Der vorliegende Beitrag von Antonio Negri ist eine kritische Würdigung von Ernesto Laclau, der am 13. April 2014 verstarb. Mit zahlreichen Anleihen bei den Theorien von Althusser, Derrida und Lacan hat Laclau seit Mitte der 1980er Jahre gemeinsam mit Chantal Mouffe eine besondere Spielart des Postmarxismus entwickelt. Bekannt wurde er für eine hegemonietheoretische und postfundamentalistische Demokratie- und Populismustheorie. Dass es zwischen Laclau und Negri, wie Letzterer voller Wertschätzung betont, seit Langem einen Austausch gegeben hat, ist bemerkenswert, denn ihre Theorien und politischen Positionen differieren erheblich. Dies macht ein Blick auf den Begriff der Multitude deutlich, der für Negri zentral ist.

Die Multitude ist die Klassenformation des aktuellen globalisierten Kapitalismus, des Empire. Sie ist keine Masse, auch kein Volk, sondern ein klassenförmiges und handlungsfähiges Kollektivsubjekt, das sich aus Singularitäten, den verschiedenen Gestalten der gesellschaftlichen Arbeit zusammensetzt. In ihrer Kooperation in allen Lebensbereichen, also in der Erzeugung von Gütern, der Pflege, der Kommunikation produzieren sie das Gemeinsame. Die Multitude bringt als dezentrales Netzwerk die lokalen Widerstände, die globalen Strategien und einen neuen Universalismus zusammen. Für die Differenz von Negri und Laclau ist entscheidend, dass sich die Multitude in der gemeinsamen Kooperation konstituiert und darin die Grundlage für einen neuen Universalismus und damit die Bedingung zum Kommunismus findet. Das Kapital eignet sich die Produktivität der Kooperation, der Kommunikation oder der Gefühle an, trägt aber nicht mehr produktiv zu ihnen bei, sondern ist nur noch parasitär. Es bedarf also einer befreienden Politik des konstituierenden Handelns, das die Multitude aus dem Zustand des Immer-schon der Kooperation in den Zustand des Noch-nicht führt, in dem die Singularitäten das Gemeinsame ihrer Kooperation ohne Kommando, ohne vertikalen Staat gestalten. Die Denkfigur von Negri ist in der marxistischen Tradition vertraut. Die Produktivkräfte sind schon entfaltet, doch die Eigentumsverhältnisse blockieren die Möglichkeiten, ihnen gemäß zu leben. Das emanzipatorische Klassensubjekt existiert und handelt bereits in einer durchaus universalistischen Perspektive – es muss sich nur noch endgültig durchsetzen.

Es sind gerade solche Überlegungen und darin enthaltenen Annahmen, gegen die sich Laclau gewandt hat. Im Zentrum seiner Überlegung steht die Vergesellschaftung durch soziale Bewegungen, die sich antagonistisch gegen diejenigen bilden, die die Formierung ihrer vollen Identität verhindern. Identitäten, Antagonismen oder materiellen Bedingungen werden von ihm als diskursive Einheiten verstanden. Es sind Diskurse als ein hegemoniales Ensemble von Bedeutungen, die das Handeln von Subjekten bestimmen. Aus Laclaus Sicht begeht Negri also den in der materialistischen Tradition gängigen Fehler, von den materiellen Bedingungen der Kooperation auf die Konstitution eines Kollektivsubjekts und seine Handlungsperspektiven zu schließen. Doch materielle Bedingungen konstituieren als solche kein Kollektiv. Die Klasse der Lohnarbeitenden ist nach Geschlecht, Ausbildung, nationaler Herkunft, Arbeitsverhältnis oder Kampferfahrung sehr heterogen. Jeder Universalismus kann also nur das Ergebnis von politischer Aktivität sein. Daraus resultiert für Laclaus Hegemonietheorie, dass nun solche Allgemeinheitsansprüche immer wieder von Neuem mit dem Argument bestritten werden, dass sie jeweils Subjekte und ihre Lebensverhältnisse unbeachtet lassen oder ausgrenzen. Laclaus Überlegungen weisen darauf hin, dass keine soziale Gruppe als solche das Allgemeine verkörpert. Allein der Anspruch, eine Mehrheit, die 99 Prozent, gegen eine kleine Minderheit zu sein, gewährt noch keine Universalität. Das Universelle muss neu gedacht werden.
Negri ist das durchaus klar. Laclaus Lösungsstrategie überzeugt ihn aber nicht, da sie in der philosophischen Tradition verbleibt und den Formalismus des Konflikts zwischen dem Allgemeinen und Partikularen fortsetzt. Allerdings löst Negri das Problem durch einen Trick. Wenn er von der Multitude spricht, unterstellt er den Standpunkt einer Allgemeinheit. Diese bestehe aus der horizontalen Differenz der Singularitäten, die in der Kooperation, in der Produktion von Gütern, in den sorgenden und kommunikativen Arbeiten das Gemeinsame erzeugen. Das kollektive Moment ist das Ergebnis der Kooperation. Insofern existiert da logisch kein Ort der Allgemeinheit, der von einer einzelnen Singularität usurpiert werden kann, um im Namen der Allgemeinheit zu sprechen und sich über Einzelne hinwegzusetzen. So wichtig diese Überlegung von Negri ist, weil sie die aus der bürgerlichen Tradition überlieferte Notwendigkeit eines Abstrakt-Universellen bestreitet, so bleibt doch unklar, wie die Singularitäten Konflikte untereinander austragen, zur Universalität gelangen und ein gemeinsam entscheidendes und handelndes Kollektiv werden. Negri unterstellt eine Universalität der Multitude, wo Laclau vorschlägt, sie allenfalls als Ergebnis eines Prozesses der Universalisierung zu begreifen.
Die Antwort, die Laclau gibt, gefällt Negri nicht. Er hält sie für kantianisch-transzendental und vertritt die Ansicht, dass Laclau damit eine Geste wiederholt, die vor dem Ersten Weltkrieg von der Linken schon einmal praktiziert wurde und heute ihre Aktualität aus der postsowjetischen Konstellation gewinnt: Mit ihr sei ein Gefühl der Niederlage verbunden, aber auch die Einsicht, dass weder ein präkonstituiertes Subjekt des Klassenkampfs existiert, noch der Klassenkampf weiterhin Zentralität beanspruchen kann. Negri kritisiert, dass Laclau zu den gesellschaftlichen Verhältnissen nichts sagen kann, in denen um Universalität gerungen werden muss; und dass er deswegen grundsätzlich unterstellen muss, es werde immer Spannungen und Widersprüche zwischen den Subjektivitäten geben. Das stimmt, Laclau tendiert zu einer abstrakten Konflikttheorie. Sein Vorschlag für eine Strategie, wie solche miteinander in Konflikten befindliche Singularitäten zu einer Universalität gelangen, ist formal. Entweder stehen die verschiedenen Forderungen differenziell und pluralistisch nebeneinander und die sozialen Gruppen handeln nicht gemeinsam – oder es kommt zur Bildung einer Äquivalenzkette dadurch, dass Singularitäten ihre Gemeinsamkeit in der Feindschaft gegen einen diskursiv konstruierten Antagonisten herausbilden. Diese Bestimmungen sind jedoch jeder konkreten Erfahrung und Praxis vorausgesetzt. Aus Negris Sicht haben sie ihre Grundlage nicht in den wirklichen Kämpfen. Laclau nehme deswegen an, dass gemeinsame Ziele und Strategien von oben und von außen durch eine formgebende Synthesis gegeben werden müssen, einen »leeren Signifikanten«, der wie eine Hülle verschiedene Aktivitäten umfasst. Aus diesem Grund hört auch der Streit um das Universelle nicht auf, denn immer wieder wird eine Singularität den Anspruch auf das Allgemeine erheben und Hegemonie anstreben – was dann von anderen Singularitäten bestritten werden muss.

Das ist keine genaue Deutung der Überlegungen von Laclau. Denn dieser nimmt an, dass der Prozess von unten ausgeht: Ein sozialer Akteur und seine Forderungen formieren sich erst in der Konstruktion und Polarisierung eines Antagonisten. Es kann dann zu Hegemonie und Universalisierung in dem Maße kommen, wie dieser eine Akteur und seine Ziele in immer stärkerem Maße auch die Forderungen anderer sozialer Gruppen absorbieren und ­repräsentieren, also zu der universellen, hegemonialen Kraft werden, die einem Antagonisten entgegengesetzt ist, der in zunehmendem Maße für Negative schlechthin steht. Die Identität jenes universellen Akteurs wird – nach einem Begriff von Laclau – zu einem »leeren Signifikanten«, weil er gleichzeitig viele jeweils antagonistische Bedeutungen repräsentiert. Ein Beispiel dafür: Die Kritik an Atomkraftwerken kann gleichzeitig viele verschiedene Kämpfe bedeuten: den gegen die Atomenergie, die Aufrüstung, den Kapitalismus, den den Sozialismus einschließenden Industrialismus, die Natur- und Umweltzerstörung, das Wachstum, die Polizeigewalt oder den autoritären Atomstaat. Auch wenn Negris Kritik am Begriff des leeren Signifikanten nicht überzeugt, weil er selbst sich für den Prozess der Universalisierung nicht interessiert, so hat er doch mit dem Einwand recht, dass Laclau formalistisch bleibt. Denn bei all diesen Kämpfen um Hegemonie geht es ja um nichts anderes, als dass sich verschiedene leere Signifikanten nacheinander ablösen, jeweils also andere Universalismen, Identitäten und Antagonismen gelten. Die Folgen für die sozialen Akteure und die Verhältnisse bleiben jedoch völlig unklar und unbestimmt. Dieser formale Dynamismus soll Demokratie sichern, denn immer kann und soll von Neuem um das Universelle gekämpft werden; dieses darf sich nicht abschließen. Gleichzeitig allerdings wird damit die Demokratie im konkreten Sinn folgenlos. Denn kein soziales Problem kann gelöst werden. Dies gilt in besonders grundsätzlicher Weise dort, wo Laclau bestreitet, dass ›Klasse‹ heute noch die Kraft und Dynamik besitzt, zu einem leeren Signifikanten zu werden, der einen sozialen Antagonismus erzeugt. Hier wäre einer der Einsatzpunkte der Argumentation von Negri gewesen: Nämlich zu zeigen, dass die Klasse gerade in der Gestalt der Multitude das Kollektivsubjekt ist, das deswegen Universalität erlangen sollte, weil es als leerer Signifikant alle Emanzipationsprojekte aufnehmen und ihnen eine Bedeutung geben kann, die sich gegen alle Herrschaftspraktiken richtet, die seit Jahrtausenden bekannt sind.

Negri, der dieses Problem mit dem Begriff der Multitude überspielt, wendet sich einem anderen Problem zu und entwickelt einen weiteren Einwand. Gerade weil die Demokratie bei Laclau im Sinn sich ablösender Äquivalenzketten und Hegemonien formalistisch bestimmt ist, bedarf er des (National-)Staats als fortbestehendem Ort der Universalität. In diesem Rahmen bewegen sich alle Kämpfe um Hegemonie und um das demokratische Populare. Der Nationalstaat ist der präkonstituierte leere Signifikant. Entsprechend könne Laclau auch über das nationale Moment nicht hinaus- und die realen Erfahrungen der lateinamerikanischen Linken nicht mehr angemessen denken, denn zum einen hat sich der Populismus als zu eng und zu chauvinistisch erwiesen, zum anderen hat sich die Linke für den Kontinent geöffnet. Einmal mehr wird deutlich, dass Laclaus Ansatz lediglich radikaldemokratisch und der etatistischen Perspektive des europäischen öffentlichen Rechts verhaftet bleibt, er aber eine grundlegende materiale Veränderung von Verhältnissen nicht denken kann. Aus Negris Sicht erlaubt Laclaus Theorie, den Begriff des konstituierenden Handelns der Multitude zu denken.
Die Auseinandersetzung von Negri mit Laclau repräsentiert zentrale Fragen der heutigen Linken. Wichtige Punkte bleiben jedoch unklar. Dies betrifft einerseits die Frage, wie die Singularitäten mit unterschiedlichen Interessen umgehen und wie sie andererseits ein konkretes Allgemeines im gesellschaftlichen Prozess tatsächlich herstellen. Bei beiden Autoren fehlt die Ebene der strategischen Begriffe und letztlich der Akteure. Hier bedarf es weiterführender Diskussionen. Begriffe wie »Transformation« oder »verbindende Partei« geben dafür Anhaltspunkte.

Die Multitude gibt es nicht, und sie ergibt sich nicht von selbst, vor allem nicht als in sich demokratisches Kollektiv. Es gibt aber soziale und politische Praktiken, die den Prozess der Anreicherung und Universalisierung begünstigen, diese lassen sich als Verknüpfung und Verbindung von Akteuren verstehen. Sie bilden, was Porcaro die verbindende Partei genannt hat, ein anderes Wort für einen herzustellenden hegemonialen Block; also nicht eine Partei als Organisation, sondern als eine die Gesellschaft durchziehende Strömung, die aus einer Polyphonie von Stimmen und Aktivitäten besteht, aus Parteien, Bewegungen und Bewegungsorganisationen, aus Gewerkschaftseinheiten und Lesezirkeln, KünsterInnengruppen oder WissenschaftlerInnen. Sie alle können sich verknüpfen und in einem fluiden Prozess dazu gelangen, gemeinsame Ziele zu verfolgen. Letztlich geht es um konkrete Praktiken der Lösung von Problemen unter Beteiligung der Betroffenen und der Gesellschaft. Vielfache partikulare Veränderungspraxen verbinden sich auf kontingente Weise in einem tranformatorischen Prozess zu einem neuen Universalismus. Die politischen Anstrengungen und Strategien bestehen in der Kunst – und es ist eben eine Kunst –, diesen kontingenten Universalismus zu erwarten, die ihn begünstigenden Konstellationen herzustellen und einen demokratischen Prozess zu initiieren, der zur Erzeugung des Gemeinsamen führt.

Die von Negri ins Spiel gebrachte materiale Dimension der konkreten Aneignung und Bearbeitung der Natur durch Arbeit gibt einen Hinweis auf die praktische Herstellung des Allgemeinen. Historisch ist diese Dimension nicht mit ›Volk‹, sondern mit ›Klasse‹ als leerem Signifikanten assoziiert. Dieser wurde lange Zeit auf das partikulare Interesse einer besonderen Gruppe reduziert. Doch können sich darin prinzipiell alle Bedeutungen von Arbeit als gesellschaftlicher Aktivität anreichern, die zur Erzeugung und Reproduktion des Gemeinsamen beitragen: die Industriearbeit, die prekäre Lohnarbeit, die Haus- und Sorgearbeit, die Dienstleistungs- und Wissensarbeit oder die ›Arbeitslosigkeit‹. Indem diese verschiedenen Arbeiten mit der Kritik an weiteren Herrschaftsformen in einem Signifikanten verschmelzen und Universalität erlangen, tragen sie dazu bei, das Feld der gesellschaftlichen Arbeit neu zu bestimmen, ihre Momente zu einem Gegenstand zu machen, über den gemeinsam verhandelt werden kann, und Identitäten zur Disposition zu stellen. Erst durch eine solche Demokratisierung der gesellschaftlichen Arbeit, die dem Bedarf entsprechend reorganisiert wird, kann es zu dem kommen, was Negri die Multitude nennt. Doch die verbindende Praxis muss darüber hinausgehen. Seit Marx beinhaltet der Signifikant ›Klasse‹ nicht nur die Überwindung ausgebeuteter Arbeit in jeder Form. Die Arbeiterklasse verdichtet die Weltgeschichte aller historisch bekannten Formen von Knechtschaft: Beherrschte Natur, das Kommando der Kopf- über die Handarbeit, die Ausbeutung der körperlichen Arbeit, die Vergeschlechtlichung oder der Rassifizierung von sozialen Verhältnissen. ›Proletariat‹ ist, Marx zufolge, ein Signifikant, der Verhältnisse denkbar machen soll, unter denen alle bekannten Herrschaftsverhältnisse umgestürzt sind und das Reich der Notwendigkeit, also die Zentralität der Klasse und der Arbeit selbst, überwunden ist. Diese – von Negri nicht gedachte – Finalität würde auch für die Multitude gelten.