Heute allerdings, da das Konzept der politischen Partei stark infrage gestellt wird und ein bedeutender Teil des antisystemischen Lagers sich in seinem Kampf um identitätsbestimmende (wie wir dennoch anerkennen müssen grundlegende) Fragen zersplittert hat und jede Gruppe für sich ihren eigenen Anliegen nachgeht, müssen wir, um dieser uns schwächenden Fragmentierung entgegen zu wirken, ein neues gemeinsames antikapitalistischen Projekt aufbauen. Und sei dieser Vorschlag in dieser unvorhersehbaren Zeit noch so riskant! Dieses alternative Projekt würde auf drei Grundpfeilern basieren: Demokratisierung der Demokratie, Demerkantilisierung und, als zentrales Anliegen, die sozialökologische Frage. Selbst hundert Jahre nach ihrer Ermordung hat Rosa Luxemburg zu jedem dieser Themen noch einiges zu sagen.
Demokratisierung der Demokratie
Rosa Luxemburg stellt aufgrund ihres Einstehens für einen demokratischen Sozialismus für die gesamte Linke eine Referenz dar. Demokratie und Sozialismus bedingen sich gegenseitig. Autoritärer Sozialismus ist hingegen ein in sich unmögliches Konstrukt. Für Rosa Luxemburg erfordern sowohl der Übergang zum Sozialismus als auch der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft nicht nur die politischen Rechte, die durch bürgerliche Revolutionen hervorgebracht wurden, sondern auch ihre Ergänzung durch die Rechte der sozialen Gleichheit, oder mit anderen Worten: politische Pluralität und soziale Gleichheit. Daraus folgt ihre Orientierung auf die Arbeiterräte als neue Form der Volkssouveränität. Dieses Grundprinzip des Sozialismus wurde in den kommunistischen Ländern missachtet, was die allgemein bekannten Folgen hatte.
Rosa Luxemburgs kompromisslose Verteidigung der demokratischen Freiheiten schien in der Zeit der „progressiven“ Regierungen in Lateinamerika weniger wichtig, denn sie wurden nach dem Ende der Militärdiktaturen als eine unanfechtbare Errungenschaft hingenommen. Doch nun zeigt die Zeit wie selbst grundlegende Freiheiten, die während der bürgerlichen Revolutionen im Westen errungen wurden, in Lateinamerika bis hin zu ihrem vollständigen Verschwinden abgebaut werden. So ist die Einführung der Pressezensur in Bolivien, Ekuador und Nikaragua (vgl. Leite 2018) ein Beweis dafür, dass der in der internationalen Arbeitsteilung untergeordnete Kontinent niemals immun gegen die Veränderungen ist, die in der globalisierten Welt vor sich gehen. Wendet sich diese Welt nach rechts, dann folgen wir. Vor allem deshalb ist das berühmte Schlagwort „Freiheit der Andersdenkenden“ für uns so aktuell wie nie zuvor.
Ein interessanter und äußerst aktueller Aspekt der Verteidigung von Freiheit ist, dass es nach Rosa Luxemburgs Erachten keine freie Gesellschaft ohne bewusste Individuen geben kann, die sich, wie wir heute sagen würden, weder von Politiker*innen noch von Medien oder Propaganda manipulieren lassen. Rosa Luxemburg ist, so wie der Marxismus im Allgemeinen, ein Kind der Aufklärung. Das war ihre Welt und ihre Grenze. Obwohl wir heute wissen, dass eine rationale Aufklärung nicht automatisch freie Menschen hervorbringt, glaubte Rosa dennoch zu Recht, dass es unmöglich ist, eine gerechte, freie und gleiche Gesellschaft zu schaffen, ohne die aktive und bewusste Beteiligung der Bevölkerungsschichten miteinzubeziehen, die am stärksten unter der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ungleichheit des Kapitalismus leiden.
Daraus folgt ihr Enthusiasmus für die Presse- und Vereinigungsfreiheit, für den freien Ideenaustausch auf allen Ebenen und an allen Orten – auch und mit noch mehr Nachdruck in den Arbeiterparteien. Aus der Überzeugung heraus, dass es verboten ist, zu verbieten, ist für Rosa die Partei ein Raum für intellektuelle und politische Debatten, für Aufklärung und Überzeugung durch Argumente und zur Heranbildung selbstständig denkender Menschen –eine Schule des Sozialismus – viel mehr als ein Instrument zur Erlangung der Macht. Ohne intellektuell unabhängige, reflektierende und kritische Menschen wird der Aufbau eines antikapitalistischen Projektes unmöglich.
Die Originalität Rosa Luxemburgs ergibt sich aus dem Verständnis, dass eine Bewusstseinsformung „der da unten“ im praktischen Kampf stattfindet, also in der weitgehend spontanen Aktion gegen bestehende Institutionen und nicht durch Bücher, Flugblätter oder Kaderschulen, obwohl diese ebenfalls notwendig sind. Demnach wird das Bewusstsein nicht von außen von einer Avantgarde von Berufsrevolutionären an sie herangebracht, die die Volksmassen ersetzen. In diesem Sinne darf es auch keine Trennung zwischen Basis und Führung geben. Die Rolle der Führung ist, nicht weiter anzuführen, sondern die Massen zur Selbstführung zu befähigen. Das erinnert nicht nur an das Motto der Zapatisten des „gehorchenden Befehlens“ (mandar obedeciendo), sondern schließt auch jedes caudilistische Projekt aus, in dem eine „unfehlbare“ Führungsriege den Parteiapparat beherrscht und seine Entscheidungen der unterdrückten Basis mitteilt. Aus solch einer „autonomistischen“ Sichtweise kann es keine sozialistische Revolution im Namen des Proletariats geben und in dieser Überzeugung widerspricht Rosa Luxemburg (1911) jeder von bewaffneten Gruppen im Namen des Volkes produzierten Revolution.
Die Idee der Selbstbefreiung der Volksmassen als Motor für strukturelle Veränderungen in der Gesellschaft, die bisher noch nicht von der Geschichte widerlegt werden konnte, zieht sich als roter Faden durch das Werk Rosa Luxemburgs. Sie ist bis heute Inspiration für Feminist*innen: Für die Massen und für Frauen gilt gleichermaßen, dass, wenn sie nicht für sich selbst eintreten, immer Andere über sie oder in ihrem Namen agieren werden. Die Emanzipation der Unterdrückten kann nur aus ihrer eigener Kraft hervorgehen. Geschenkte Freiheit ist keine wahre Freiheit.
Demerkantilisierung
Der zweite Pfeiler spielt auf die Kapitalismuskritik als Basis für die politischen Analysen Rosa Luxemburgs an. In ihrem volkswirtschaftlichen Hauptwerk „Die Akkumulation des Kapitals“ (1913) stellt sie einen „provokanten Vorschlag über die Grenzen nichtkapitalistischer Reproduktion des Kapitalismus“ (Vergés 2018, 188) vor. Sie zeigt auf, dass die Kapitalakkumulation jenseits der Hinzufügung von Mehrwert im historischen Prozess nur durch den Handel zwischen kapitalistischen und nichtkapitalistischen Wirtschaften möglich war und ist. Von Beginn an benötigte der Kapitalismus Außenmärkte für seine Reproduktion, indem er unter anderem einfache Wirtschaften zu Marktwirtschaften machte. Die Gewaltanwendung gegen nichtkapitalistische soziale Schichten und ihre Plünderung, die Marx nur auf die sogenannte Periode der „ursprünglichen Akkumulation“ bezieht, betrachtet Rosa als festen Bestandteil des Kapitalismus bis in seine reifste Entwicklungsphase. Diesen Prozess bezeichnete David Harvey (2004) in seiner Aktualisierung der These Luxemburgs als „Akkumulation durch Expropriation“.
Heute beobachten wir weiterhin, wie alles zu Ware wird: öffentliche Dienstleistungen, Gesundheit, Bildung, Kultur, Wissenschaft, Wissen, Autorenrechte, Umweltressourcen usw. Die Liste ist lang. Die deutschen Feminist*innen der 1970–80er Jahre kamen, angeregt durch Rosa Luxemburg, zu dem Schluss, die nicht bezahle Hausarbeit von Frauen in dieses Konzept mit einzubeziehen und wiesen darauf hin, dass der Raum für Kapitalakkumulation nicht nur geografisch sondern auch im sozialen Sinne zu verstehen ist.
Die Idee der „permanenten ursprünglichen Akkumulation“ wurde durch Silvia Federici in ihrem bereichernden Buch „Caliban und die Hexe“ (1998), das kürzlich in Brasilien erschien, wieder aufgenommen. Sie kritisiert Marx (ohne Luxemburg zu erwähnen), der davon ausging, dass die Gewalt der ersten Phasen der Akkumulation mit voranschreitender Entwicklung des Kapitalismus in dem Maße schwächer werden sollte, in dem die Ausbeutung und die Disziplinierung der Arbeit durch die Funktionsgesetze der Wirtschaft erreicht werde. Federici schreibt: „Hier irrte sich Marx beträchtlich. Denn jede Phase der kapitalistischen Globalisierung, einschließlich der aktuellen, ist verbunden mit einer Hinwendung zu gewalttätigen Aspekten der ursprünglichen Akkumulation. Das zeigt, dass die fortlaufende Vertreibung der Bauern vom Land, der Krieg, die im globalen Maßstab vor sich gehende Plünderung und die Herabwürdigung der Frauen zu den notwendigen Bedingungen der Existenz des Kapitalismus jeder Epoche gehören.“ (ebd., 27)
Luxemburg erkannte an, dass die kapitalistische Entwicklung nicht nur „die Domäne des `friedlichen Wettbewerbes`, der technischen Wunderwerke und des reinen Warenhandels“, sondern auch „das Gebiet der geräuschvollen Gewaltstreiche des Kapitals“ ist (GW 5, 397f). Heute tun es ihr die sozial-ökologischen Bewegungen in Lateinamerika gleich und prangern die Symbiose zwischen dem Staat und den großen Unternehmen an, die die Lebensgrundlage der traditionellen Völker bedrohen (der Waldbewohner*innen, der Quilombolas, der Flussanrainer, der Indigenen, der Landlosen etc.). Das Land und seine Biodiversität sind – wie auch während der Kolonialperiode – Ziel der kapitalistischen Landnahme, gegen die sich diese Völker wehren, um ihre Lebensform zu verteidigen.