Wichtig ist aus meiner Sicht auch, eine Ansprache an die Arbeiterklasse zu finden, eine Geschichte zu erzählen, die vielleicht jetzt nicht das Trennende voranstellt, sondern das Einende. Ich habe zum Beispiel von den Erfahrungen erzählt, die meine Eltern gemacht haben. Dass sie oft umgezogen sind und dass früher das Geld im Winter oft nicht gereicht hat, um gleichzeitig die Wohnung warm und die ganze Familie satt zu bekommen. Ich hatte das Gefühl, dass das an den Haustüren, aber auch allgemein in der Öffentlichkeit sehr, sehr gut angekommen ist, weil sehr viele Menschen – auch innerhalb unserer eigenen Partei – etwas damit anfangen können, es ihre Herzen erreicht. Und ich würde mir wünschen, dass Die Linke sich mehr darin übt, Arbeiterbiografien auch in Wahlkämpfen nach vorne zu stellen, wie jetzt in Hamburg, wo die Bürgerschaftswahlen anstehen. Da stellt sich Kai Jäger auf, das ist ein Hafenarbeiter, der muss parallel noch Vollzeit arbeiten. Das ist eine große Herausforderung.
Noch mal zurück zum Stadt-Land-Konflikt. Den sehen wir ja auch in anderen Ländern, etwa ganz extrem in den USA, verbunden mit enstprechenden »Kulturkämpfen«. Was für Strategien seht ihr für Die Linke, um auch im ländlichen Raum wieder Fuß zu fassen?
N.: Genoss*innen von mir in Sachsen haben berichtet, dass es für sie der schwerste Wahlkampf seit Langem war, weil sich die Stimmung bereits derart verschlechtert hat, dass es sehr roh zugegangen ist, dass es sehr, sehr schwierig war, überhaupt in einen Dialog zu treten. Ich muss sagen, dass ich selbst noch um Antworten ringe, wie Die Linke in der Fläche wieder Meter machen kann. Für mich erscheint es sinnvoll, strategisch Ressourcen zu fokussieren und die Orte zu verteidigen, in denen wir früher einmal stark waren, anstatt kopflos jetzt alle Ressourcen in die Breite zu werfen. Ich glaube, es muss da einen Mittelweg geben, eine strategische Fokussierung, gleichzeitig eine Antwort für die Gebiete, wo man als Linke nicht einfach so an die Haustüren gehen kann.
S.: Die Herausforderungen sind auf dem Land eigentlich nicht andere als in der Stadt. Du musst mit den Leuten reden, hinhören, um zu begreifen, was ihre Probleme und Wünsche sind. Haustürgespräche oder Kontaktsaufnahmen zu Menschen funktionieren ja nur dann, wenn ich selbst dazu bereit bin, die Perspektive des anderen zu verstehen. Im ländlichen Raum geht es vielleicht weniger darum, wie bezahle ich meine Miete, sondern darum, was passiert jetzt eigentlich bei der Grundsteuerreform oder bei den Müllgebühren? Was passiert, wenn etwa die Heizkosten für die Häuser steigen? Nicht alle Hausbesitzer sind gleich reich. Ein anderes Beispiel: Die meisten Menschen auf dem Land sind auf das Auto angewiesen, um ihre Kinder in die Schule zu fahren, um einzukaufen oder um zu ihrem Job zu kommen. Und das Gefühl, das ihnen Die Linke vermittelt, ist: Wir wollen ihnen das Auto wegnehmen, ihnen vorschreiben, wie sie heizen sollen und so fort. Ich finde, hier muss Die Linke wieder eine eindeutigere Klassenposition einnehmen, wenn man den Begriff nutzen will. Also ich verstehe heute noch nicht, warum wir uns so positiv gegenüber der CO2-Steuer aussprechen. Die Erhöhung der CO2-Steuer hat zu fünf, sechs Cent höheren Preisen an der Tanksäule in Brandenburg geführt, nur in diesem Jahr. Das macht was. Da frage ich mich, warum sind wir nicht diejenigen, die sagen, warum muss der Endverbraucher schon wieder bezahlen?
N.: Ich würde gern noch einen Aspekt ergänzen: Gerade in Ostdeutschland herrscht ein Mangel an Mitbestimmung, und zwar in verschiedenen politischen, aber auch vorpolitischen Räumen. Steffen Mau hat dazu die letzten Jahre sehr viele gute Sachen geschrieben, zuletzt in seinem Buch »Ungleich vereint«. Deswegen gibt es hier auch so viel Politikverdrossenheit. Diese Skepsis gegenüber dem Politikbetrieb hat damit zu tun, wie das System der Bundesrepublik in den 1990er-Jahren auf den Osten übertragen wurde, Stichwort: Transfer der westdeutschen Führungsebene von den Parteien, der Justiz bis hin zu Wissenschaft und Wirtschaft. Mau argumentiert, dass der Moment, die Repräsentationskanäle der existierenden Demokratie in Ostdeutschland nachhaltig zu verankern, verpasst wurde. Das erleben wir auch auf der betrieblichen und zivilgesellschaftlichen Ebene, wo Ostdeutsche selten die Chance bekommen haben, wirklich etwas mitzubestimmen. Auch darauf braucht Die Linke eine Antwort.
Wenn es stimmt, dass die Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen im Osten so außerordentlich groß ist, dann müsste es doch auch Möglichkeit geben, von links diese zu artikulieren. Wie kann das gelingen?
S.: Dafür müsste Die Linke ihren Elfenbeinturm verlassen. Wir haben uns zu viel in unseren eigenen Eckkneipen herumgetrieben, haben uns gegenseitig auf die Schulter geklopft, aber uns zu wenig anderen Realitäten gestellt. Ich kenne das noch aus meiner Zeit als Gewerkschaftssekretär in Brandenburg. Dieses Treuhand-Trauma, das wirkt fort. Also, es geht ja nicht nur um die Generation, die selbst die Jahre 1990 bis 1992 erlebt hat. Eberswalde etwa, wo ich herkomme, hatte Anfang der 1990er-Jahre noch über 10 000 Arbeitsplätze in der Industrie, heute sind es noch um die 150. Und da ist die Frage, sind wir als Linke dazu bereit, mit von Arbeitsplatzverlust direkt Betroffenen zu reden, auch wenn sie sich vielleicht etwas anders ausdrücken, wie wir das in unseren eigenen Kreisen gewohnt sind? Wenn ich dieses Wort Transformationsmüdigkeit höre, dann steckt da für mich eine gewisse Arroganz dahinter. Nach dem Motto: »Die sind halt zu blöd zu verstehen, dass sie ihren dreckigen Arbeitsplatz jetzt mal verlieren müssen.« Wir sagen den Leuten immer, wir als Linke stehen an der Seite der Beschäftigten und nicht an der Seite der Konzerne. Das müssen wir wirklich einlösen. Erst dann haben wir eine Chance.
Es ist ja tatsächlich ein Dilemma für Die Linke: auf der einen Seite die Dringlichkeit eines sozial-ökologischen Wandels, auf der anderen Rücksicht auf die Transformationsmüdigkeit der Menschen nehmen. Da hat es die AfD einfacher. Sie sagt: Ihr könnt euer Auto weiterfahren und weitermachen wie bisher, die Erzählung vom Klimawandel ist eh Quatsch. Also wie in dieser Konstellation von links für Veränderungen werben und eine fortschrittliche Perspektive entwickeln?
N.: Es ist richtig, dass es die AfD gerade besser schafft, die Menschen zu mobilisieren. Das begründet sich mit einem tiefen Misstrauen der Menschen in Ostdeutschland gegenüber den Eliten und dem Establishment, weil viele Politiker hier als Marionetten gesehen werden oder als Akteure, die sich in erster Linie selbst bereichern und nicht für die Menschen da sind – womit sie ja auch ein Stück weit Recht haben. Von dieser weit verbreiteten Haltung profitieren AfD und BSW sehr stark.