Ein ereignisreicher Morgen lag hinter Herrn S.! Gleich früh, noch im Bademantel, hatte er sich bezwungen und nicht beim Frühstücksradio angerufen, war demzufolge nicht zehnter Anrufer gewesen, wodurch ihm zwangsläufig die Reise nach Ibiza entgangen, beziehungsweise: erspart geblieben war, und es demnach auch keinerlei Veranlassung für ihn gegeben hatte, „Irre, irre. Das ist ja Wahnsinn!“ in den Hörer zu rufen.

Irre, irre. Das ist ja Wahnsinn. Für nichts und wieder nichts hatte Herr S. auf diese Weise also eine ganze Woche gewonnen – ohne Verreisen, ohne Ibiza: Er bleibt bei sich, und was sich ereignet, das ist er selbst. Diese Vorstellung hatte ihn jäh in den Sessel niedergezwungen, dort gab er sich einigen lose zusammenhängenden Gedanken über die Planung seiner näheren Zukunft hin. 

Draußen vor dem Fenster rauschte derweil ein flüchtiger Regen vorbei und verdüsterte anheimelnd Vormittag und Gemüt. In die Stille hinein: plötzlich ein Anruf! Ein alter Bekannter (Herr S. kannte ihn nicht), der sich schon immer mal melden wollte (warum?), war nun auf einmal mitten in seinem Ohr, seinem Kopf. Er hatte gefragt: „Wie geht’s, wie steht’s?“, und ehe Herr S. mehr oder weniger wahrheitsgemäß mit „wie stets“ hatte antworten können, hatte der unbekannte Bekannte schon losgelegt: von seiner Firma, Import und Export, Filialen in Wien, Riga und Prag, demnächst in Moskau ... Nur knappe Atempausen skandierten die unaufhaltsame Rede vom Aufstieg. 

Die alte Geschichte, dachte Herr S. müde, vom Tellerwäscher zum Millionär – und nun leidet er zu allem Überfluss auch noch unter einer schweren, womöglich unheilbaren Form von Erzählzwang, einem zwanghafter Wahn, mit dem er andere verfolgt. Ergo, diagnostizierte Herr S. streng, klassischer Fall von Verfolgungswahn, nur eben hier: mit umgekehrtem Vorzeichen. 

Mein Gott! Warum rief denn nicht mal abwechslungshalber ein zum Tellerwäscher aufgestiegener Millionär an – das wäre doch mal so was wie eine Variante! Aber nein, die schwiegen ja nur vielsagend und weise und wuschen ihre Hände im lauen Spülwasser der Unschuld. Überhaupt: Was wollte dieser Mensch denn? Herr S. hielt den sprechenden Hörer weit von sich. Doch auch das konnte den ungeheuren Redefluss selbstverständlich nicht stoppen. Entweder, dachte Herr S. bekümmert, waren seine ehemaligen Landsleute zu Trauerklößen geworden, à la Trotzköpfchen in den Wechsel- oder Wendejahren, oder sie waren zu Erfolgsmenschen mutiert, die sogar den guten alten Westen das Fürchten lehrten. In der Mitte aber, wo für gewöhnlich die Wahrheit begraben liegt, war wieder einmal gar nichts. Zwischendurch, auf Kurzanfrage, hatte sich immerhin herausgestellt, dass besagter Anrufer früher einmal, vor vielen Jahren, in einem Seminar von Herrn S. gesessen hatte. Leider, so bedauerte sein Ex-Student schließlich, habe er momentan verdammt wenig Zeit, sonst könnte man sich ja noch einmal länger unterhalten, das wäre bestimmt spannend, er würde auf jeden Fall noch einmal anrufen. Das klang wie eine Drohung. 

Das unsichtbare Gegenüber war aus der Leitung verschwunden, aber Herr S. hatte es noch im Kopf, den halben Vormittag lang ging es ihm nicht mehr aus demselben. „Ich bin frei“ – vor allem dieser mehrfach als Einleitungsfloskel verwendete Satz hatte sich in ihm festgesetzt. Dabei: Herr S. hätte schwören können, damals im Seminar, bei der Einführung in die Prädikatenlogik, deutlich genug auf dieses heikle Problem hingewiesen zu haben. Da der Anrufer längst abgehängt war, dozierte Herr S. nun also umständehalber privat, und zwar den stummen vier Wänden in seinem Zimmer: „Frei“ ist ein zweistelliges Prädikat. Der korrekte Gebrauch lautete entweder: „Ich bin frei von y“ – also etwa von ansteckenden Krankheiten, oder auch: „Ich bin frei in Bezug auf z“ – das nächste Wochenende zum Beispiel. So und nicht anders. (Vgl. weiterführend: Klaus, Georg, Moderne Logik, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1973, 278f.) „Ich bin frei“ jedenfalls besagte gar nichts. Es war einfach nur inkorrekt, unvollständig formuliert. 

So also sprach Herr S. gegen Wände. Komisch, dachte Herr S., dass sich jetzt so viele, wie der Anrufer vorhin, für diese Luftikus-Light-Variante von Freiheit entschieden hatten. Aber, verstehen, verstehen konnte er es schon. Herr S. musste nur an seine Schulzeit denken. „Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit und das Handeln danach.“ So hatte damals die staatsbürgerkundliche Definition gelautet. Man schrieb sie ins Heft und dachte lange ergebnislos darüber nach. Wenig später dann jedoch die alles entscheidende Kontrollfrage: „Seht Ihr also die Notwendigkeit ein, dass der Frieden mit der Waffe in der Hand verteidigt werden muss?“ Die richtige Antwort („... das Handeln danach“) war, dass man nächsten Donnerstag 15 Uhr vollzählig auf dem Schulhof zum vormilitärischen Marsch der Bewährung erschien, um dann mit Karte und Kompass durch ein nasses Untergehölz zu irren. Diese regentrübe „Einsicht in die Notwendigkeit“ schien mithin das Gegenteil von Freiheit, speziell: der persönlichen, zu sein. Kein Wunder, dass das nicht mehr so hoch im Kurs stand. Hegels gewitzter Gedanke aber, dass Freiheit, wenn sie denn mehr sein sollte als Allotria, blauer Dunst und „Ick bin so frei“, tatsächlich etwas mit der Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten, also Notwendigkeiten(!) zu tun haben musste, war dabei zwangsläufig etwas ins Hintertreffen geraten. Schade. Der Mensch, von Natur aus, ist vielleicht doch nicht so richtig für die Freiheit gemacht. Diesen dunklen Gedankengang wollte Herr S. aber lieber nicht bis ans Ende gehen (wo käme er denn da hin?); er verließ vielmehr das Haus. Das Haus stand nun also verlassen da. Es sah, wie Herr S. im Rückblick bemerkte, schön schäbig und ungeschminkt aus. Leicht schwindsüchtig lehnte es in der Reihe der anderen. Sein ramponierter Charme versetzte es um knapp ein Jahrhundert zurück in ein anderes Zeitalter. 

Er ging einige Straßen entlang, brachte sich um ein paar Ecken; die Ahornbäume, unter denen er lief, streuten diskret ihre Flugblätter aus. Beinahe wäre er dabei übrigens noch unter die Räder gekommen. Das wunderte ihn nun gar nicht. Ein Land, wo eine schlichte Fahrerlaubnis die Kampfbezeichung „Führerschein“ trug, konnte ja nicht ganz normal sein; dort lebte man gefährlich. 

Herr S. war auf dem Weg in den Park. Sein täglicher Auslauf. Zwar war in jüngster Zeit der Park auch wochentags auf unerklärliche Weise reichlich bevölkert, vornehmlich von Hunden, doch das störte Herrn S. nicht. Warum auch. Die Hunde hatten ja gut zu tun. Sie hielten ihre zweibeinigen Freunde, die orientierungs- und beschäftigungslos in der Luft herumschnuppernden Herrchen – Frührentner oder Vorruheständler zwischen dreißig und vierzig – fest an der Leine und führten sie geduldig immer im Kreise herum.