Konservative Kräfte und Parteien sind weltweit im Umbruch. Sie sprechen von einer Krise des Konservatismus, worin besteht diese? 

In Europa, aber auch darüber ­hinaus, manifestiert sich diese Krise auf dreierlei Weise. Es gibt viele gemäßigt Konservative, vor allem christ­demokratische Parteien, die sich schon seit einigen ­Jahren im elektoralen Sinkflug befinden und teils zu Nischen­existenzen zusammen­geschrumpft sind. Etwa die frühere Volks­partei Les ­Républicains in Frankreich. Andere konservative Parteien radikalisieren sich, wie die PiS in Polen oder die Tories in Groß­britannien, was ich ebenfalls als Krisensymptom der rechten Mitte interpretiere. Und zuletzt lässt sich die Krise daran festmachen, dass immer mehr konservative Parteien nur mithilfe von radikal rechten Kräften an die Macht kommen können – und auch dazu bereit sind. Sei es in Schweden, wo eine Mitte-rechts-Koalition von den Schwedendemokraten toleriert wird, oder seit Kurzem die Niederlande, wo sich Mitte-rechts-Parteien in eine Koalition mit Geert Wilders’ PVV begeben haben. 

Die Gründe für diese Krisenerscheinungen sind vielfältig, aber ein gewichtiger Faktor besteht zweifellos in den Krisen der letzten anderthalb Jahrzehnte, die auch auf eine neoliberale Agenda der sozioökonomischen Disruption zurückzuführen sind. Konservative haben diese Agenda mitgetragen und waren gleichzeitig in vielen Fällen nicht in der Lage, der Verunsicherung, den Verlustängsten und -erfahrungen etwas entgegenzusetzen. Vor dem Hintergrund der Schwäche der Linken haben daher vor allem radikal rechte Parteien davon profitiert. Doch bei aller durchaus angebrachten Rede von einer Krise ist auch festzuhalten: Die Europäische Volkspartei als Heimat christdemokratischer und konservativer Parteien im EU-Parlament gehörte zu den unbestrittenen Siegern der Wahlen im Juni. Hier läuten also noch keineswegs die Totenglocken.

Welche Strömungen im Konservatismus bilden sich international heraus und in welche Richtung entwickeln sie sich? Wo verlaufen zentrale Konfliktlinien?

Natürlich kann man den Konservatismus in den verschiedenen Kontexten nicht über einen Kamm scheren. Die Unterschiede zwischen einer südeuropäischen Christ­demokratin und einem britischen Tory haben sich zwar über die Jahrzehnte abgeschliffen, ganz verschwunden sind sie aber nicht. Etwas vereinfacht gesagt, scheint mir die christ­demokratische Tradition etwas weniger anfällig für autoritäre Versuchungen zu sein, vielleicht auch deshalb, weil sie nach ihrer Gründungsphase in der Nachkriegszeit noch viele Jahre durchaus offen war für derartige Optionen, um sich dann Schritt für Schritt in Richtung eines ›Liberalkonservatismus‹ zu entwickeln. Prominente Gegenbeispiele zu dieser These gibt es allerdings durchaus, allen voran die christdemokratische ÖVP, aber auch der Partido Popular in Spanien. Letzterer hat sich zuletzt offen für eine Zusammenarbeit mit der radikal rechten Vox gezeigt, und bekanntlich koalierte die ÖVP mehrfach mit der FPÖ. 

»Wir sehen in vielen ­EU-­Ländern mittlerweile ­Kooperationen zwischen rechter Mitte und rechtem Rand; die Brandmauer ist also bereits weitgehend passé.«

Die ÖVP dokumentiert zudem augenfällig, wie schwer sich Konservative in vielen Kontexten tun, klare inhaltliche und strategische Positionen zu beziehen. Konservativ-grüne Projekte gelten zwar im Moment vor allem in Deutschland nicht als en vogue, aber in Ländern mit einigermaßen stabiler grüner Präsenz bleiben sie grundsätzlich eine ­Option, wenn man sich von konservativer Seite nicht auf eine Zusammenarbeit mit Rechtsaußen einlassen will oder kann. Für Konservative ist diese Konstellation ein Drahtseilakt. Lässt man sich auf das Grünen-Bashing ein, wie es etwa die Union im Sound beinahe ununter­scheidbar von der AfD betrieben hat, dann zerstört man möglicherweise die Grundlage für derartige Bündnisse. Umgekehrt wird zu große Konzilianz vonseiten der Konservativen gegenüber einer grünen Agenda sofort von der AfD ausgeschlachtet.

Gibt es hierzulande eine Radikalisierung des Konservatismus? Wie ­verlaufen die innerparteilichen Auseinandersetzungen um die zukünftige Ausrichtung? 

In der Tat gehört es zur Merz-Agenda, das Erbe der Merkel-CDU ein Stück weit hinter sich zu lassen, auch wenn es da oft um ­Rhetorik geht und in vielen Politikbereichen auch durchaus Kontinuitäten zu verzeichnen sind. Das gilt übrigens auch für das neue Grundsatzprogramm. Klare Verschärfungen gibt es natürlich im Bereich der Migrationspolitik, wo mit der Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten und der Unterbringung dort, auch wenn Asyl gewährt wird, ganz neuer Boden betreten wird. Vor fünf Jahren wäre das noch tabu gewesen. Hier lässt man sich meiner Ansicht nach von der AfD, aber auch von der Springer-Presse und rechts-populistischen Portalen wie Nius treiben. 

Interessant dabei ist: Eine bürgerlich-­konservative Partei wird in teils offenen Konflikt mit denen getrieben, die lange Zeit als ihre natürlichen Partner galten. Denn nicht nur die Kirchen sind merklich auf Distanz gegangen, auch vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hört man keinen Applaus für eine immer restriktivere Migrationspolitik, denn dort weiß man, wie unabdingbar ausländische Arbeitskräfte für eine alternde Gesellschaft sind, in der längst nicht nur die Fachkräfte fehlen. 

Auch in der CDU wird der Merz-Kurs keineswegs von allen geteilt. Es gibt in der Fraktion, aber vor allem auf Ebene der Landesverbände eine ganze Reihe von Merz-Skeptiker*innen. Tonangebend sind sie innerhalb der Partei aber nicht.

Wie steht es um die »Brandmauer«, also die konsequente Abgrenzung gegen und Nicht-Zusammenarbeit mit der AfD? Wie groß ist die Gefahr, dass die Union sie alsbald einreißen wird?

Ein Blick auf das europäische Panorama zeigt, dass die Brandmauer-Diskussion hinsichtlich der Rolle von konservativen Parteien kaum noch irgendwo außerhalb Deutschlands geführt wird, dafür aber nun erstmals im Hinblick auf das EU-Parlament. Wir sehen in vielen Ländern mittlerweile Kooperationen zwischen rechter Mitte und rechtem Rand; die Brandmauer ist also bereits weitgehend passé. Auch in Frankreich, wo es eine Mitte-links-Brandmauer gab, haben sich Konservative unter der Führung des Parteichefs Éric Ciotti dem Rassemblement National (RN) angeschlossen. Dass hierzulande überhaupt noch so intensiv darüber gestritten wird, ist, im größeren Zusammenhang betrachtet, geradezu ein Unikum. Meiner Ansicht nach ist eine Zusammenarbeit von CDU und AfD auf Bundesebene auf Jahre hin unvorstellbar. Jedenfalls würde das die Partei spalten, so wie es nun den Republikanern in Frankreich ergangen ist, und ich sehe nicht, dass es in der Bundes-CDU Kräfte gibt, die daran ein Interesse haben. In der CSU mag das womöglich anders aussehen. Was allerdings bei den anstehenden Regierungsbildungen nach den Landtagswahlen passiert, lässt sich nur schwer vorhersagen. Sich von der AfD tolerieren zu lassen, würde ruinöse Prozesse in Bewegung setzen, weil die Bundesspitze das bei aller Autonomie der Landesverbände nicht ­geschehen lassen könnte, ohne Merz’ Kandidatur und die ganze Partei schwer zu beschädigen. Man denke an den Fallout der Kemmerich-Wahl 2020, die letztlich ­Kramp-Karrenbauer den Job als Vorsitzende kostete. 

Bei allem, was man an guten Gründen für eine Brandmauer und gegen eine Zusammenarbeit mit rechtsautoritären Parteien vorbringen kann, ist auch festzuhalten, dass Allparteienallianzen gegen die AfD oder den RN in Frankreich einen Offenbarungseid für liberale Demokratien darstellen. Mit dem ­Nebeneffekt, genau das Narrativ zu ­bestätigen, das jene Rechtsaußenparteien seit Jahren vor sich hertragen: die ausgegrenzten Opfer eines Kartells von Systemparteien zu sein.

Die Union war immer Volkspartei und zugleich organisierende Partei des bürgerlichen Blocks. Die Strategie der Neuen Rechten zielt darauf ab, die Union zu spalten und letztlich zu ­zerbrechen. Unter welchen ­Beding­ungen könnte das gelingen?

Der Schlüssel zur Spaltung der Union liegt in ›unmoralischen Angeboten‹ der Kooperation mit der AfD. Wie das funktioniert, lässt sich am französischen Beispiel der UDF, einer liberalen Parteienföderation, aufzeigen. Ende der 1990er-Jahre war es Bruno Mégret, die damalige Nummer Zwei des Front National (FN), der im Zuge von Kommunal- und Regionalwahlen immer wieder schwer auszuschlagende Angebote in Richtung der rechtsliberalen Mitte formulierte: Die Unterstützung des Front National für konservative bzw. liberale Kandidat*innen etwa bei der Wahl des Regionalpräsidenten machte er von Bedingungen abhängig, die eigentlich gar keine Bedingungen waren, da sich die Positionen so oder ähnlich auch in den Programmen der Liberalen/Konservativen fanden. Tatsächlich konnten oder wollten einige Kandidat*innen der Mitte-rechts-Parteien (vor allem der UDF) diesen Angeboten nicht widerstehen und ließen sich vom FN mitwählen. Nicht zuletzt darüber und über die grundsätzliche Frage des Umgangs mit dem FN spaltete sich die UDF und wurde zur Nischenpartei. 

Meiner Ansicht nach war es ein Fehler der Höcke-AfD, ganz offen auszusprechen, dass es letztendlich nicht um das Regieren mit der Union gehe, sondern um deren Zerstörung. Da sind bei den Konservativen Einige aufgewacht und man hat sich klargemacht, dass der Versuch der Spaltung der Union Teil der AfD-Agenda ist und es sich da nicht im Wesentlichen um heimatlos gewordene Konservative handelt. Man wird sich hier zumindest auf Bundesebene und auch in den meisten Landesverbänden nicht naiv in Kooperationen hineinziehen lassen, die das Potenzial haben, die Partei zu zerreißen. Die größte Spaltungsgefahr geht definitiv von einer Zusammenarbeit von CDU und AfD auf Landesebene aus. Und das weiß auch die AfD, die sich nach den Landtagswahlen lammfromm präsentieren und – natürlich aus rein staatspolitischer Verantwortung – verkünden wird, dass man für eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit gerne zur Verfügung steht. Das ist die Falle, in die die CDU nicht tappen darf, wenn sie Interesse an ihrem Fortbestehen als Volkspartei hat.


Das Gespräch führte Lia Becker.

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