Die Bewegungen der Bäuer*innen und Landlosen in Brasilien stehen vor neuen Herausforderungen. Der institutionelle Putsch, mit dem die gewählte Präsidentin Dilma Rousseff 2016 zu Beginn ihrer zweiten Amtszeit abgesetzt wurde, stellte nur den vorläufigen Höhepunkt einer größeren politischen und ökonomischen Krise des Landes dar. Nach Ende der 13-jährigen Regierungszeit der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores/PT) haben sich die Ausgangsbedingungen für Kämpfe um Land und Ernährungssouveränität erheblich verändert. Von daher stellt sich Frage: Was sind mögliche neue Ansätze für die sozialen Bewegungen?
In allen Bewegungen – von der größten Landlosenbewegung Movimento dos Sem Terra (MST) bis hin zu diversen kleineren Netzwerken und Initiativen – finden derzeit lebhafte Diskussionen darüber statt, mit welchen politischen Konzepten und Strategien auf die vielen neoliberalen und konservativen Angriffe und Projekte in den ländlichen und peripheren Gegenden Brasiliens und ganz Lateinamerika reagiert werden kann. So sind zwischen den verschiedenen aktivistischen Gruppierungen neue Bündnisse entstanden, um die Rechte von Landlosen und Kleinbäuer*innen zu verteidigen, wobei es zwei wichtige Referenzpunkte gibt: erstens die Kämpfe indigener Bevölkerungsgruppen um kollektives Zugangsrecht zu Land und um natürliche Ressourcen im Zuge ihres allgemeinen Widerstands gegen die kolonialistische Unterwerfung, und zweitens der Kampf der MST seit 1984 um eine Bodenreform, gegen die Ausbeutung der Landarbeiter*innen, gegen eine einseitige Modernisierung der Landwirtschaft, den massenhaften Export von Lebensmitteln und gegen die intensive Nutzung von Pestiziden sowie die hohe Konzentration von Land und staatlichen Subventionen in den Händen einiger weniger Menschen.
Die PT hatte sich vor und nach ihrer Machtübernahme um einen Dialog mit den sozialen Bewegungen bemüht. Es war in den vergangenen Jahren zu einigen Reformen und Verbesserungen zugunsten von kleinbäuerlichen Betrieben sowie marginalisierten und armen Bevölkerungsgruppen gekommen, unter anderem zur Einrichtung eines neuen Ministeriums, das speziell für die ländliche Entwicklung und Bodenfragen zuständig ist und dessen Aufgabe darin bestehen sollte, traditionelle Formen der Landwirtschaft zu fördern. Gleichzeitig hatte sich die PT aber auch auf eine Allianz mit den Konservativen eingelassen, also mit den Kräften, die den Agrar- und Medienoligarch*innen nahestehen und eine Politik des reinen Wirtschaftswachstums verfechten. Dementsprechend ist es zu keiner nennenswerten Umgestaltung des herrschenden Bodenregimes und der Land- und Ressourcenverteilung gekommen. Am Ende waren es dieselben reaktionären Parteien, die mit Unterstützung der Gerichte den politischen Coup gegen die erste Frau im Präsidentenamt in Brasilien anführten und für einen massiven gegen Arbeitnehmer- und Bürgerrechte gerichteten Backlash sorgten.
Nun bedarf es Ideen, wie gegen forcierte Prozesse der Kommodifizierung und Privatisierung vorgegangen werden kann, von denen vor allem ausländische Konzerne profitieren. Einher mit diesen Prozessen gehen eine zunehmende Zerstörung und Vergiftung der Umwelt, ein Zuwachs an sozialen und globalen Ungleichheiten in Bezug auf Klasse, Gender und Ethnizität und eine Kriminalisierung sozialer Bewegungen. All diese von Interessen der Kapitalakkumulation angetriebenen Entwicklungen haben eine neue Qualität erreicht und bedürfen dringend der Abstimmung zwischen verschiedenen politischen Strömungen, die seit Jahren gegen dieselben Gegner kämpfen (das große Agrobusiness, Bergbaukonzerne sowie mächtige Grundstücksmakler und -entwickler). Die gegenwärtige Lage ist von neuen Schwierigkeiten, aber auch Chancen für alle Bewegungen gekennzeichnet, die im weitesten Sinne für Landrechte und Ernährungssouveränität eintreten.
Zum gegenwärtigen Stand von Landprivatisierung und -konzentration
Die überaus ungerechte Landverteilung in Brasilien hat mit der kolonialen Geschichte des Landes zu tun. Inzwischen hat es jedoch eine Verschiebung weg von der Vorherrschaft des Latifundien-Systems – riesige, aber eher unproduktive Landgüter im Besitz von Oligarchen – hin zu einer hochprofessionellen Agrarindustrie mit ihren komplexen internationalen und nationalen Verstrickungen und Machtkonstellationen gegeben.[1] In Mato Grosso, einem der wichtigsten agrarwirtschaftlichen Regionen des Landes, sind 3,3 Prozent aller landwirtschaftlichen Einheiten über 2.500 Hektar groß und machen zusammen 61,5 Prozent der gesamten dortigen Agrarfläche aus. Oder andersherum betrachtet: Die Mehrheit, das heißt 68,5 Prozent aller Einheiten in privatem und gemeinschaftlichem Besitz sind bis zu 100 Hektar groß und haben nur einen Anteil von 5,5 Prozent an der Agrarfläche. Julian Malerba nennt den von der gegenwärtigen brasilianischen Regierung verfolgten Ansatz der Förderung einer erneuten Konzentration in der Landwirtschaft eine Counter-Reform.[2] Um die heutigen komplexen Boden- und Eigentumsstrukturen und die ihr zugrunde liegenden Klassenbeziehungen zu verstehen, bedarf es einer Kombination aus einer Analyse, die die aktuellen Machtbeziehungen in den Blick nimmt, und der Berücksichtigung der Vergangenheit Brasiliens als rassistische und patriarchale Kolonialgesellschaft.