Die ÖVP dokumentiert zudem augenfällig, wie schwer sich Konservative in vielen Kontexten tun, klare inhaltliche und strategische Positionen zu beziehen. Konservativ-grüne Projekte gelten zwar im Moment vor allem in Deutschland nicht als en vogue, aber in Ländern mit einigermaßen stabiler grüner Präsenz bleiben sie grundsätzlich eine Option, wenn man sich von konservativer Seite nicht auf eine Zusammenarbeit mit Rechtsaußen einlassen will oder kann. Für Konservative ist diese Konstellation ein Drahtseilakt. Lässt man sich auf das Grünen-Bashing ein, wie es etwa die Union im Sound beinahe ununterscheidbar von der AfD betrieben hat, dann zerstört man möglicherweise die Grundlage für derartige Bündnisse. Umgekehrt wird zu große Konzilianz vonseiten der Konservativen gegenüber einer grünen Agenda sofort von der AfD ausgeschlachtet.
Gibt es hierzulande eine Radikalisierung des Konservatismus? Wie verlaufen die innerparteilichen Auseinandersetzungen um die zukünftige Ausrichtung?
In der Tat gehört es zur Merz-Agenda, das Erbe der Merkel-CDU ein Stück weit hinter sich zu lassen, auch wenn es da oft um Rhetorik geht und in vielen Politikbereichen auch durchaus Kontinuitäten zu verzeichnen sind. Das gilt übrigens auch für das neue Grundsatzprogramm. Klare Verschärfungen gibt es natürlich im Bereich der Migrationspolitik, wo mit der Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten und der Unterbringung dort, auch wenn Asyl gewährt wird, ganz neuer Boden betreten wird. Vor fünf Jahren wäre das noch tabu gewesen. Hier lässt man sich meiner Ansicht nach von der AfD, aber auch von der Springer-Presse und rechts-populistischen Portalen wie Nius treiben.
Interessant dabei ist: Eine bürgerlich-konservative Partei wird in teils offenen Konflikt mit denen getrieben, die lange Zeit als ihre natürlichen Partner galten. Denn nicht nur die Kirchen sind merklich auf Distanz gegangen, auch vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hört man keinen Applaus für eine immer restriktivere Migrationspolitik, denn dort weiß man, wie unabdingbar ausländische Arbeitskräfte für eine alternde Gesellschaft sind, in der längst nicht nur die Fachkräfte fehlen.
Auch in der CDU wird der Merz-Kurs keineswegs von allen geteilt. Es gibt in der Fraktion, aber vor allem auf Ebene der Landesverbände eine ganze Reihe von Merz-Skeptiker*innen. Tonangebend sind sie innerhalb der Partei aber nicht.
Wie steht es um die »Brandmauer«, also die konsequente Abgrenzung gegen und Nicht-Zusammenarbeit mit der AfD? Wie groß ist die Gefahr, dass die Union sie alsbald einreißen wird?
Ein Blick auf das europäische Panorama zeigt, dass die Brandmauer-Diskussion hinsichtlich der Rolle von konservativen Parteien kaum noch irgendwo außerhalb Deutschlands geführt wird, dafür aber nun erstmals im Hinblick auf das EU-Parlament. Wir sehen in vielen Ländern mittlerweile Kooperationen zwischen rechter Mitte und rechtem Rand; die Brandmauer ist also bereits weitgehend passé. Auch in Frankreich, wo es eine Mitte-links-Brandmauer gab, haben sich Konservative unter der Führung des Parteichefs Éric Ciotti dem Rassemblement National (RN) angeschlossen. Dass hierzulande überhaupt noch so intensiv darüber gestritten wird, ist, im größeren Zusammenhang betrachtet, geradezu ein Unikum. Meiner Ansicht nach ist eine Zusammenarbeit von CDU und AfD auf Bundesebene auf Jahre hin unvorstellbar. Jedenfalls würde das die Partei spalten, so wie es nun den Republikanern in Frankreich ergangen ist, und ich sehe nicht, dass es in der Bundes-CDU Kräfte gibt, die daran ein Interesse haben. In der CSU mag das womöglich anders aussehen. Was allerdings bei den anstehenden Regierungsbildungen nach den Landtagswahlen passiert, lässt sich nur schwer vorhersagen. Sich von der AfD tolerieren zu lassen, würde ruinöse Prozesse in Bewegung setzen, weil die Bundesspitze das bei aller Autonomie der Landesverbände nicht geschehen lassen könnte, ohne Merz’ Kandidatur und die ganze Partei schwer zu beschädigen. Man denke an den Fallout der Kemmerich-Wahl 2020, die letztlich Kramp-Karrenbauer den Job als Vorsitzende kostete.
Bei allem, was man an guten Gründen für eine Brandmauer und gegen eine Zusammenarbeit mit rechtsautoritären Parteien vorbringen kann, ist auch festzuhalten, dass Allparteienallianzen gegen die AfD oder den RN in Frankreich einen Offenbarungseid für liberale Demokratien darstellen. Mit dem Nebeneffekt, genau das Narrativ zu bestätigen, das jene Rechtsaußenparteien seit Jahren vor sich hertragen: die ausgegrenzten Opfer eines Kartells von Systemparteien zu sein.
Die Union war immer Volkspartei und zugleich organisierende Partei des bürgerlichen Blocks. Die Strategie der Neuen Rechten zielt darauf ab, die Union zu spalten und letztlich zu zerbrechen. Unter welchen Bedingungen könnte das gelingen?
Der Schlüssel zur Spaltung der Union liegt in ›unmoralischen Angeboten‹ der Kooperation mit der AfD. Wie das funktioniert, lässt sich am französischen Beispiel der UDF, einer liberalen Parteienföderation, aufzeigen. Ende der 1990er-Jahre war es Bruno Mégret, die damalige Nummer Zwei des Front National (FN), der im Zuge von Kommunal- und Regionalwahlen immer wieder schwer auszuschlagende Angebote in Richtung der rechtsliberalen Mitte formulierte: Die Unterstützung des Front National für konservative bzw. liberale Kandidat*innen etwa bei der Wahl des Regionalpräsidenten machte er von Bedingungen abhängig, die eigentlich gar keine Bedingungen waren, da sich die Positionen so oder ähnlich auch in den Programmen der Liberalen/Konservativen fanden. Tatsächlich konnten oder wollten einige Kandidat*innen der Mitte-rechts-Parteien (vor allem der UDF) diesen Angeboten nicht widerstehen und ließen sich vom FN mitwählen. Nicht zuletzt darüber und über die grundsätzliche Frage des Umgangs mit dem FN spaltete sich die UDF und wurde zur Nischenpartei.
Meiner Ansicht nach war es ein Fehler der Höcke-AfD, ganz offen auszusprechen, dass es letztendlich nicht um das Regieren mit der Union gehe, sondern um deren Zerstörung. Da sind bei den Konservativen Einige aufgewacht und man hat sich klargemacht, dass der Versuch der Spaltung der Union Teil der AfD-Agenda ist und es sich da nicht im Wesentlichen um heimatlos gewordene Konservative handelt. Man wird sich hier zumindest auf Bundesebene und auch in den meisten Landesverbänden nicht naiv in Kooperationen hineinziehen lassen, die das Potenzial haben, die Partei zu zerreißen. Die größte Spaltungsgefahr geht definitiv von einer Zusammenarbeit von CDU und AfD auf Landesebene aus. Und das weiß auch die AfD, die sich nach den Landtagswahlen lammfromm präsentieren und – natürlich aus rein staatspolitischer Verantwortung – verkünden wird, dass man für eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit gerne zur Verfügung steht. Das ist die Falle, in die die CDU nicht tappen darf, wenn sie Interesse an ihrem Fortbestehen als Volkspartei hat.
Das Gespräch führte Lia Becker.