Mit der Frage nach dem ›Marxistsein/Marxistinsein‹ (M) rücken die Subjekte in den Fokus. Das Politische zeigt sich im Persönlichen. (…) Ungezählte haben sich als Marxisten verstanden. Auf dem Höhepunkt der revolutionären Kämpfe des 20. Jahrhunderts zählten sie nach Millionen. Zustrom erhalten sie, je nach historischer Konstellation, aus immer neuen Generationen und Weltgegenden. Und immer, so Norman Geras, ist dabei »eine Art existenzieller Wahl, die jemand trifft«, mit im Spiel (2011, 5). Anders als übers Sozialist- oder Kommunistsein ist dennoch nur selten und eher beiläufig übers M, seine Triebkräfte und Praxen, seine Widersprüche und Krisen, seine Produktivität und seine vielfältigen Ausprägungen theoretisch reflektiert worden. (…)

Die »postkommunistische Situation« (Haug 1993) ist determiniert durch die neoliberale Befreiung des Kapitals von den Fesseln der unterm Zeichen der Systemkonkurrenz erkämpften Sozialkompromisse und dem Schleifen der nationalstaatlichen Schutzschranken zum Weltmarkt hin im Zuge des beschleunigten Übergangs zum transnationalen Hightech-Kapitalismus. Dessen Krisen, begleitet von neuen Kriegsszenarien, halten die Welt seither in Atem. (…) Den Marxismus mit seinen wissenschaftlichen Kerngehalten der Kritik der politischen Ökonomie und des Geschichtsmaterialismus sieht Georg Fülberth in dieser Lage, »wenn er nicht völlig verschwindet, akademisch« werden (2013).

Doch das theoretische und wissenschaftliche Moment des M ist weder auf Akademiker*innen beschränkt noch an die akademischen Apparate gebunden, denn, so Louis Althusser, »ein Marxist [kann] weder in dem, was er schreibt, noch in dem, was er tut, kämpfen […], ohne seinen [Kampf] zu denken« (1975, 54). (…)
Zugleich zeigt sich das M als politisch-ethische Gestalt, da es die Einzelnen mit der Verantwortung für die gesellschaftliche Welt und ihre Naturverhältnisse konfrontiert. Die tätige Orientierung an dem »kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (KHR, 1/385), und an der Forderung, die Erde »den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen« (K III, 25/784), hat ihren Preis. Franz Mehring (Jg. 1846) hat als einer der Ersten zu Protokoll gegeben, dass

»das Bekenntniß zum historischen Materialismus einen hohen sittlichen Idealismus erfordert, denn es zieht unfehlbar Armuth, Verfolgung und Verleumdung nach sich, während der historische Idealismus die Sache jedes Karriereschnaufers ist, denn er bietet die reichste Anwartschaft auf alle irdischen Glücksgüter, auf fette Sineküren« (1893, 442).

(…) Doch wird die Entscheidung nicht aus Selbstlosigkeit getroffen.

»Wer nicht fähig ist, über ein privates Unrecht, das ihm geschehen ist, zornig zu werden, der wird schwer kämpfen können. Wer nicht fähig ist, über andern angetanes Unrecht zornig zu werden, der wird nicht für die Große Ordnung kämpfen können.« (Brecht, GW 12, 576) (…)

Wenn wir davon reden, Marxist zu sein, ist klar, dass von ›Marxismus‹ ohne Weiteres nicht mehr die Rede sein kann. Frei nach Goethes Beschwörung, »umzuschaffen das Geschaffne, damit sich’s nicht zum Starren waffne« (Eins und Alles, BA 1, 540). Doch dieses Wagnis des Umschaffens, das Aufbrechen des sedimentierten Marxismus, um ihm auf die Sprünge zu helfen, in einer sich verändernden Wirklichkeit anzukommen, führt unvermeidlich in Konflikte. (…) Daher gilt es, »die lebendigen und gelebten Widersprüche, d.h. die Dialektik« des M zu denken (Lefebvre 1959, 683), also auch die innermarxistischen Konflikte, nicht nur die des M in bürgerlich-kapitalistischer Umgebung.

Die Genealogie des M führt zurück auf den Antimarxismus. Es waren die Gegner von Marx auf der Linken, die dessen Anhänger »Marxisten« tauften, um sie zu isolieren. (…) Daher muss man sich zunächst über die Worte »Marxist sein, Kommunist sein« verständigen, fordert Henri Lefebvre. »Man hat sich den Marxismus und den Kommunismus im ontologischen Modus (das Sein) statt wie Marx zufolge im Werden und der Bewegung vorgestellt.« (1959, 683f) »Man ist nicht Marxist«, bestätigt Lucien Sève, »man wird es. Und in Wirklichkeit kommt man mit diesem Werden nie zum Ende. Denn Marxistsein heißt nicht, ein vorgegebenes Programm zu absolvieren, sondern unaufhörlich eine Einstellung und eine Praxis zu erfinden.« (…)

Motive des Marxistbleibens

Labriola hat in der nach Engels’ Tod zum ersten Mal sich manifestierenden »Krise des Marxismus« die Erfahrung mit der Abwendung vom M festgehalten: »Gewisse Leute verlassen uns, andere werden unterwegs schwach. Wollen wir jenen glückliche Reise wünschen und diesen einen tüchtigen Stärkungsschluck geben.« (zit.n. Luxemburg, GW 6, 265) Den Stärkungsschluck für die Wankenden verspricht er sich von der Bewusstmachung dessen, was »hinter all diesem Diskussionslärm« steckt: »Glühende, lebhafte, hastige Hoffnungen, die man vor einigen Jahren hegte, diese Erwartungen mit zu deutlichen Einzelheiten und Umrissen«, bleiben angesichts der Schwierigkeiten »auf halbem Wege stehen und entgleisen« (264f). (…)

Nach den Gründen des Marxistbleibens fragend, stößt man auf seine ›Produktivität‹. (…) Denn das Individuum ist ein »Dividuum«, wie Brecht (…) sagt, »eine mehr oder minder kampfdurchtobte Vielfalt« (GA 22.2, 691). Sein Selbstsein ist vielfach und widersprüchlich bestimmt. Die vom M freigesetzte, als Zuwachs an Handlungs- und Denkfähigkeit erfahrene Produktivität bedingt, welche Bestimmungen überwiegen, und vielleicht noch, warum im konkreten Fall weder das Privat-Ökonomische noch das korporatistisch beschränkte ›Klasseninteresse‹ die Oberhand gewinnt, sondern eine »Hinaufarbeitung« ins hegemoniefähig Allgemeine (Gramsci, Gef, 10.II, §6, 1259). (…)
Für die Lohnarbeitenden bedeutet das M, wo es kollektiv geteilt wird, die Verwandlung von Konkurrenten in Genossen und der individuellen Ohnmacht in Klassenmacht. Sie erfahren sich zugleich zur Mitwirkung an Selbstvergesellschaftung gerufen. (…) Die Marx-Lektüre konnte freilich von den einfachen Lohnarbeitenden »nur kollektiv bewältigt werden. Diese Erfahrung hat die Arbeiterklasse seit 1860 gemacht, in ihren Bildungszirkeln. […] Also gerade die politisch interessierten Schichten müssen das sich mühsam einlöffeln.« (Eisler, Gespräche, 124) (…) Dann kann daraus etwas erwachsen: »Solidarität – nämlich Verkehrsformen herauszubilden, die sich aus den Unterdrückungen und Knechtungen der herrschenden Klasse lösen«, so Hans-Jürgen Krahl (1969/1971, 21f).

Theorie und Praxis

Die Theorien von Marx, Engels und ihren Nachfolgern konnten und können

»nur insoweit zu einer ›geschichtsmächtigen‹ (oder bescheidener: praktisch relevanten) geistigen und politischen Macht werden«, als sie »von großen sozialen und politischen Bewegungen […] gleichsam als ›Emanzipationstheorie‹ rezipiert, übersetzt und anerkannt« werden (Deppe 1991, 27).

Diese Verbindung hebt den Marxismus über eine bloße Denkrichtung hinaus und trägt den marxistischen Individuen auf, sich in beiden Bereichen zu bewähren, dem der wissenschaftlichen Theorie und dem der Klassenkämpfe. Die »Einheit von Theorie und Praxis« zählt daher zu den Grundforderungen ans M, das dadurch mit einer Reihe von Widersprüchen aufgeladen wird. Die Erfahrung, dass wissenschaftliche Theorie und politische (organisierte) Praxis nicht nahtlos zusammengehen, sondern teilweise gegensätzlichen Regeln folgen, begleitet den Marxismus von Anfang an.
Selbst bei Marx und Engels, wo Theorie und Praxis als die beiden Pole des M in Personalunion verkörpert scheinen, macht sich die Differenz geltend. Sie blitzt auf in einem Brief Victor Adlers, des Begründers der österreichischen Sozialdemokratie, in dem er an Engels schreibt,

»wie wir in Oesterreich alle an Dir hängen und wie wir […] davon durchdrungen sind, was wir Dir zu danken haben. In einem Sinne Dir mehr, oder sagen wir: Anderes als Marx: Politik und Taktik. Anwendung der Theorie in corpore vivo.« (21.1.1890, III.30/169)

Marx steht primär für Theorie, Engels für Praxis.

In dieser Sichtweise legt sich das Verhältnis von Theorie und Praxis auseinander ins Verhältnis von »Theoretiker und Politiker«, deren Personalunion, wie Lukács 1965 registriert, »eine eher außergewöhnliche Erscheinung« bildet.

»Die erste Arbeiterbewegung hat zweifellos Glück gehabt, dass Marx und nach ihm Engels und nach diesem Lenin Männer waren, die in sich die Fähigkeiten der großen Theoretiker mit den Fähigkeiten hervorragender Politiker vereinten. […] Heute kann niemand sagen, ob es in unserer Bewegung je wieder eine Zeit geben wird, in der der politische Führer zugleich auch jene Persönlichkeit sein wird, welche die Lehre der Bewegung leitet. […] Deshalb müssen wir […] unsere Aufmerksamkeit bewusst auf den ›Dualismus‹ [von Theorie und Praxis] konzentrieren, [um] eine im Interesse der Bewegung optimale Zusammenarbeit der in jeder Partei vorhandenen Politiker und Theoretiker herbeizuführen.« (W 18, 378)

Von Gramsci ist zu lernen, dass damit hinterrücks eine Problemverschiebung stattgefunden hat. Jetzt steht das taktische Verhältnis zweier leitender Intellektuellenabteilungen im Brennpunkt und überdeckt das strategische Problem des Verhältnisses zwischen ›Einfachen‹ und Intellektuellen oder ›Basis‹ und Führung zusammen mit der Austragung des Theorie/Praxis-Widerspruchs im M jedes Individuums. (…)

Damit geht ein zweiter Widerspruch einher. Die theoretische Bildung als Bedingung trägt ins M von Nichttheoretikern ein Moment der Fremdheit – Inkompetenz, gemischt mit Unterordnung. Laut Engels ist es

»namentlich die Pflicht der Führer […], sich über alle theoretischen Fragen mehr und mehr aufzuklären, […] und stets im Auge zu behalten, dass der Sozialismus, seitdem er eine Wissenschaft geworden, auch wie eine Wissenschaft betrieben, d.h. studiert werden will«, und »die so gewonnene, immer mehr geklärte Einsicht unter den Arbeitermassen mit gesteigertem Eifer zu verbreiten« (1874, 18/517).

Entsprechend ›fremdelt‹ die Arbeiterbewegung angesichts der Theorie, was sich immer wieder als Ambivalenz bemerkbar macht und sich zur Intellektuellenfeindschaft, begleitet vom Gegenextrem des Führerkults, steigert.
Es sind zunächst inhärente, ja konstitutive Gründe fürs M, die die Einheit von Theorie und Praxis verlangen. »Was in der Analyse zählt«, schreibt Althusser 1985 in Umkehrung dessen, was er 1974 als seine »theorizistische Abweichung« (Selbstkritik, 35 u.ö.) widerrufen hat, »ist nicht die Theorie, sondern (ein materialistisches und marxistisches Grundprinzip) die Praxis« (L’avenir, 160). Sève wird ihm in der Akzentuierung der Praxis beistimmen, doch ohne den ausschließenden Gegensatz zur Theorie:

»Das ist der Hauptunterschied zwischen dem Marxisten und dem Marxologen, der gelehrter als so manche Marxisten in Bezug auf das Marx’sche Werk sein mag, für den dieses jedoch toter Buchstabe bleibt. Erstes Hauptmerkmal des Marxistseins: Es ist kein bloßes Wissen, es ist das, was ich eine geschichtliche Individualitätsform nenne, eine praktische Lebensweise, wie sie die elfte Feuerbach-These definiert: ›die Welt zu verändern‹ und in derselben Bewegung das Leben zu ändern.« (2014) (…)

Und die Bewegung ist ins Wasser der Geschichte geworfen und muss schwimmen lernen. M zeichnet sich dadurch aus, dass es »sich nicht nur in die ablaufenden Kämpfe einschreibt, sondern sie kritisch zu denken und zu verändern vermag« (Sève 2014). Dieser Sachverhalt hat eine Antinomie ins M eingezogen. Zu sein heißt hier werden, und es bleibt nur, indem es sich ändert. Dem Marx’schen Grundimpuls treu zu bleiben heißt, über Marx hinausgehen. Auch die treueste Übersetzung dieses Impulses in veränderte Verhältnisse verlässt – oder verrät? – das Original. (…)

Lombardo Radice und Aldo Natoli sind sich im Klaren darüber, dass sie (z.B. für die konkrete Situation ihrer Zeit in Italien), »genauso wie Lenin eine Revolution gegen das [Marx’sche] ›Kapital‹ (so schrieb Gramsci) durchgeführt hatte«, »eine Revolution gegen [Lenins] ›Staat und Revolution‹ anstiften [mussten]«. (…)

»Um in Marx’ Sinn Wissenschaftler zu sein, muss man also jederzeit bereit sein zum Revisionismus. ›De omnibus dubitandum est‹ (an allem ist zu zweifeln) war Marx’ wissenschaftliches Credo. Selbstverständlich gehören auch alle Theorien und Ideen, die von Marx stammen, zu dem, woran nicht nur gezweifelt werden darf, sondern woran immer wieder gezweifelt werden soll, wenn der Marxismus lebendig bleiben und zur allgemein anerkannten Grundlage der Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft werden soll«, so Robert Havemann (1978b, 33).

(…) Die stalinistische Abkehr vom emanzipatorischen Kern der Gründungsimpulse setzte die »Notwendigkeit einer ›Reformation‹ des Marxismus« (Albers 1983/1987, 47/34) auf die geschichtliche Tagesordnung. Der zu spät gekommene Versuch einer Reformation des real existierenden Sozialismus unter Gorbatschow erwies dessen Reformunfähigkeit und mündete in den Untergang. (…)
Eine spezielle Zuspitzung erfuhr dieses Konfliktpotenzial, als die Nach-68er-Welle der Zweiten Frauenbewegung die Gewerkschaften, Kirchen und die als marxistisch sich verstehenden Organisationen und Institutionen erreichte. Wo immer die Frauen ihre ›Hälfte des Himmels‹ oder sogar insgesamt andere Geschlechterverhältnisse in Theorie und organisierter Praxis einforderten, kam es zu Ausschlüssen oder Abspaltungen. So in einer Reihe europäischer KPn, Gewerkschaften und einigen Zeitschriften (etwa in New Left Review). (…) Die feministische Weiterbildung des Marxismus ist ein langwieriger Prozess. Nach einem Besuch am Grab von Karl Marx dichtete die feministisch-sozialistische Theologin Dorothee Sölle (1983, 122):

»und falls ich mein frausein eine zeitlang vergessen hab / um eine gute sozialistin zu werden / hol ich es wieder hervor / und bringe es ein / […] / wenn wir das weibliche denken lernen / werden wir alle eure begriffe / erweitern müssen wie röcke / weil wir pausenlos / in anderen umständen sind«.

Marxistenverfolgung

Dass dem M von kapitalistischer Seite mit Feindschaft begegnet wird, ist nicht anders zu erwarten, strebt es doch im Kern »das Ende des Privateigentums an den Produktionsmitteln« an (Lefebvre 1959, 685), also die Aufhebung der Grundlage bürgerlicher Klassenherrschaft. (…) Auch wenn es nur einer kleinen Minderheit von Marxisten erging wie im deutschen Faschismus als der »nacktesten, frechsten, erdrückendsten und betrügerischsten« Form des Kapitalismus (Brecht, Fünf Schwierigkeiten, 1934, GA 22.1, 78) den Kommunisten Hans Coppi (Jg. 1916), Hilde Coppi (Jg. 1909) und Arvid Harnack (Jg. 1901) sowie den anderen Mitgliedern der Widerstandsgruppe Rote Kapelle, die »von ihren hohen Zielen in tiefste Erniedrigung geworfen« wurden, wie es in Peter Weiss’ »Ästhetik des Widerstands« heißt (1983, Bd. 3, 218), und bestialisch hingerichtet wurden, so haben doch die Marxisten aller Generationen in der einen oder anderen Form die Folgen ihres Widerstands gegen die Herrschaft des Kapitals zu spüren bekommen.

Als der in Frankfurt/Main geborene belgische Marxist Ernest Mandel (Jg. 1923), der im NS-Staat deportiert und inhaftiert worden war, 1972 zum Professor an die Freie Universität Berlin berufen werden sollte, verweigerte der Westberliner Senat die Berufung und die Bundesregierung verhängte ein Einreiseverbot. Solche und viel schlimmere Schicksale haben die kritisch-schöpferischen Geister zu allen Zeiten erwartet. »Auf eigene Faust denken war immer ein Kreuz, innerhalb wie außerhalb der kommunistischen Parteien.« (Fernández Buey 2010, XXXIV) (…)

Der wie so viele andere von der Oktoberrevolution hingerissene Gramsci rühmt im November 1917 Lenins freien Umgang mit der Differenz zwischen dem historischen und dem geschichtlich fortwirkenden Marx:

»[W]enngleich die Bolschewiki einige Feststellungen des ›Kapital‹ ignorieren, so ignorieren sie nicht das ihm innewohnende, lebensspendende Gedankengut. Sie sind keine ›Marxisten‹; sie haben nicht auf der Grundlage der Werke des Meisters eine aufgesetzte Lehre aus dogmatischen und unbestreitbaren Behauptungen fabriziert. Sie leben gemäß dem marxistischen Denken, das niemals stirbt« (1991, 32).

»Keine ›Marxisten‹« zu sein, charakterisiert hier genau den auf die konkrete Situation Russlands hin aktualisierten Marxismus.

Aber gerade dieses von Gramsci Gerühmte enthielt auch den Keim, der dem marxistischen Denken (und der Mehrzahl der Mitstreiter Lenins) unter Stalin den Tod brachte. Der Widerspruch zwischen werdendem und gewordenem Marxismus steigert sich zum Antagonismus, wo, wie im Marxismus-Leninismus, eine historisch spezifische Gestalt staatsparteilich institutionalisiert wird. (…) Das Gift wirkte auch außerhalb des staatssozialistischen Lagers. (…)

In konkreter Utopie leben

Seinen negativen Ausgangspunkt (…) hat das M von Marx her im Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung. Soll jedoch die Negation solcher Verhältnisse, ja soll alle marxistische Kritik nicht in pseudorevolutionären Nihilismus umschlagen, sondern zur ›Aufhebung‹ im Sinn der Höherhebung werden, muss sie (…) in der Zielvorstellung von Verhältnissen (ankern), die Selbstbestimmung, Solidarität, Menschenwürde und »die sozialen Garantien des Lebens« (Luxemburg, GW 4, 361, Fn. 1) auf dem Boden einer diesen Zielen verpflichteten Produktionsweise allen Menschen gewähren. Bloch bringt die Pole der Abstoßung und der Anziehung ins Bild vom »Kältestrom« vs. »Wärmestrom« (PH, GA 5, 235ff). Mit der Zielzugewandtheit des Letzteren ist gesagt, dass das M in einem »Noch-Nicht-Sein« (235) ankert. (…)

Luxemburgs Antwort auf das unmittelbare Auseinanderfallen von Reform und Revolution ist die Orientierung auf »revolutionäre Realpolitik« (GW 1/2, 373), was Frigga Haug als die Aufgabe begreift, um eine Realpolitik zu ringen, die den »spannungsreichen Vermittlungszusammenhang zwischen Nah- und Fernziel« aufrechterhält (2007, 62). Diese »Spannung zwischen Weg und Ziel« (63), dem jeweiligen Tag und einer ungewissen Zukunft, durchzieht alles M. (…) Bloch versucht diesen Dualismus im Begriff der »konkreten Utopie« aufzuheben (1975, 234). Da das utopische Moment im M im Namen einer ideologisch verabsolutierten ›Wissenschaftlichkeit‹ verdrängt wurde, bekam er »große Schwierigkeiten in der DDR«, als er diesen Begriff in den Marxismus einführte (ebd.). (…) In der Tat gilt marxistische Kritik der Entwirklichung objektiver sozialer Möglichkeiten durch die Herrschaftsverhältnisse, und der Stützpunkt ihrer Zielvorstellung sind unverwirklichte Möglichkeiten. (…)

Wie aber war es im Staatssozialismus, wo die Bedingungen vorhanden schienen, das objektiv Mögliche zu verwirklichen? Hier zeigte sich, dass es so einfach nicht war. Es waren nur die politischen Bedingungen vorhanden und selbst diese nur abstrakt, weil in Gestalt der gewaltgepanzerten Staatsmacht getrennt von der Gesellschaft. In der Sowjetunion verhängte das System der auf Befehl und Administrieren gegründeten Produktionsweise den Fluch »des Bürokratismus und der Misswirtschaft, der sozialen Apathie und der Verantwortungslosigkeit« über die Gesellschaft, wie Michail Gorbatschow (Jg. 1931) gesagt hat (1988; zit.n. Haug 1989, 156). Was die Selbstblockierung des Autoritärstaats durch die von Anatoli Butenko (Jg. 1925) angeprangerte »kolossale Zersetzung des menschlichen Faktors« (1988) nicht schaffte, vollendeten die ökonomischen Kräfteverhältnisse in einer durch die Produktivkräfte quer zu allen Trennungen immer mehr sich integrierenden Welt. Blockiert war Selbstvergesellschaftung. Sie aber ist das eigentlich kommunistische Moment. (…) Etwas davon musste hier und jetzt sogleich beginnen. Da die Distanz zum Fernziel sich nicht aufheben ließ, setzt Lothar Kühne auf die »Fähigkeit der Individuen und ihren Drang, den Widerspruch von Ideal und Wirklichkeit unablässig neu zu setzen« (1981, 267). Was er so als »subjektive Reproduktionsbedingung kommunistischer Verhältnisse« bestimmt (ebd.), charakterisiert einen Grundzug des M. Der ML an der Macht legitimierte sich über das Ziel und blockierte zugleich dessen Verfolgung, wo sie Rückverlagerung von Initiative in die Gesellschaft verlangte. Fürs M waren die Folgen verhängnisvoll.

Marx’ Gespenster

Ein anderer als der von Stuart Hall 1983 umrissene »marxism without guarantees« ist nurmehr Sache von Sektierern. Bietet er keine Gewähr, so doch eine intellektuelle Wissensressource, die zugleich Widerstandsressource ist. Ihr entspricht die praktische Haltung von Menschen, die Widersprüche und Niederlagen aushalten und »nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern« (Gramsci, Gef, H. 1, §63, 136), sei es im Modus trotziger Selbstverständlichkeit, sei es im Modus der »begriffenen Hoffnung«, die, so Bloch (PH, GA 5, 5), enttäuschungsfest ist.
Für die kritischen Intellektuellen hat Jacques Derrida die Gründe auf den Punkt gebracht, warum es gerade nach dem Untergang der Sowjetunion unbefangen möglich und notwendig sei, Marxist zu sein: Erstens herrsche erstmals Kapitalismus als ökonomischer Weltzustand. Zweitens hätten nie zuvor »in der Geschichte der Erde und der Menschheit […] Gewalt, Ungleichheit, Ausschluss, Hunger und damit wirtschaftliche Unterdrückung so viele menschliche Wesen betroffen« (1996, 139). (…) In diesem Sinn spricht er von der Existenz einer

»neuen Internationale« der Wachen dieser Erde als »ein noch diskretes, fast geheimes Band, wie um 1848 […] ohne Status, ohne Titel und ohne Namen, kaum öffentlich, auch wenn es nicht verborgen ist, […] die sich trotz alledem weiterhin von wenigstens einem der – wie das im Manifest beschworene ›Gespenst des Kommunismus‹ (4/461) – umgehenden »Spektren/ Gespenster von Marx oder des Marxismus inspirieren lassen (sie wissen jetzt, dass es mehr als eines davon gibt)« (Derrida 1996, 139). (…)

Werden

Die krisengetriebene permanente Produktivkraftentwicklung des Hightech-Kapitalismus, die Lebensweisen ebenso umwälzt wie die gesellschaftlichen Verhältnisse und globale Konstellationen der politischen, ökonomischen und kulturellen Mächte (…), verlangt von Marxisten und Marxistinnen, im Werden zu bleiben. Nicht auszuschließen ist, dass das M in der krisengeschüttelten und von extremer Ungleichheit und Korruption zerfressenen Welt des globalen Kapitalismus im ›Imperium‹ des 21. Jahrhunderts einmal rückblickend mit dem Christ-, Epikuräer- oder Stoikersein der römischen Kaiserzeit verglichen werden wird, als eine Individualitätsform mit der Haltung zuverlässiger Dienstbereitschaft gegenüber der ›Allgemeinheit‹ inmitten einer zerfallenden Gesellschaft im Sinne lokal aktiver – in den Worten des russischen Dichters Jewgeni Jewtuschenko (Jg. 1932) – »Patrioten der Menschheit« (2014). Ihre Haltung würde sich durch ein Ethos auszeichnen, das die gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen mitsamt ihren Naturverhältnissen umfasst. Ihr Leben und Wirken würde sich im Unfertigen und Ungewissen entfalten, Seite an Seite mit anderen politisch-ethischen Rücken-an-der-Wand-Kräften, während, am Rande der Klimakatastrophe, das alte imperialistische Spiel erneut begänne, nun aber mit den Waffen der Hochtechnologie. Doch die Dialektik ist für Überraschungen gut.

Auszüge aus dem gleichnamigen, 61 Spalten langen Stichwort-Artikel des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus. Die Zwischenüberschriften sind teilweise neu hinzugefügt.