Die Linke ist im einstigen Stammland der früheren PDS, also in Brandenburg, wo sie vor 20 Jahren noch auf 28 Prozent kam, aus dem Landtag geflogen. Wie ist das zu erklären?

Sebastian Walter: Für mich ist am 22. September etwas passiert, mit dem fast alle Gewissheiten, die ich und die viele andere hatten, verschwunden sind. Eine Antwort auf diese Frage kann ich daher noch nicht voll umfänglich geben. Ein Faktor war sicherlich, dass dieser Wahlkampf von der SPD krass zugespitzt war, nach dem Motto: Entweder wir werden stärkste Kraft oder der Faschismus wird an die Regierung kommen. Das hat dazu geführt, dass wir nicht nur wir rausgeflogen sind, sondern auch die Grünen und die Freien Wähler. Aber was passiert ist, ist das Ergebnis von Entwicklungen der letzten Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte. Wir konnten als Linke im Osten nicht mehr deutlich machen, was eigentlich unsere Rolle, unsere Aufgabe ist.

Kannst du diesen Funktionsverlust genauer beschreiben?

S.: Anfang der 1990er-Jahre hatte die PDS mit Lothar Bisky an der Spitze gerade in Brandenburg die Rolle, die alten Ost-Eliten in die Bundesrepublik zu überführen und die Stimme des Ostens zu sein. Dann gab es die Hartz-IV-Proteste, dann die Anti-Kriegsproteste, dann kam Die Linke, dann gab es die Bankenkrise, den Mindestlohn, und wenn man sich das genauer anschaut, ging es eigentlich schon ab 2014 bergab. Wir haben seitdem kontinuierlich verloren. 

Dann hat der Abschwung ja schon in der während der Regierungsbeteiligung der Linken in Brandenburg begonnen. Welche Bedeutung misst du dieser zu?

S.: Wenn man sich Untersuchungen anschaut: Nach fünf Jahren linker Beteiligung an der Landesregierung wussten 36 Prozent der Brandenburger, dass wir mitregieren, nach zehn Jahren 56 Prozent. Okay, wir haben die Kita-Beiträge in Brandenburg abgeschafft, waren das erste Bundesland mit einem Vergabemindestlohn, wir haben die Krankenhäuser gesichert, also ganz konkrete soziale Verbesserungen herbeigeführt, die sich auch im Portemonnaie der Menschen zeigen. Nach Umfragen war ich 2024 der zweitbeliebteste Landespolitiker in Brandenburg. Das hilft aber am Ende alles nichts, das wirkt sich nicht aus, wenn das Gesamtimage der Partei einfach nicht mehr da ist. 

»Am Ende stellte sich die Frage, wofür regieren wir denn eigentlich?«

Wir haben die Entwicklung im Vorfeld der Landtagswahlen gesehen und Untersuchungen in Auftrag gegeben, Fokusgruppen durchgeführt und so weiter. Nach Ansicht der Befragten hat Die Linke hat überhaupt keine überzeugende Rolle mehr. Wir haben in der Regierung natürlich auch verdammt viele Fehler gemacht. Das hat uns bestimmt auch an Zustimmung gekostet. Wir haben zwar immer gesagt, es reicht nicht zu regieren, wir brauchen auch den Druck von der Straße. Aber sobald es diesen gab, etwa in Form von Bündnissen oder größeren Demonstrationen, hieß es, ihr könnt uns aber nicht zu stark kritisieren. Wir müssen ja solidarisch miteinander sein. Am Ende stellte sich die Frage, wofür regieren wir denn eigentlich? Und 2024 haben wir in gewisserweise eine Antwort darauf erhalten.

Auffällig war auch, dass in Brandenburg von den älteren Menschen, die ihr ja im Vorfeld als besondere Zielgruppe ausgemacht hattet, nur noch zwei Prozent Die Linke gewählt haben.

S.: Ich bin davon ausgegangen, dass die, die uns die letzten 34 Jahre gewählt haben, auch diesmal wieder für uns stimmen würden, zu 7 oder 8 Prozent, womit wir über die Fünf-Prozent-Hürde gekommen wären. Bei den Erststimmen hat das ja auch geklappt, bei den Zweitstimmen leider nicht. Ich bin überzeugt, dass die Mehrheit der ehemaligen älteren Linke-Wähler*innen zum BSW gewechselt ist. Warum? Das hat wie gesagt mit unserem desaströsen Image zu tun. Wir haben, wie bereits erwähnt, keine rechte Funktion mehr in diesem veränderten Parteiensystem. Fragen von Krieg und Frieden sind gar nicht so entscheidend, wie vielfach behauptet wird. Vielmehr haben die Menschen deswegen BSW und nicht uns gewählt, weil im Osten ein bestimmtes positives Russlandbild vorherrschend ist. Außerdem kommt bei der älteren Generation die Propaganda von Sahra Wagenknecht besonders gut an: Also, Die Linke sei nicht mehr links, sie kümmere sich nur um Nebenwidersprüche, um solche Sachen wie Gendern statt um die richtigen Brot-und-Butter-Themen. Da reicht es als Linke nicht aus, Haltungs- und Brot-und-Butter-Themen zu bedienen, sondern du musst Emotionen wecken. Und das gelingt uns insgesamt im Osten viel zu wenig.

Nam Duy, ihr habt euren Wahlkampf in Leipzig gezielt auf das urbane Milieu ausgerichtet und hattet damit ja auch Erfolg. In der Fläche hat Die Linke aber auch in Sachsen enorm verloren. Braucht es hier andere Ansätze?

Nam Duy Nguyen: Ich wollte noch etwas zu den Gründen für unser schlechtes Abschneiden sagen. Sicherlich wären wir ohne das BSW in allen Bundesländern, wo gerade gewählt wurde, in den Landtag gekommen. Aber das BSW konnten wir zumindest ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr verhindern. Von daher müssen wir vor allem auf die hausgemachten Ursachen schauen, und da mag die Regierungsbeteiligung eine Rolle spielen. Richtiger wäre aber vermutlich, die allgemein starke Fokussierung auf die Parlamente zu hinterfragen.

»Die Stärke der Linken im Osten hat sich gerade in strukturschwachen Regionen in einen Nachteil verkehrt.«

Vor allen Dingen in Sachsen, wo die Partei über lange Zeit, etwa in den Nullerjahren, über 20 Prozent hatte. Ich glaube, dass sich die Stärke der Linken im Osten, wo sie Abertausende kommunale Mandate errungen hat, oft auch in strukturschwachen Regionen, ein bisschen in einen Nachteil verkehrt hat. Zugespitzt könnte man sagen: Es hat dort den Spielraum für linke Politik verengt. Viele haben in der Partei eine Art bürokratische Ausbildung durchlaufen, geprägt durch Sachzwanglogik und Schuldenbremse, mit sehr, sehr schweren Kämpfen in den Institutionen um Investitionen und kleinste Verbesserungen. Und das überträgt sich unweigerlich auf die Gesamtausrichtung der Partei. Das scheint mir ein Faktor zu sein, der sich auch negativ auf die Mitgliederentwicklung ausgewirkt hat. Von ehemals 13 000 Mitgliedern in Sachsen sind heute noch zwischen 6 000 und 7 000 übrig, was nicht nur demografische Gründe hat, sondern auf fehlende aktive Organisations- und Aufbauarbeit verweist. Ein weiterer Grund für unsere heutige Schwäche.

Zurück zu der Frage nach eurem Riesenerfolg in Leipzig, wo ihr zwei Direktmandate erringen konntet. Was lässt sich für andere aus euren Wahlkampfstrategien und -erfahrungen lernen?

N.: Es geht hier um unterschiedliche Punkte. Zunächst glaube ich, dass die Unterschiede zwischen Stadt und Land in den nächsten Jahren von uns programmatisch, organisatorisch und wahlkampftechnisch noch stärker berücksichtigt werden müssen. Im ländlichen Raum, da stimme ich Sebastian zu, wird Die Linke kaum noch ernst genommen. Das hat mit ihrem allgemein schlechten Image zu tun, zum Teil mit ihrer Performance vor Ort. Hier muss Die Linke Vertrauen und Glaubwürdigkeit zurückgewinnen – und das funktioniert am besten natürlich über lokale Verankerung. Was Leipzig betrifft, so ist es schwierig für uns nachzuvollziehen, was am Ende den Ausschlag für den Erfolg gegeben hat. Ich denke, es waren mehrere Faktoren: Der eine hat mit meiner Biografie als Arbeiterkind aus der Generation der ehemaligen Vertragsarbeiter*nnen in der DDR zu tun, die sonst im politischen System in Sachsen überhaupt nicht abgebildet ist. Darüber hinaus haben wir an 50 000 Haustüren geklingelt und über 14 000 persönliche Gespräche geführt über Themen und Fragen, die die Menschen im Alltag umtreiben.

Wie hoch schätzt du die Bedeutung dieser Haustürgespräche ein?

N.: Der Wert lässt sich gar nicht ausreichend bemessen, denn die Leute erzählen davon zu Hause, wenn sie am Abendessenstisch sitzen oder wenn sie Nachbarn treffen. Sie tauschen sich darüber aus. Also, das hat schon zu einer enormen Präsenz geführt. Wenn ich einen Aspekt herausstellen sollte, dann den, dass wir Wahlkämpfe auch als mögliche Anlässe denken sollten, um Kampagnen zu entwickeln, bei denen Die Linke bündnisfähig wird mit Leuten, die noch nicht in der Partei aktiv sind, aber mit der Linken sympathisieren. Wir in Leipzig haben im Vorfeld der Landtagswahlen gezielt Kontakt zu Akteur*innen gesucht, die noch nicht in der Linken aktiv oder gerade neu eingetreten waren. Wir haben sie dazu eingeladen mit uns Wahlkampf zu machen, indem wir ihnen unsere Ideen und Pläne vorgestellt haben, indem wir ihnen vermittelt haben, welche Bedeutung Direktmandate im Kampf für eine erneuerte Linke haben. Das ist eine Erfahrung, die wir einbringen können in die Debatte der Linken.

»Ich wünsche mir, dass sich Die Linke mehr darin übt, Arbeiterbiografien auch in Wahlkämpfen nach vorne zu stellen.«

Wichtig ist aus meiner Sicht auch, eine Ansprache an die Arbeiterklasse zu finden, eine Geschichte zu erzählen, die vielleicht jetzt nicht das Trennende voranstellt, sondern das Einende. Ich habe zum Beispiel von den Erfahrungen erzählt, die meine Eltern gemacht haben. Dass sie oft umgezogen sind und dass früher das Geld im Winter oft nicht gereicht hat, um gleichzeitig die Wohnung warm und die ganze Familie satt zu bekommen. Ich hatte das Gefühl, dass das an den Haustüren, aber auch allgemein in der Öffentlichkeit sehr, sehr gut angekommen ist, weil sehr viele Menschen – auch innerhalb unserer eigenen Partei – etwas damit anfangen können, es ihre Herzen erreicht. Und ich würde mir wünschen, dass Die Linke sich mehr darin übt, Arbeiterbiografien auch in Wahlkämpfen nach vorne zu stellen, wie jetzt in Hamburg, wo die Bürgerschaftswahlen anstehen. Da stellt sich Kai Jäger auf, das ist ein Hafenarbeiter, der muss parallel noch Vollzeit arbeiten. Das ist eine große Herausforderung.

Noch mal zurück zum Stadt-Land-Konflikt. Den sehen wir ja auch in anderen Ländern, etwa ganz extrem in den USA, verbunden mit enstprechenden »Kulturkämpfen«. Was für Strategien seht ihr für Die Linke, um auch im ländlichen Raum wieder Fuß zu fassen?

N.: Genoss*innen von mir in Sachsen haben berichtet, dass es für sie der schwerste Wahlkampf seit Langem war, weil sich die Stimmung bereits derart verschlechtert hat, dass es sehr roh zugegangen ist, dass es sehr, sehr schwierig war, überhaupt in einen Dialog zu treten. Ich muss sagen, dass ich selbst noch um Antworten ringe, wie Die Linke in der Fläche wieder Meter machen kann. Für mich erscheint es sinnvoll, strategisch Ressourcen zu fokussieren und die Orte zu verteidigen, in denen wir früher einmal stark waren, anstatt kopflos jetzt alle Ressourcen in die Breite zu werfen. Ich glaube, es muss da einen Mittelweg geben, eine strategische Fokussierung, gleichzeitig eine Antwort für die Gebiete, wo man als Linke nicht einfach so an die Haustüren gehen kann.


S.: Die Herausforderungen sind auf dem Land eigentlich nicht andere als in der Stadt. Du musst mit den Leuten reden, hinhören, um zu begreifen, was ihre Probleme und Wünsche sind. Haustürgespräche oder Kontaktsaufnahmen zu Menschen funktionieren ja nur dann, wenn ich selbst dazu bereit bin, die Perspektive des anderen zu verstehen. Im ländlichen Raum geht es vielleicht weniger darum, wie bezahle ich meine Miete, sondern darum, was passiert jetzt eigentlich bei der Grundsteuerreform oder bei den Müllgebühren? Was passiert, wenn etwa die Heizkosten für die Häuser steigen? Nicht alle Hausbesitzer sind gleich reich. Ein anderes Beispiel: Die meisten Menschen auf dem Land sind auf das Auto angewiesen, um ihre Kinder in die Schule zu fahren, um einzukaufen oder um zu ihrem Job zu kommen. Und das Gefühl, das ihnen Die Linke vermittelt, ist: Wir wollen ihnen das Auto wegnehmen, ihnen vorschreiben, wie sie heizen sollen und so fort. Ich finde, hier muss Die Linke wieder eine eindeutigere Klassenposition einnehmen, wenn man den Begriff nutzen will. Also ich verstehe heute noch nicht, warum wir uns so positiv gegenüber der CO2-Steuer aussprechen. Die Erhöhung der CO2-Steuer hat zu fünf, sechs Cent höheren Preisen an der Tanksäule in Brandenburg geführt, nur in diesem Jahr. Das macht was. Da frage ich mich, warum sind wir nicht diejenigen, die sagen, warum muss der Endverbraucher schon wieder bezahlen?


N.: Ich würde gern noch einen Aspekt ergänzen: Gerade in Ostdeutschland herrscht ein Mangel an Mitbestimmung, und zwar in verschiedenen politischen, aber auch vorpolitischen Räumen. Steffen Mau hat dazu die letzten Jahre sehr viele gute Sachen geschrieben, zuletzt in seinem Buch »Ungleich vereint«. Deswegen gibt es hier auch so viel Politikverdrossenheit. Diese Skepsis gegenüber dem Politikbetrieb hat damit zu tun, wie das System der Bundesrepublik in den 1990er-Jahren auf den Osten übertragen wurde, Stichwort: Transfer der westdeutschen Führungsebene von den Parteien, der Justiz bis hin zu Wissenschaft und Wirtschaft. Mau argumentiert, dass der Moment, die Repräsentationskanäle der existierenden Demokratie in Ostdeutschland nachhaltig zu verankern, verpasst wurde. Das erleben wir auch auf der betrieblichen und zivilgesellschaftlichen Ebene, wo Ostdeutsche selten die Chance bekommen haben, wirklich etwas mitzubestimmen. Auch darauf braucht Die Linke eine Antwort.

Wenn es stimmt, dass die Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen im Osten so außerordentlich groß ist, dann müsste es doch auch Möglichkeit geben, von links diese zu artikulieren. Wie kann das gelingen?

S.: Dafür müsste Die Linke ihren Elfenbeinturm verlassen. Wir haben uns zu viel in unseren eigenen Eckkneipen herumgetrieben, haben uns gegenseitig auf die Schulter geklopft, aber uns zu wenig anderen Realitäten gestellt. Ich kenne das noch aus meiner Zeit als Gewerkschaftssekretär in Brandenburg. Dieses Treuhand-Trauma, das wirkt fort. Also, es geht ja nicht nur um die Generation, die selbst die Jahre 1990 bis 1992 erlebt hat. Eberswalde etwa, wo ich herkomme, hatte Anfang der 1990er-Jahre noch über 10 000 Arbeitsplätze in der Industrie, heute sind es noch um die 150. Und da ist die Frage, sind wir als Linke dazu bereit, mit von Arbeitsplatzverlust direkt Betroffenen zu reden, auch wenn sie sich vielleicht etwas anders ausdrücken, wie wir das in unseren eigenen Kreisen gewohnt sind? Wenn ich dieses Wort Transformationsmüdigkeit höre, dann steckt da für mich eine gewisse Arroganz dahinter. Nach dem Motto: »Die sind halt zu blöd zu verstehen, dass sie ihren dreckigen Arbeitsplatz jetzt mal verlieren müssen.« Wir sagen den Leuten immer, wir als Linke stehen an der Seite der Beschäftigten und nicht an der Seite der Konzerne. Das müssen wir wirklich einlösen. Erst dann haben wir eine Chance.

Es ist ja tatsächlich ein Dilemma für Die Linke: auf der einen Seite die Dringlichkeit eines sozial-ökologischen Wandels, auf der anderen Rücksicht auf die Transformationsmüdigkeit der Menschen nehmen. Da hat es die AfD einfacher. Sie sagt: Ihr könnt euer Auto weiterfahren und weitermachen wie bisher, die Erzählung vom Klimawandel ist eh Quatsch. Also wie in dieser Konstellation von links für Veränderungen werben und eine fortschrittliche Perspektive entwickeln?

N.: Es ist richtig, dass es die AfD gerade besser schafft, die Menschen zu mobilisieren. Das begründet sich mit einem tiefen Misstrauen der Menschen in Ostdeutschland gegenüber den Eliten und dem Establishment, weil viele Politiker hier als Marionetten gesehen werden oder als Akteure, die sich in erster Linie selbst bereichern und nicht für die Menschen da sind – womit sie ja auch ein Stück weit Recht haben. Von dieser weit verbreiteten Haltung profitieren AfD und BSW sehr stark.

»Es gibt einen gewerkschaftlichen Aufbruch in Ostdeutschland, den Die Linke nutzen und über die Betriebe hinaus in die Zivilgesellschaft tragen muss.«

Sie erhalten da viel Zuspruch, obwohl sie eigentlich nur auf Scheinermächtigung setzen. Daraus ergibt sich aber für Die Linke, dass wir die Fragen von Rassismus oder gesellschaftlicher Spaltung anders beantworten müssen. Und das geht halt nur, so platt es klingen mag, mithilfe von Solidarität und Selbstermächtigung. Mein Verständnis der Linken als Ostpartei bedeutet für mich, dass sie keine Partei ist, die Ossis rettet, sondern eine, die sich mit den Ossis auf den Weg macht, um sich das zu erkämpfen, was uns zusteht. Und das muss präzise entwickelt und durchdekliniert werden. Gleichzeitig gibt es einen gewerkschaftlichen Aufbruch in Ostdeutschland, wenn ich zum Beispiel nach Sachsen schaue. Die Linke muss diesen Aufbruch nutzen und über die Betriebe hinaus in die Zivilgesellschaft tragen. Damit einher geht für mich auch, diese linke Leerstelle im Parteiensystem zu besetzen und deutlich zu machen, wie wir uns in unserer Politik und Arbeit von anderen Parteien unterscheiden.


S.: Was wir nicht brauchen, sind weitere 20-seitige Theoriepapiere zur Transformation. Wir müssen die konkrete Richtung benennen, in die es gehen soll. Und wir müssen uns fragen, welche Probleme sprechen wir an, wenn es um Transformation geht. Da kümmere ich mich darum, wie behalten die Leute einen Job und wie produzieren sie etwas, was tatsächlich für uns alle sinnvoll ist. In den Diskussionen zu neuer Arbeit und Transformation der Industrie sind die Betriebsräte und die IG Metall deutlich weiter, als wir das sind. 

»Hinzugehen, Antworten auf Alltagsprobleme zu finden und Zukunftsängste ernstzunehmen, das wäre die Aufgabe der Linken.«

Es geht darum, auch von anderen zu lernen, sowie bereit zu sein, eine Sprache zu sprechen, die die Leute verstehen. Hinzugehen, Antworten auf Alltagsprobleme zu finden und Zukunftsängste ernstzunehmen, das wäre die Aufgabe der Linken. Dass wir das können, haben wir in Leipzig gesehen. Dort hat sich auch gezeigt: Wenn du glaubwürdig und authentisch bist und eben nicht nur im Parlament sitzen willst, dann kannst du was bewegen.

Das heißt, Die Linke muss aus eurer Sicht stärker Anti-Establishment-Partei werden und den starken Fokus auf die Parlamente aufgeben?

N.: Ich würde schon sagen, dass davon unsere Glaubwürdigkeit abhängt. Wir müssen im politischen Alltag klar abzugrenzen zu sein von Parteien wie der SPD und den Grünen, die die Transformation auf den Rücken der Beschäftigten austragen wollen. Viele Ostdeutsche haben gerade mit diesen Parteien ihre ganz eigene Geschichte. Praktisch bedeutet das, auf eine systematische Verankerung in der Gesellschaft zu setzen. Und da sind Haustürgespräche ein wichtiger Baustein, aber vor allen Dingen auch ein Ausdruck davon, dass wir Politik anders machen und das Vertrauen der Menschen wieder zurückgewinnen wollen. Dazu gehört auch, programmatisch zu schauen, wo man Schwerpunkte setzt. Jan van Aken und Ines Schwerdtner haben auf dem Bundesparteitag angekündigt, als Parteivorsitzende auf rund die Hälfte ihres Gehalts verzichten zu wollen. Bei Instagram hat dieser Beitrag gleich 10 000 Likes bekommen. Und was es an Kommentaren gab, das war unglaublich! Wir müssen an den richtigen Stellen Glaubwürdigkeit ausstrahlen, eine ehrliche und fundierte Politik vertreten, die Sozialberatung, mit kollektiven Organisierungsprozessen verbindet, nicht das Blaue vom Himmel verspricht und auf Selbstwirksamkeit achtet.


S.: Anti-Establishment hört sich hart an, aber mal ehrlich, was war denn die Linke in der Geschichte der letzten 150 Jahre? Sie war immer Anti-Establishment, wenn sie erfolgreich war. Ich will gar nicht gegen den Parlamentarismus wettern. Ich war fünf Jahre lang sehr gern Abgeordneter und habe alle damit verbundenen Möglichkeiten genutzt. Ich wäre aber zum Beispiel dafür, Legislaturzeiten zu begrenzen, damit du nicht dein Leben lang in einem Parlament sitzt. Es hat ja Gründe, warum bestimmte Realitäten von der Politik kaum zur Kenntnis genommen werden. 

»Mit ausreichend Druck von der Straße kannst du auch in einer Regierung Anti-Establishment sein.«

Viele meiner Parlamentskolleg*innen haben immer große Augen gemacht, wenn ich vom Durchschnittslohn der Brandenburger erzählt habe. Die konnten sich nicht vorstellen, dass jeder Dritte zu Niedriglöhnen arbeitet, weil sie niemanden in ihrem Umfeld kennen, der das tut. Mit ausreichend Druck von der Straße kannst du auch in einer Regierung Anti-Establishment sein. Ich glaube, das ist kein Widerspruch, sondern man kann die Dinge tatsächlich zusammenzudenken und beides ganz gut hinkriegen. Am Ende ist es wichtig, auf welcher Seite du stehst. Die Leute merken sehr schnell, ob du wirklich an ihrer Seite stehst oder ob du nur so tust, weil gerade Wahlkampf ist.

Um mal Hölderlin zu zitieren: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«, heißt es bei ihm. Was gibt euch Hoffnung, dass Die Linke in Zukunft wieder gebraucht werden wird?

S.: Wir haben nach unserem Drei-Prozent-Ergebnis unglaublich viele Nachrichten bekommen mit der Frage: Wie soll das jetzt eigentlich weitergehen ohne euch? Es ist politisch eine riesige Lücke entstanden, die die Grünen nicht füllen können. Wir wären einen großen Schritt weiter, wenn es uns jetzt gelingen würde, die vielen Menschen, die uns im Wahlkampf unterstützt haben – darunter viele Künstler*innen und Schriftsteller*innen, aber auch Betriebsräte und Arbeiter*innen – einzubinden, tatsächlich mitzunehmen und zu sagen: Lasst uns zusammen eine neue Linke aufbauen auf dem Fundament, was wir noch haben vor Ort, in den Kommunen. Wenn wir also Politik wieder so verstehen, dass die soziale Frage das Entscheidende ist, wir lernen, Widersprüche auszuhalten – und das nicht nur in Bezug auf internationale Konflikte –, wenn wir es hinkriegen, tatsächlich wieder offen zu sein, Dinge zu hinterfragen, wenn wir Neues ausprobieren, so wie es Nam Duy gemacht hat, dann haben wir eine Chance. Dann werden wir demnächst wieder über fünf Prozent liegen und zu neuer Stärke kommen.

Was macht dir Hoffnung, Nam Duy?

N.: Ich kann das nur unterstreichen: 10 000 neue Mitglieder! Es gibt eine Dynamik und Bereitschaft innerhalb der Partei, für ein Projekt zu kämpfen: die Erneuerung einer politischen Kraft links von der Sozialdemokratie. Ganz einfach, weil diese objektiv gebraucht wird. Im Vorfeld des Bundesparteitags haben 80 Kreisverbände signalisiert, sich an der Vorwahlkampagne zu beteiligen, und viele mehr werden dazustoßen. Das gibt mir Hoffnung, dass wir unsere Aktionsfähigkeit zurückgewinnen und wieder ausbauen können – auch in Bezug auf die anstehende Bundestagswahl. Und wenn wir uns Sarah-Lee Heinrich und andere anschauen, die aus der Grünen Jugend ausgetreten sind, dann wissen wir, dass es auch außerhalb der Linkspartei eine Suchbewegung gibt. Ich glaube, dass der Linken eine Revitalisierung, eine Art Frischzellenkur durch eben diese Kräfte guttun würde. Wir haben in Leipzig die positive Erfahrung gemacht, dass es gelingen kann, sowohl alte und neue Mitglieder als auch Leute, die noch nicht in der Linken waren, für ein klar definiertes Projekt zu gewinnen und dieses dann zusammen umzusetzen. Das das ist der Weg, den Die Linke auch anderswo in den kommenden Monaten einschlagen und verfolgen sollte.


Das Gespräch führten Harry Adler und Henning Obens.

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