Auch wenn niemand mit dem Zusammenbruch des afghanischen Staates binnen dreier Tage rechnen konnte: Das Versagen der Bundesregierung angesichts der zwingend gebotenen Evakuierung von Tausenden vom Tod bedrohter Afghan*innen war schlicht schändlich. Tatsächlich stand seit über einem Jahr fest, dass das Land und seine nahezu 40 Millionen Bewohner*innen an den religiösen Faschismus ausgeliefert werden würde. Nachdem die USA noch unter Trump und dann unter Biden ihren schnellstmöglichen Rückzug angekündigt hatten, war klar, dass sich ihre Verbündeten zeitgleich zurückziehen würden. Also wusste man, seit über einem Jahr, dass Hunderttausende Afghan*innen ihr Leben durch Flucht würden retten müssen. Westliche Truppen und ihre Regierungen hätten sich auf diesen Moment vorbereiten können und müssen, es hätte Evakuierungspläne geben müssen. Die ganze Operation hätte mit denen besprochen werden müssen, die zu evakuieren waren und die immer noch zu evakuieren sind. Und: Sie hätte nicht als humanitäre, sie hätte als politische Operation angelegt werden müssen, was man so auch den Taliban hätte kommunizieren müssen. Nichts davon ist geschehen, nicht einmal im Ansatz. Stattdessen geriet der Rückzug zur Flucht, mussten Zehntausende von Afghan*innen tagelang stets aufs Neue versuchen, in den Flughafen zu gelangen, um im glücklichen Fall ausgeflogen zu werden. Die ganze Welt wurde live zur Zeugin dieses Desasters. Ein Desaster, das seine Verdichtung am 26. August erfuhr, dem Tag des von Anfang an erwarteten Anschlags des Islamischen Staats. Über 80 Menschen starben. Sie waren nicht die ersten Toten dieser Tage, und sie werden nicht die letzten gewesen sein.

Der Westen hat seine eigenen Staatsbürger*innen, aber nur sehr wenige Afghan*innen ausgeflogen. Das Versagen der deutschen Operation sticht beschämend hervor: Unter den 4 921 Personen, die nach Deutschland ausgeflogen wurden, waren nur 248 der jetzt sogenannten Ortskräfte, mit ihren Familienangehörigen knapp über 900 Personen. Da weit über zehntausend Gesuche vorlagen, muss gesagt werden: 900 von weit über 10 000. Weitere sollen folgen, darunter auch Mitarbeiter*innen deutscher NGOs. Die Kanzlerin räumt ein, „dass dies nicht einfach sei. Man habe die Situation zuvor falsch eingeschätzt.“ Mittlerweile war zu erfahren, dass eigentlich ein erstes Flugzeug schon im Juni hätte starten sollen, von Mazar-i-Sharif aus, der Stadt mit dem größten Feldlager der Bundeswehr. Verhindert haben das Horst Seehofer und sein Ministerium unter anderem durch rassistisch motivierte Migrationsabwehr.

Nähme die Bundesrepublik Deutschland ihre Menschenrechtsverpflichtung ernst, wäre das politisch und juristisch aufzuarbeiten. Klage wäre dabei aber nicht nur gegen das Seehofer-Ministerium zu führen. Niemand ist ihm in den Arm gefallen: das Auswärtige Amt nicht, das Bundesministerium der Verteidigung nicht, das Bundeskanzleramt nicht. Warum? In Deutschland ist Wahlkampf. Nicht nur die Koalitionsparteien wollen da vor allem Rücksicht auf ihre deutschen Wähler*innen nehmen. Das ist die Schande der Regierenden, ihrer Parteien, dieser Wähler*innen.

Ökonomie der Gewalt – ein erster Blick zurück

Die Anschläge des 11. September 2001 bilden den Anfang des vorläufig letzten Kapitels dieser Geschichte. Auf sie antwortete der Westen mit der „Operation Enduring Freedom“, dem ersten Zug des an die Stelle der West-Ost-Konfrontation tretenden „Kriegs gegen den Terror“. Zu militärischen Operationen kam es zeitgleich am Horn von Afrika, auf den Philippinen, in Afrika, südlich der Sahara und in Afghanistan. Formeller Grund für den Angriff auf Afghanistan war die Weigerung der seit 1996 herrschenden ersten Taliban-Regierung, gegen das für den Anschlag verantwortliche Al-Qaida-Netzwerk vorzugehen. Eine Rolle gespielt hat sicher auch die kaum zu überbietende symbolische Herausforderung des Westens durch die Sprengung der jahrhundertealten Buddha-Statuen des Bamiyan Tales ein halbes Jahr zuvor.

Im Kampf gegen die Taliban bedienten sich die USA von Anfang an der Mujaheddin, einer ebenfalls strikt islamistischen Partisanenbewegung, die sich gegen die sowjetische Besatzung formiert hatte und vom Westen jahrelang finanziert, ausgerüstet und ausgebildet worden war: Die Taliban waren ursprünglich deren radikaler Flügel. Jetzt auch von massiven Bombardements der US-Luftwaffe unterstützt, eroberten die Mujaheddin schon einen Monat nach Beginn der Intervention Kabul. Im Dezember 2001 erwirkten die USA die UN-Resolution 1386, mit der dann die Schaffung der „International Security Assistance Force“ (ISAF) legitimiert wurde, in deren Rahmen auch die Bundeswehr operierte. 2002 kam es zur Bildung einer Übergangsregierung, 2004 folgten die Wahlen, mit denen Hamid Karzai zum ersten Präsidenten der Islamischen Republik Afghanistans wurde, auf den zehn Jahre später Ashraf Ghani folgte: Repräsentanten einer der Besatzung eng verbundenen, intern in heftigste Konkurrenzen verwickelten afghanischen Führungsschicht, die in all den Jahren vor allem in die eigene Tasche wirtschaftete. Bei seiner Flucht aus Kabul führte Ghani mehrere Luxuskarossen und Bargeld in Millionenhöhe mit sich. Wenn es den über die Jahre mehrfach verstärkten ISAF-Truppen nicht gelang, die Taliban zu besiegen, lag das auch an der Schamlosigkeit der afghanischen Verbündeten, denen es zu keinem Zeitpunkt gelang, Glaubwürdigkeit unter der örtlichen Bevölkerung zu erlangen. Allerdings auch daran, dass die sozialen Herrschaftsstrukturen, auf denen das Talibanregime aufsetzte, weitgehend in Takt gelassen wurden, da deren Umbau nicht im westlichen Interesse lag.

Wichtiger aber war die Gewalt, die die „Befreier“ über die Afghan*innen brachten. Systematisch erfasst wurden deren Opfer erst ab 2009 – die Zahl der zivilen Toten belief sich zuletzt auf über 100.000, viele von ihnen starben unter den jahrelangen Bombardements. Zum Ziel aber führte dieser Krieg nicht: Unter eigenen Waffen blieben nicht nur die reorganisierten Taliban, sondern auch die Mujaheddin-Milizen, deren Zuarbeit man sich 2001 bediente, sowie die Drogenmafia.

Zugleich gelang es weder den ISAF-Staaten noch dem afghanischen Staat, die katastrophale ökonomische Lage des Landes zu verbessern, neben der unaufhörlichen Gewalt stärkstes Motiv der seit Jahrzehnten ungebrochenen Migrationsbewegung. 70 Prozent, nach anderen Schätzungen sogar 90 Prozent der Afghan*innen leben unterhalb der Armutsgrenze, aktuell sind 18 Millionen vom Hunger bedroht: Das ist die Hälfte der Bewohner*innen des Landes. Rund 2,7 der ca. 38 Millionen Afghan*innen leben heute schon im Ausland, weitere 5,2 Millionen verfügen über Migrationserfahrung. Allein 2019 flüchteten über 100 000 Menschen. 2,6 Millionen Menschen irren im Land als Binnenvertriebene umher.

Allerdings leidet Afghanistan nicht nur unter der Gewalt: Afghanistan lebt von der Gewalt. Unmittelbar gilt das natürlich für die Angehörigen aller bewaffneten Kräfte und deren Familien, auch für die Taliban. Selbst wenn der Kern der Bewegung aus politisch hochmotivierten, existenziell zum Einsatz auf Leben und Tod bereiten Kadern besteht, zählt für einen Großteil der 70 000 Kämpfer*innen zunächst und zuletzt das Einkommen. Ähnlich steht es bei Armee, der Polizei und bei den Milizionären der Mujaheddin. Zur Gewaltökonomie gehört natürlich auch die alle Lebensbereiche durchherrschende Kriminalität, die vom Straßendiebstahl über das Kidnapping bis zur stets von Gewalt grundierten Korruption reicht.

Von der Gewalt leben schließlich auch der Staat selbst und seine Bürokratie, und sogar die Afghan*innen, die bei Nicht-Regierungs-Organisationen arbeiten und ihr Einkommen aus gewaltbedingten Zuflüssen der humanitären Hilfe beziehen: selbst da, wo sie eine gute, eine unverzichtbare Arbeit tun. Auf den Punkt gebracht: Wer in Afghanistan sein Einkommen nicht aus der Ausübung von Gewalt oder aus der Regulierung von Gewaltverhältnissen bezieht, der verfügt über gar kein Einkommen, sondern ist Teil einer Überflussbevölkerung ohne jede Perspektive einer irgend gesicherten Existenz.

Postkoloniale Verwerfungen – ein zweiter Blick zurück

Der afghanische Konflikt war und ist ein postkolonialer Konflikt, ein Konflikt der Blockkonfrontation und ein Konflikt des globalen Empires. Er beginnt mit der Schaffung der afghanischen Monarchie im 19. Jahrhundert, setzt sich mit dem Übergang erst zu einer bürgerlichen, dann zu einer Volksrepublik fort. Er eskaliert mit der Invasion der Sowjetarmee 1979, geht dann weiter mit der Herrschaft der Mujaheddin und der Taliban, schließlich mit der Invasion 2001 und der zwanzigjährigen Präsenz der ISAF, auf die jetzt das zweite Regime der Taliban folgt. Quer zu den ideologischen Differenzen aber speist sich der Konflikt aus einer Tiefengrammatik ethnisch-religiöser Spaltungen. Diese Grammatik selbst aber hängt nicht einfach an dem Faktum, dass auf dem heutigen afghanischen Territorium über zehn unterschiedliche ethnische Gruppen leben. Sie resultiert auch nicht aus der Vielfalt von 50 Sprachen und 200 Dialekten. Zur Tiefengrammatik der Gewalt wurde die ethnische, linguistische und religiöse Vielfalt erst mit dem „Great Game“, dem Konkurrenzkampf zwischen Großbritannien und Russland um die Hegemonie über das zerfallende persische Imperium. Beide Kolonialmächte scheiterten, die Briten trotz der drei „anglo-afghanischen Kriege“, in deren Verlauf sie – ein Beispiel nur – 1842 die gerade eroberte Stadt Kabul ihrer Soldateska zwei Tage zur Plünderung freigaben: der historische Basar wurde anschließend bis auf die Grundmauern niedergebrannt.

Das Scheitern des kolonialen Bemächtigungsversuchs hinterließ in dem erst seit dieser Zeit „Afghanistan“, zuvor jahrhundertelang „Chorasan“ oder „Kabulistan“ genannten Land allerdings das Projekt, dort einen „nationalen“, also ethnisch-religiös majorisierten Staat zu schaffen. Jetzt erst wurden die nie konfliktfreien ethnischen, linguistischen und religiösen Differenzen zum Brandherd der Gewalt. Der Name „Afghanistan“ gibt den entscheidenden Fingerzeig: Gebräuchlich war er zunächst nur zur Bezeichnung von Angehörigen der zahlenmäßig größten ethnischen Gruppe, der der Paschtun*innen. Im postkolonialen Staat beanspruchten sie die politische, die militärische und die ökonomische Macht, auch die Definitionsmacht zur Bestimmung dessen, was jetzt zur „afghanischen Nation“ werden sollte. All das ein Prozess des Unheils, von dem europäisch kolonisierte Länder nach ihrer „nationalen Befreiung“ überall auf der Welt heimgesucht wurden. Am schlimmsten betraf das Unheil die Gruppe der Hazara: Sie sprechen persisch und gehören religiös der Schia an, während die Mehrheit der Bewohner*innen Afghanistans der Sunna angehört. Nach allerdings ungenauen Schätzungen hat sich ihre Zahl in den letzten hundert Jahren auf weniger als die Hälfte reduziert, unter dem ersten Talibanregime wurden bis zu 3 000 Hazara gezielt ermordet, oft durch öffentliches Abschlagen des Kopfes, in den letzten fünf Jahren wurden über 1 000 Hazara Opfer von Anschlägen. Kein Zufall deshalb, wenn Hazara das Land, das sie mit ihren Peiniger*innen teilen, nach wie vor Chorasan nennen. Kein Zufall aber auch, dass dieser Name auch von der afghanischen Sektion des Islamischen Staates benutzt wird: In beiden Fällen ein Bezug auf die vorkoloniale Zeit.

Im Zangengriff der Blockkonfrontation – ein weitreichendes Zwischenspiel

In den Siebziger Jahre geht der postkoloniale Konflikt in die West-Ost-Blockkonfrontation über. Zum Wendepunkt wird der Putsch in der Familie des letzten afghanischen Schahs, der 1973 zur Gründung der ersten afghanischen Republik führt. 1978 folgte ihm der Putsch einer Gruppe junger Offiziere, die der „Demokratischen Volkspartei Afghanistans“ nahestehen, einer 1965 von 27 Intellektuellen gegründeten marxistisch-leninistischen Organisation. Schon zu dieser Zeit war die DVPA in zwei Flügel gespalten, deren politisch-ideologische Differenzen ebenfalls ethnisch grundiert waren. Die neue Regierung radikalisierte die schon von der Monarchie betriebene Modernisierungspolitik und damit auch den vor allem in der armen bäuerlichen Mehrheit virulenten Widerstand. In nur wenigen Monaten eskalierte der Konflikt zum Bürgerkrieg, in den im selben Jahr noch die sowjetische Armee intervenierte. Afghanistan wurde jetzt zu einem Hauptaustragungsort der West-Ost-Konfrontation, die Niederlage der sowjetischen Streitkräfte 1989 zum wesentlichen Moment der Niederlage des ganzen sowjetisch dominierten Blocks.

Unumgänglich ist die Erinnerung an dieses Zwischenspiel, weil sie verständlich macht, warum Gewalt und Elend auch in Afghanistan nicht zur Ausbildung oder gar Durchsetzung einer emanzipatorischen linken Option führten. Mehr noch: Indem dieses Zwischenspiel beispielhaft für die Geschichte der Blockkonfrontation, damit aber auch für die Geschichte überhaupt des „real existierenden Sozialismus“ steht, lässt sie verständlich werden, warum der religiös grundierte Faschismus nicht nur in Afghanistan zum Außen der Weltordnung wurde, die nicht nur aus dem Sieg des kapitalistischen Westens, sondern auch aus der Niederlage und dem ihr vorausgehenden Scheitern dieses Sozialismus hervorging.

Provinz des Empire

Das Ende der Blockkonfrontation bestimmt auch die auf die Intervention von 2001 folgende Geschichte, die ihrerseits Teil des „Kriegs gegen den Terror“ ist. Mit dem Sieg über den sowjetisch dominierten Block verkündete der Block der westlichen Staaten den Anbruch einer Weltordnung, in der das Menschenrecht, die Demokratie und der Kapitalismus auf immer zueinander finden würden. Nicht wenige sprachen damals vom „Ende der Geschichte“. Die Globalisierung des Kapitals, des Parlamentarismus und der NATO sollte dieses Ende sichern. Dabei sollten die Interventionen in Afghanistan und zwei Jahre später in den Irak den Punkt aufs „i“ setzen und vollenden, was zuvor mit der Intervention in den jugoslawischen Bürgerkrieg versucht worden war – auch er ein Moment des Übergangs von der Blockkonfrontation zur neuer Weltordnung. Einig waren sich darin nicht nur die an der ISAF-Mission und an der „Koalition der Willigen“ beteiligten Regierungen, sondern weite Teilen der westlichen und der zumindest formell in den Westen aufgenommenen Gesellschaften. Zustimmung fand der imperiale Konsens unter einer Linken, die damals verständlicherweise desorientiert war.

Ein Jahr vor der Intervention in Afghanistan publizierten Toni Negri und Michael Hardt ihr die linke Debatte der nächsten Jahre bestimmendes Buch Empire. Darin stellen sie die neue Weltordnung auch begrifflich in die Geschichte der großen Imperien und finden dazu die auf den ersten Blick ganz schlichte Wendung, nach der „Empire als Untersuchungsfeld in erster Linie durch die simple Tatsache bestimmt [wird], dass es eine Weltordnung gibt.“ (Empire. Die neue Weltordnung, Hamburg 2002, 19) Im nächsten Schritt aber grundieren sie diese Bestimmung auf einer zweiten, nicht mehr ganz so simplen These. Ihr zufolge sei die Krise im Empire und mit ihr die Krise des Empire selbst keine bloß vorübergehende, sobald als möglich zu behebende Beeinträchtigung oder Störung seines Normalzustandes. Vielmehr sei und bleibe die Krise nichts anderes als die logisch und empirisch regulierende „Norm“ der imperialen Souveränität selbst (ebd.: 214). Was diese beiden Wendungen von Hardt und Negri in ihrem Zusammenhang bedeuten, das musste das Empire selbst und das mussten wir alle in den folgenden Jahren erst lernen. Die Flucht der ISAF-Truppen aus Afghanistan und die Rückkehr der Taliban an die Macht besiegeln diese Lehre. Damit soll aber gerade nicht gesagt sein, dass das Empire eine Niederlage erlitten und Afghanistan jetzt nicht mehr Provinz des Empire sei. Im unmittelbaren Anschluss an die Leidensgeschichte Syriens wird Afghanistan vielmehr zum Paradigma für das werden, was in den nächsten Jahren in einer wachsenden Anzahl solcher Provinzen geschehen wird. Wenn im Empire das Menschenrecht, die Demokratie und der Kapitalismus zueinander finden sollen, wird das nur noch für seinen globalen Norden gelten und nur noch sehr eingeschränkt für seinen globalen Süden. Werden mit der Eskalation der ökologischen Krise immer mehr und immer größere Gebiete des Planeten zu Regionen der Verwüstung und damit zu Regionen nur noch bedingt regulierter Ökonomien der Gewalt, dann braucht es dazu weder Menschenrechtler*innen noch Demokrat*innen, sondern entschlossene Ordnungskräfte. Zu ihnen werden die Taliban, aber auch das Regime Assads und das Regime Erdogans gehören, zu ihnen werden wohl auch die Gangs gehören, denen das Empire gerade Haiti überlässt. Quer zu den zwischen diesen Ordnungskräften bestehenden Unterschieden werden sie sich in einem wesentlichen Zug ihrer Politiken gleichen: sie werden Verwüstungsregionen beherrschen, indem sie mit dem Empire abgestimmte, vom Empire finanzierte Systeme der Ein- und Ausschlüsse ihrer Bewohner*innen wie der Bewohner*innen angrenzender Gebiete durchsetzen und Zugänge zu gegebenenfalls zu verwertbaren Ressourcen gewähren. Auch wenn ihnen dazu nicht alles erlaubt sein wird, werden sie im Gebrauch der dazu unumgänglichen Gewalt relativ freie Hand haben: Der Umgang mit Erdogan zeigt, was da möglich sein wird. Im begrenzten Rahmen dürfen sie sich mal unter den Schutz der einen, mal unter den Schutz der anderen großen Ordnungsmächte stellen, deren Konkurrenz selbst Teil der Dauerkrise des Empire ist. Sie dürfen ein bisschen oder auch stärker pro-russisch und pro-chinesisch sein, oder sogar „islamistisch“, solange sie sich zu guter Letzt auch mit den USA und mit Europa arrangieren.

Wem gehört die Krise?

Wenn die Krise die Norm und der Normalzustand des Empire ist, heißt das nicht, dass das Empire seine Krise überlebt. Sein Untergang kann überall und jederzeit beginnen: Nach Lage der Dinge könnte der Planet selbst dafür sorgen, der auf die Besiedelung menschlicher Gesellschaften nicht angewiesen ist. Der Untergang könnte auch von seinem aktuell maßgeblichen Antagonisten ausgehen, dem religiösen Faschismus: Noch ist dessen Eingemeindung in die Ordnungsmacht nicht ausgemacht. Widerstand aber schlug und schlägt dem Empire von Anfang an auch an all den Orten entgegen, an denen tatsächlich um Demokratie und Menschenrecht gekämpft wird. Die Invasion in Irak wurde zum Anlass einer weltweit kommunizierenden Antikriegsbewegung. Seit 2010 reißt im globalen Süden die Kette großer Demokratieaufstände nicht ab. Die globalen Migrationsbewegungen kann das Empire zwar immer wieder unterbrechen, dauerhaft aufhalten aber konnte es sie bisher an keiner seiner Grenzen. Sieg oder Niederlage des Empire hängen aber auch an dem Zug der afghanischen Geschichte, mit dem die hier skizzierte Geschichte ihr vorläufiges und deshalb offenes Ende findet. Obwohl es dem Empire in Afghanistan niemals wirklich um das Menschenrecht, die Demokratie und die Gleichheit der Geschlechter ging, haben Zehntausende Afghan*innen diese Versprechen in ihre eigenen Hände genommen. In tagtäglicher und zugleich jahrelanger Arbeit haben sie sich dabei nicht nur der Gewalt, sondern auch den ethnisch-religiösen Spaltungen entgegengestellt, haben in all dem Unheil Demokratisierungsprozesse in Gang gesetzt, die den Sinn des Menschenrechts praktisch werden ließen: Bedingungen zu schaffen, in denen jeder und jede versuchen kann, das eigene wie das gemeinsame Leben selbst zu bestimmen. Sie sind es, die jetzt preisgegeben, deren jahrelange Arbeit, deren ganzes Leben verraten wurde. Im Augenblick wollen die meisten von ihnen nur raus, und sie haben dazu jedes Recht. Deshalb bekräftigen die Ordnungskräfte des Empire ihren Konsens jetzt überall in der Losung: „2015 darf sich nicht wiederholen!“ Deshalb werden sie schon morgen darüber mit den Taliban verhandeln: So wie sie es mit Assad, mit Erdogan oder mit den haitianischen Gangs tun. Sich diesem Konsens zu entziehen kann deshalb nur heißen, alles dafür zu tun, dass sich wiederholt, was 2015 nur ein erster Anfang war. Diesen Anfang einer Politik jenseits des Empire und jenseits der ethnischen, rassistischen und patriarchalen Gewalt der Faschismen offen zu halten heißt allerdings auch, sich der offenen Frage zu stellen, wie diese Gewalt in Afghanistan, aber auch in Syrien oder in Haiti bekämpft werden kann, und wie mit ihr die Gewalt bekämpft werden kann, mit der unsere gesellschaftlichen Verhältnisse aufrechterhalten werden. Sie fragt nach keinem Masterplan, sondern markiert, was nicht vergessen werden darf.