der Bevölkerung während gleichzeitig der öffentlichen Diskussionsraum verengt wird; der historisch-soziologisch bestimmte Begriff der „Zeitenwende“ (s. auch Sabrow 2024) als Epochen- und Gesellschaftsumbruch wurde infolge des Ukraine-Krieges strategisch-politisch umgedeutet und so u.a. anstelle von „Transformationsfähigkeit“ „Kriegsfähigkeit“ gesetzt; statt Green Deal (EU) globale Konkurrenz; und nicht zu übersehen die Wandlungen in der politischen Kultur, wo der politische Gegner zum Feind erklärt wird (u.a. und besonders USA).
Gegenwartsgesellschaft und mögliche Entwicklungsperspektiven
Eine aktuelle Gegenwartsdiagnose kommt deshalb nicht um die Feststellung umhin: Die auf der historischen Umbruch-Agenda stehende Öffnung zu einem nachhaltigen, sozial-ökologischen Entwicklungspfad hat sich bislang nicht vollzogen. Aus der Umbruch-Gesellschaft wurde (trotz der einst „geöffneten Türen“ und erster praktischer Schritte) keine Gesellschaft der Nachhaltigkeit. Die herrschende Eigenlogik sich modernisierender systemischer Entwicklung des Bestehenden war (wieder einmal) stärker. Doch, so wie es heute ist, muss es nicht bleiben. Die „Nicht-Nachhaltigkeit“ und das „Weiter so“ auf Dauer festzuschreiben und das endgültige Aus des Sozial-ökologischen Projekts auszurufen ist ebenso einseitig wie eine fortgesetzte Verkündung hoffnungsfroher sozialökologischer Transformations-Botschaften ohne Realitätsbezug. Ja, die gegenwärtige Situation ist in der Tat durch eine doppelte Krise gekennzeichnet: Krise der bestehenden Ordnung der Nicht-Nachhaltigkeit und zugleich der des Projekts der Nachhaltigkeit (Blühdorn 2024). Doch die Bedingungen sind heute für unterschiedliche Entwicklungsrichtungen noch immer gegeben: für post-fossile, sozial-ökologische und grün-kapitalistische wie für fossile, regressive, aber auch für autoritäre und gewaltsame Fortschreibungen des Bestehenden bzw. für das Entstehen ganz neuer Formen im politischen und sozialen Machtgefüge. Es sind eben nicht theoretische Annahmen, sondern die Praxis, die letztlich über die weitere Entwicklung entscheidet. Die Menschen selbst, die handelnden Akteure können, wie die Geschichte zeigt, Verhältnisse ändern.
Und der Blick auf die Gegenwartsgesellschaft zeigt, dass tatsächlich unterschiedliche, ja gegensätzliche Kräftegruppierungen und Bewegungen mit ihren jeweiligen Projekten um gesellschaftlichen Einfluss und um die Ausrichtung des künftigen Entwicklungsweges ringen. Ich nenne sie verkürzt und etwas idealtypisch: Zum einen die regressive, populistisch-nationalistische Bewegung mit ihrer Verteidigung der fossilistischen Produktions- und Lebensweise und ihrem „Zurück in die Vergangenheit und in die gute alte Normalität“. Sie ist national, europaweit und global weiter gewachsen, doch auch die Gegentendenzen sind stärker geworden.
Zum anderen: die Anpassungs- und reformerische Bewegung sowohl sozialdemokratischer, grün-liberaler und konservativer Ausrichtung. Sie versucht, bei allen Differenzen und Unterschieden, die Krisen zu managen, neue Akkumulationsfelder zu erschließen und Zukunft als „Dekarbonierter Kapitalismus“ oder als „Green Deal“ zu erschließen. Sie setzen vorwiegend auf technologische und marktorientierte Krisenlösungen und Entwicklungswege – und damit letztlich auf Negierung einer sozialökologischen Transformation. Mehr noch - der Verzicht der liberalen Mitte auf eine Politik des „Weiter So“ wird zur Voraussetzung, um eine nicht-nachhaltige und autoritär-populistische Entwicklung zu verhindern.
Und schließlich die „Transformatorische Bewegung“ mit ihren langfristigen Konzepten auf eine an Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit gerichteten Transformation. Sie bildet gegenwärtig – trotz vielfältiger Verankerung in ökologischen und sozialen Bewegungen, Verbänden und Kreisen der Wissenschaft und Kultur – jedoch im politischen und gesellschaftlichen Raum eine Minderheit und ist nach wie vor in der Defensive.
Noch also hat sich hierzulande kein Entwicklungspfad als hegemonialer Entwicklungspfad durchgesetzt. Noch hat sich auch keine hegemoniale gesellschaftliche Akteurskonstellation herausgebildet. Aus heutiger Sicht (national und global) sind m.E. deshalb unterschiedliche künftige Entwicklungsperspektiven möglich: sowohl eine „dekarboniert-kapitalistische“; wie eine „nicht-nachhaltige, autoritär-populistische“, aber auch eine „nachhaltig-resiliente mit sozial-libertären Elementen“. Dabei ist auch eine Entwicklungsrichtung als Kombination dieser Pole denkbar.
Angesichts der sich verschärfenden Klimakrise, die unser aller Lebensgrundlagen bedroht (IPCC 2023), gewinnen heute die Eindämmung des Klimawandels und der fortschreitenden Erderwärmung und angesichts von Hitzewellen, Flutkatastrophen, Überschwemmungen, Wirbelstürmen vor allem eine Klimaanpassung (Beckert 2024) die zentrale Bedeutung. Dies wäre zwar noch nicht die Realisierung eines sozialen und ökologischen Entwicklungspfades, aber ohne diese wird es keinen neuen Pfad geben. Experten sprechen deshalb trotz der angespannten Situation heute von einem „Klimajahrzehnt“ und hinsichtlich eines Übergangs vom fossilen zu einem post-fossilen Entwicklungsweg von einem „Transformationsjahrzehnt“. Da die entsprechenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die technologischen Verfahrensweisen und auch die finanziellen Mittel (derzeit liegen nach Angaben der Schweizer Bank UBS 454 Billionen US-Dollar als angehäuftes privates Kapital weltweit vor) für die Inangriffnahme dieser zentralen Vorhaben vorhanden sind, liegt der Schlüssel dafür letztlich in der Gesellschaft (Oben wie Unten); im politischen Willen und Handeln, diesen Umbau tatsächlich in Angriff zu nehmen (s. auch Neckel 2023). Doch daran mangelt es gegenwärtig beträchtlich, nicht zuletzt strukturell bedingt. Dabei geht es im praktischen Handeln gerade in diesem Jahrzehnt nicht zuerst um ein umfangreiches Transformationsprogramm, um Transformation als „großes Projekt“, sondern um genaue Prioritäten, Einzelprojekte, deren Umsetzung in dieser Scheidewegsituation dringend geboten und für die auch Mehrheiten noch immer zu gewinnen sind. Die Erfahrungen gerade auch der jüngsten Zeit belegen aber zugleich, nichts wird sich nach vorn bewegen, wenn die Ökonomie des Alltagslebens, die Probleme und Bedürfnisse der Menschen unberücksichtigt bleiben oder gar gegen diese verstoßen wird. Hierbei freilich sollte praktisches Alltagshandeln durchaus in ein überzeugendes Zukunftsnarrativ „eingebettet“ sein, wie es mit „Gutes und sicheres Leben für alle“ im Rahmen der ökologischen Grenzen definiert wird. Eben das, was auch die UN-Nachhaltigkeits-Agenda 2030 für alle Regionen der globalen Welt so überzeugend festhält. Nur heute erfordert das mehr denn je, eine neue globale Blockkonfrontation zu verhindern, die Kriege in der Ukraine, im Nahen Osten und weltweit schnellstmöglich zu beenden und zu dem alten und wieder so aktuell gewordenen Leitmotiv „Frieden und Entwicklung“ zurückzukehren. Nur wenn das gelingt, werden einer nicht-nachhaltigen, autoritär-populistischen Entwicklung der Boden entzogen und Voraussetzungen einer sicheren Zukunft und eines gelingenden Lebens für alle Menschen geschaffen.
Fazit
Zeitdiagnostisch befinden wir uns also nicht nur in einer Übergangs- bzw. Zwischenzeit, sondern zugleich in einer Scheidewegsituation. Das Projekt der Nachhaltigkeit, einer Sozial-ökologischen Transformation hat sich bislang nicht durchgesetzt und bestimmt gegenwärtig auch nicht (mehr) die öffentliche Debatte. Der soziologische Nachhaltigkeitsdiskurs reagiert darauf mit unterschiedlichen Zukunftsszenarien: mit der Diagnose einer Stabilisierung und einer Politik der Nicht-Nachhaltigkeit (Blühdorn 2024); eines sich durchsetzenden Regimes der Anpassung (Staab 2022); und selbst eines infrastrukturellen und gesellschaftlichen Kollapses infolge des Überschreitens von absoluten ökologischen und sozialen Kipppunkten (vgl. dazu Adloff 2022).
Aber anderseits eben auch mit der Hoffnung auf nachhaltige Wege aus dem Zustand der heutigen Umbruch- bzw. Übergangsgesellschaft. Denn die großen Krisen – Umwelt, Klima, soziale Spaltung, Demokratie, Krieg – sind nicht verflogen und die großen Herausforderungen einer Nachhaltigkeitstransformation im 21. Jahrhundert bleiben bestehen.
Was daher in diesem Jahrzehnt geschieht, dürfte für lange Zeit die künftige Entwicklungsrichtung bestimmen. Das betrifft nicht allein die so wichtige „geistige Situation der Zeit“ (Habermas), sondern auch den demokratischen, sozial-ökologischen Entwicklungspfad überhaupt, der im Mittelpunkt dieser Zeitdiagnose stand. So oder so, das Gesicht der künftigen Gesellschaft wie auch das der Weltordnung wird ein anderes sein, als wir es bisher kannten. Insofern wird dann auch eine analytische und konzeptionelle Weiterentwicklung der „Zeitdiagnose“ unabdingbar, um die neuen „Zeichen der Zeit“ zu verstehen und auf den Punkt zu bringen.