Bis 2005 stieg die Produktion auf fünf Millionen Tonnen im Wert von 5 Milliarden US-Dollar, obwohl nur noch 44 000 Arbeiter beschäftigt waren – das entspricht einem Anstieg der Arbeitsproduktivität um den Faktor zehn. Analog verringerte Tata Motors in Pune die Anzahl der Arbeiter zwischen 1999 und 2004 von 35 000 auf 21 000, wobei die Anzahl der produzierten Fahrzeuge von knapp 130 000 auf über 310 000 stieg – eine Vervierfachung der Arbeitsproduktivität. Während in den entwickelten Ländern vor allem die Verlagerung der Produktion ins Ausland die Schaffung ausreichender Arbeitsplätze verhindert, ist es in Indien die Mechanisierung der Produktion.
Die meisten Armen wurden folglich in den informellen Sektor gedrängt, in dem die Gruppe der »Selbständigen« am schnellsten wächst. Anders als bei Lohnarbeit schlagen sie sich meist mit der ganzen Familie – einschließlich kleinerer Kinder, die von der Schule genommen werden – als »arbeitende Einheit« durch und schuften jeden Tag viele Stunden für einen grausam niedrigen Stundenlohn pro Person. Die überlebensnotwendige Selbstausbeutung dieser Familien ist ein wenig sichtbarer räuberischer Aspekt des auf Produktivitätssteigerung basierenden Wachstums.
Die verborgene Agenda
Trotz zunehmender Arbeitslosigkeit und Ungleichheit wird der räuberische Charakter des Entwicklungsmodells durch die Regierungspolitik weiter verstärkt. Die nationale und die bundesstaatlichen Regierungen Indiens sind mittlerweile der Ansicht, Wohlfahrtsmaßnahmen zugunsten der Armen seien kontraproduktiv, da haushaltspolitisch unvorteilhaft und ineffizient. Folglich mildern sie die negativen Auswirkungen des Arbeitsmarkts auf die Armen nicht durch ein Sozialsystem ab.
Die zunehmende Öffnung der indischen Ökonomie für die internationale Finanzwirtschaft wirkte sich lähmend auf die Sozialpolitik gegenüber den ärmeren Gruppen aus. Obwohl Indien – anders als China – mehr importiert als exportiert, verfügt es gegenwärtig über ausreichend Devisen. Allerdings liegen diese vorwiegend in Form von Portfolio-Investitionen und relativ kurzfristigen Kapitalanlagen ausländischer internationaler Finanzinstitutionen vor. Um Kapitalflucht zu vermeiden, muss die Regierung die Interessen der Finanzmärkte bedienen. Der Fiscal Responsibility and Budget Management Act von 2003 zur Beschränkung des Haushaltsdefizits diente diesem Zweck. Er verhindert, dass Geld für Nahrungssicherheit, Gesundheit und Bildung ausgegeben wird. Keine politische Partei stellte sich dem Gesetz entgegen. Darüber hinaus wurde gefordert, dass die Regierung ihre Einnahmen durch Privatisierung und sogenannte Public Private Partnerships erhöhen solle.
Die privaten Banken und Finanzinstitutionen, die ihr Geld in Indien parken, orientieren sich üblicherweise an den Empfehlungen und Entscheidungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank, denen dadurch eine ungeheure Macht zukommt. Alle Maßnahmen, die die Finanzmärkte »stören«, z.B. die Erhöhung des Haushaltsdefizits oder Finanztransaktionssteuern, erscheinen nicht mehr opportun. Ungleichheit und Elend wachsen jedoch in dem Maße, in dem die »Haushaltsdisziplin« den Staat zur Kürzung von Sozialausgaben zwingt und Gesundheitsversorgung, Bildung und die öffentliche Verteilung von Nahrungsmitteln und sogar Wasser privatisiert werden.
Der haushaltspolitische Sparkurs wird oft auch damit begründet, dass staatliche Institutionen die Grundversorgung nicht effizient leisten könnten. Auch in Indien wird der Markt mittlerweile als die Lösung aller Probleme beschworen. Hinter dem von der Weltbank geprägten Euphemismus »Public Private Partnership« verbirgt sich die Empfehlung, profitable Versorgungsleistungen privaten Firmen zu übertragen, während der Staat alle Risiken trägt. Dass »Marktlösungen« den Ärmsten die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse verweigern und dass Staatsversagen, Korruption und Ineffizienz als politische Probleme auch politisch angegangen werden müssen, wird von den Regierenden ignoriert.
Eine gespaltene Ökonomie
Das indische Wachstum wird auf beinahe paradoxe Weise durch die wachsende Ungleichheit vorangetrieben. Es beruht im Kern auf einer cumulative causation (Gunnar Myrdal), einer positiven Rückkopplung zwischen Ungleichheit und steigender Wachstumsrate. Dies ist zu einer Gefahr für die indische Demokratie geworden.
Normalerweise würden ein sehr langsames Beschäftigungswachstum im organisierten Sektor und niedrige Einkommen im nicht-organisierten Sektor zusammen mit unzureichenden staatlichen Sozialausgaben zu einer nur langsamen Ausdehnung des Inlandsmarkts und somit zu einem verzögerten Wirtschaftswachstum führen. Dieser Tendenz zur Nachfragestagnation wirken allerdings die – im Zuge der zunehmenden Ungleichheit – rasant steigenden Einkommen der oberen fünfzehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung entgegen. Entsprechend wächst der Markt für Luxusgüter schneller als die Einkommen in der Gesellschaft insgesamt. Die meisten dieser Waren können nicht von ländlichen Kleinproduzenten oder von Handwerkern hergestellt werden. Ihre Produktion erfolgt vorwiegend durch größere Unternehmen und erfordert große Mengen an Energie, Wasser und mineralischen Rohstoffen. Dies verschärft die ökologische Krise. Gleichzeitig leiden die Armen unter chronischem Mangel an Elektrizität und Wasser und an der Zerstörung einer Naturalwirtschaft, die bisher ihr Überleben gesichert hatte.
Die indische Politik beabsichtigt nicht, dieses zerstörerische Wachstum zu stoppen. Stattdessen werden sogar die Spielregeln der repräsentativen Demokratie verändert, um den Wachstumsprozess weiter zu beschleunigen. Indien hat in den letzten zwei Jahrzehnten mehr Dollar-Milliardäre hervorgebracht als China, Russland und die meisten OECD-Länder. Der Anteil der Multi-Millionäre an den Abgeordneten im indischen Parlament beträgt heute über 60 Prozent. Ein Großteil dieser Millionen stammt aus Geschäften zwischen Regierungen und Unternehmen, bei denen es um den Zugriff auf natürliche Ressourcen geht, u.a. legaler und illegaler Bergbau und die geduldete Zerstörung von Wäldern, Flüssen, Küsten und fruchtbarem Ackerland. Die Regierung schafft privaten Reichtum und nennt es Entwicklung. Gleichzeitig ist es extrem teuer geworden, sich ins Parlament wählen zu lassen. Einfache Bürger können sich dies nicht mehr leisten. Schätzungen zufolge kostet die Teilnahme am Wahlverfahren umgerechnet durchschnittlich über 1,3 Millionen Euro, für Bewerber der großen Parteien sogar bis zu fünf Millionen Euro. Folglich benötigen alle größeren Parteien viel Geld, und sie beschaffen es sich vorwiegend darüber, dass sie ihre Macht im Staatsapparat dazu einsetzen, Deals über die Rechte an den natürlichen Ressourcen abzuschließen. Die Regionalregierungen unterbieten sich hierin gegenseitig, und im Gegenzug verwehren die Konzerne unerwünschten Bürgern den Zugang zum erlesenen Kreis der politischen Klasse.
Die zwei Millionen Kinder unter fünf Jahren, die jedes Jahr an im Grunde leicht zu verhindernden Krankheiten sterben, oder die über 40 Bauern, die sich täglich das Leben nehmen – und dies schon ein ganzes Jahrzehnt lang –, haben die Regierung bislang weitgehend kalt gelassen. Hoffnungslose Verzweiflung gefährdet die Stabilität dieser Demokratie offenbar nicht. Es mehren sich jedoch die Zeichen, dass diese Verzweiflung allmählich in Wut umschlägt.
Krieg gegen die Armen
Auf lange Sicht kann eine derart kaltschnäuzige Regierung dem Zorn über ihre Entwicklungspolitik nicht entkommen. Die Staatsgewalt unterwirft die Ärmsten einem inneren Kolonialismus und beschwört damit einen bösen Geist herauf. Dessen Zorn werden wir, egal wie hoch das Wirtschaftswachstum ist, nicht entkommen. Widerstand formiert sich. Linke militarisierte Bewegungen – von der Regierung als größtes inneres Sicherheitsrisiko bezeichnet – haben sich auf knapp einem Viertel des Staatsgebiets ausgebreitet. Sie stellen die Frage nach der Kontrolle über die natürlichen Ressourcen. Die Regierung versucht, diese Gebiete in einem Krieg, den sie gegen die eigenen Bürger führt, zurückzugewinnen. Die konzerngeführte Entwicklung ist in einen Entwicklungsterrorismus gegen die Armen umgeschlagen, bei dem es im Kern um die natürlichen Ressourcen geht.
In Orissa etwa, einem Bundesstaat im Osten Indiens mit einer Fläche und Bevölkerung halb so groß wie die der Bundesrepublik, liegt der Anteil der Armen mit 85 Prozent laut Saxena-Report (57 Prozent laut Tendulkar-Report) weit über dem indischen Durchschnitt. Der Wert des dort geförderten Eisenerzes jedoch stieg zwischen 1993/94 und 2004/05 inflationsbereinigt um das Zehnfache, der von Kohle um mehr als das Dreifache und der von Bauxit und Chrom um mehr als das Doppelte. In den drei mineralreichsten Bundesstaaten gehören 94 Prozent (Chhattisgarh), 90 Prozent (Orissa) bzw. 86 Prozent (Jharkhand) der Distrikte zu den 150 ärmsten Gebieten Indiens. Die Ausdehnung des Bergbaus trägt zur Verschlechterung der Lage der Armen bei. Ihr Land wird enteignet und sie verlieren den Zugang zu Wasser und anderen natürlichen Ressourcen, da dieser unter die Kontrolle der Konzerne gerät. Diese Form von Wachstum schafft für die Armen weder Arbeitsplätze noch bietet es ihnen durch Umsiedlung die Chance auf ein besseres Leben.
Diese Entwicklung lässt sich nicht einfach unter »reiches Land und arme Menschen« subsumieren oder durch den sogenannten Ressourcenfluch erklären. Hier ist eine Regierung am Werk, deren Politik ein geplanter und direkter Angriff auf die vom Land lebenden Armen ist. Der Reichtum des Landes wird privaten Konzernen zum Fraß vorgeworfen. Es überrascht nicht, dass die (Regional-)Regierungen zunehmend Probleme haben, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten.
Für eine radikale Dezentralisierung
Die heutige Situation Indiens schreit nach einem anderen Entwicklungsmodell, das durch Dezentralisierung die Initiative der lokalen Bevölkerung freisetzt. Aber die Machthabenden in den höheren Etagen (Politiker, Bürokraten, Konzernvertreter usw.) haben ein gemeinsames Interesse daran, die Zentralisierung der Macht und die Ausplünderung der natürlichen Ressourcen fortzusetzen. Sie erhalten mit allen Mitteln die Illusion einer Entwicklung durch Großprojekte weiter aufrecht.
Dezentralisierung stößt in Indien auf zwei Probleme. Erstens wollen, wie schon erwähnt, die Machthabenden in den höheren Instanzen ihre Macht nicht teilen. Zwar gewährt die indische Verfassung lokalen Gemeinden umfassende Entscheidungsbefugnisse und finanzielle Autonomie, doch wird dieser formell vorhandene Spielraum bislang nicht genutzt. Zweitens würde die Unterdrückung nach Kaste, Klasse, Minderheit und Geschlecht bei lokaler Selbstregierung nicht einfach verschwinden. Hier muss die Zentralgewalt nicht nur die Einhaltung der Gesetze sicherstellen, sondern auch dezentrale rechtliche Mechanismen für eine schnelle Rechtsprechung schaffen. Das unabhängige dezentralisierte Rechtssystem und die Lokalregierungen sollten sich – ganz nach dem Modell der checks and balances – wechselseitig kontrollieren, wie dies bereits im Verhältnis von staatlichen Banken und lokalen Gemeinden der Fall ist. Ein alternatives Entwicklungsmodell muss auf diesem allgemeinen Prinzip aufbauen.
Der Unterwerfung unter das konzerngeführte Wachstumsmodell scheint unser gesamtes ökonomisches Vorstellungsvermögen zum Opfer gefallen zu sein. Wir lassen uns blenden von bedeutungslosen Wachstumszahlen und einem falschen Ehrgefühl, aufstrebende Weltmacht zu sein. Nur wenn wir uns von diesen ideologischen Fixierungen frei machen, können wir über erste Schritte zu einem alternativen Entwicklungsmodell nachdenken.
Aus dem Englischen von Oliver Walkenhorst