Es gibt Bücher, bei deren Lesen einen tiefe Trauer ergreift. So auch beim nachgelassenen Werk von Volker Caysa »Rosa Luxemburg – die Philosophin«. Der Verlust, den sein früher Tod für die Luxemburg nahe Linke in Deutschland und darüber hinaus bedeutet, wird offenkundig. Volker Caysa hat einen Zugang zu Leben und Wirken von Luxemburg gewonnen, der sich völlig unterscheidet von allem, was vorliegt. Indem er mit tiefstem Wissen und Verständnis des antiken griechischen Philosophierens in die Schriften und in das Handeln Luxemburgs eindringt, wird sie auf eine Weise lebendig, die die Schuttberge von Gemeinplätzen und hohler Bewunderung oder flacher Denunziation beiseite räumt.
Das dünne Büchlein von nicht einmal einhundert Seiten, herausgegeben von Klaus Kinner und Manfred Neuhaus bei der sächsischen Rosa-Luxemburg-Stiftung, ist keine leichte Kost. Man muss bereit sein, sich auch in die Terminologie der griechischen Philosophie hineinzudenken. Aber es lohnt sich. Denn hier wurde vor zweieinhalbtausend Jahren intensiv über das richtige, das wahrhafte, das standhafte gute Leben in einer Gesellschaft zugespitzter, oft tödlich wirkender Widersprüche nachgedacht – in den Tragödien und Dramen, in den philosophischen Dialogen, selbst in den Komödien, in vielen Formen öffentlicher Rede. Dieses Erbe hilft, Luxemburg zu verstehen und sich dabei auf der Höhe der Herausforderungen unserer Zeit zu bewegen. Und genau dies macht Volker Caysa sehr deutlich.
Sein Buch besteht aus drei Teilen: Luxemburg als »Wahr-Sprecherin«, als Lebenskünstlerin und als Analytikerin des Empire. Beginnen wir mit der »Wahr-Sprecherin«: Immer wieder hatte Luxemburg sich auf die Worte von Ferdinand Lassalle berufen, dass es die »revolutionärste Tat« sei, »immer das laut zu sagen, was ist«. Caysa schreibt: »Im Mittelpunkt ihrer politischen Lebens(kunst-) Philosophie steht eine Politik der Parrhesia, des offenen, freien, gefährlichen Wahrsprechens, des schutzlosen, nicht herrschaftsgeschützten […] Wahrheit-Heraussagens unter Inkaufnahme existenzieller Gefährdungen.« (14) Von hier aus wird klar, welche subjektiven wie objektiven Bedingungen Freiheit hat. Ohne den aufs Ganze gehenden Mut, die Kraft, die schöpferische Fähigkeit, die rhetorische Kunst, die organisatorische Verbindung der Genossinnen und Genossen können weder Freiheit noch Gerechtigkeit auf Dauer bestehen. Ihr Leben und ihr Tod legen davon Zeugnis ab. Aber eben auch: »Die Freiheit eines jeden ist also nicht die Schranke, sondern die Bedingung der Möglichkeit der Freiheit aller.« (24) Wer die gesellschaftlichen Bedingungen der Freiheit der Einzelnen zum Wahr- Sprechen zerstört, zerstört für Luxemburg den lebendigen Quell, aus dem Sozialismus allein hervorgehen kann. Dies war ihre Kritik am Leninismus (vgl. Brangsch in diesem Heft).
Das zweite Essay dieses Buches interpretiert Luxemburgs Leben als gelebte Philosophie. Dies ist in dieser Weise neu und ungeheuer anregend. Es ist eine Sichtweise, die bleiben wird. Wer Luxemburg verstehen will, sollte diese gedrängt geschriebenen Seiten lesen. Es wird ihre »Lebenskunst«, ihre »philosophische Lebensform« dargestellt – als Herausforderung, das eigene Leben »selbstbewusst nach einer Idee zu führen und zu gestalten« und eine »konkrete Identität von Leben und Denken, Existenzform und Denkform« herzustellen (37). Diese Identität ist die härtester Widersprüche, von denen vor allem die Briefe, aber auch viele Schriften Luxemburgs geprägt sind, die sie mit Heiterkeit und Zorn, mit Gelassenheit und Empörung erträgt und austrägt. Zitieren möchte ich nur einen, geschrieben nach ihrer Freilassung im November 1918, am Beginn der letzten freien und gejagten Wochen ihres Lebens: »Rücksichtsloseste revolutionäre Tatkraft und weitherzigste Menschlichkeit – dies allein ist der wahre Odem des Sozialismus. Eine Welt muss umgestürzt werden, aber jede Träne, die geflossen ist, obwohl sie abgewischt werden konnte, ist eine Anklage …« Es ist vor allem diese verdammt schwere Lebenskunst, die Luxemburg entwickelt hat, um derentwillen sie unvergessen bleibt. Dies deutlich gemacht, dies uns eindringlich vor Augen geführt zu haben, ist das große Verdienst dieser Schrift von Caysa.
Caysa schließt den Kreis der Betrachtung, indem er Luxemburg als Analytikerin und sicherlich auch Prophetin des Empires der sich ständig erweiternden Akkumulation des Kapitals untersucht. Er zeigt, wie das Kapital in seinem alles verschlingenden Kreislauf immer wieder nach einem neuen »Außen« sucht, es sich aktiv unterwirft, in gewisser Hinsicht dabei erst als eigenes Außen schafft und zerstört. Von hier aus sieht Caysa den ersten echten Weltbürgerkrieg heranreifen, der das 21. Jahrhundert prägen könnte – wenn wir nicht gemeinsam die Kapitaldominanz überwinden, bevor die Barbarei uns verschlingt. Dies war Luxemburgs Position. Dies ist auch ein Teil des Vermächtnisses von Caysa.
Volker Caysa: Rosa Luxemburg – die Philosophin. Leipzig: Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 2017 (Pdf-Volltext)