Als Leiter der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen hatte Meinhard Miegel Ende der 1990er Jahre der neoliberalen Entwicklung des Kapitalismus in der Bundesrepublik einen erheblichen Schub verliehen. Über die im Bericht dieser Kommission 1997 empfohlene Strategie steht dort, sie diene »vor allem der Entfaltung von Wachstums- und damit Wohlstandspotenzialen und der Erhöhung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft« (6). Miegel entwickelte mit seiner Kommission ein Gesamtkonzept bestehend aus Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung, der Verminderung der Leistungen sozialer Sicherungssysteme, einer Niedriglohnstrategie und härteren Zumutbarkeitsanforderungen. Das mögliche Beiprodukt, »in den Städten können Armenviertel entstehen, der Gesundheitszustand und die Lebenserwartung von Bevölkerungsgruppen können sinken, die Kriminalität kann steigen«, war kein Problem für ihn.
Nun aber, 2010, scheint er die Seiten gewechselt zu haben. Wie viele andere in diesen Zeiten prangert er in seinem neuen Buch Exit: Wohlstand ohne Wachstum den Wachstumswahn der Moderne an und beklagt das »martialische Verhältnis zur Natur« (2010, 70). Luft, Wasser und Land unterliegen gefährlichen Verschlechterungs- und Zerstörungsprozessen. »Hunger«, so Miegel, »wird im 21. Jahrhundert wieder zu einem großen Thema werden« (ebd., 115). Zu Miegels Wachstumsbilanz gehört die Verknappung vieler Rohstoffe und der Ausblick auf Preisanstiege, aber auch auf deren soziale Folgen und auf erbitterte Ressourcenkämpfe. In den Industrieländern werden allein der Rückgang der Bevölkerungszahlen und das Altern der Gesellschaft das Wachstum stark dämpfen (ebd., 129). Die Migrationsströme werden wachsen. Miegel erwartet, dass in zwanzig Jahren in Deutschland 30 Prozent der Erwerbstätigen und 40 Prozent der Berufseinsteiger Menschen mit Migrationshintergrund sein werden (ebd., 133). Die Bilanz der westlichen Wachstumsgesellschaft spiegelt, so Miegel, »eine menschheitsgeschichtlich einzigartige Erfolgsgeschichte wider« und ist zugleich »ein Dokument dramatischen Scheiterns« (ebd., 153f).
eim Versuch freilich, diesen Wandel zu erklären, gerät der Denker ins Stolpern. Der zutreffende Befund, dass die Wachstumsgläubigkeit zur allgegenwärtigen Alltagsreligion westlicher Produktions- und Lebensweisen geworden ist, wird bei Miegel zum Bestandteil allgemeinmenschlicher psychischer Verfasstheit: »Wie alles im Leben will auch der Mensch expandieren.« (Ebd., 42) Aber nicht »der Mensch« schlechthin, sondern der vom »Geist des Kapitalismus« (Max Weber) ergriffene, der Profitdominanz unterworfene und von der kapitalistischen Konkurrenz getriebene Mensch hat unter deren höchst irdischem Druck den Wachstumszwang verinnerlicht. Protestantische Ethik und Calvinismus haben, wie Max Weber (1920) herausarbeitete, kräftig dazu beigetragen, ehe die neue Wachstumsreligion den Gottesglauben an Wirkungsmacht überflügelte – aber eben als Vehikel der Kapitalakkumulation.
Miegels Ansiedlung des Wachstumsproblems außerhalb der kapitalistischen Eigentums- und Machtverhältnisse schließt Fragen nach deren Zurückdrängung von vornherein aus. Wohl wirft er wichtige Fragen nach neuen Lebensqualitäten jenseits materieller Konsumtion auf – allerdings ohne sie zu beantworten. Das Stolpern führt dann auch letztlich zu einem ausgemachten Salto. Der große Ausbruch des Meinhard Miegel aus dem wachstumsfixierten Mainstream, sein Plädoyer für eine neue Zivilisation, sein Denkaufbruch zu anderen Maßstäben des Lebens landet kläglich genau da, wo von Neuland keine Spur ist. In seinem Buch Epochenwende hatte Miegel 2005 aus dem Aufstieg von Schwellenländern wie China, Indien und Brasilien gefolgert, dass für den Westen die Zeiten des Wohlstands zu Ende gingen. »Im Klartext: Erwerbstätige in den frühindustrialisierten Ländern müssen auf ihre gewohnten Arbeitsplätze verzichten, hochmobil sein, fast jede sich bietende Arbeitsgelegenheit nutzen und vor allem bereit sein, Einkommenseinbußen hinzunehmen.« (Ebd., 78) Und: »Für die seit Generationen einkommensverwöhnten Westler ist dies ein Schock. Aber es sind die Gesetze des Marktes, die der Westen die Welt gelehrt hat. Sie jetzt ändern zu wollen ist nicht nur doppelzüngig, sondern auch aussichtslos.« (Ebd., 206) Europas Wachstum schien Miegel nur noch auf marktradikalen Pfaden zu retten.
In Exit: Wohlstand ohne Wachstum landet er genau dort, wo er sich schon immer befand, nur diesmal nicht im Namen des Wachstums, sondern im Zeichen der Wachstumskritik. Der Überlegung, dass die Abkehr von der Wachstumsfixiertheit angesichts der Armut in der Welt zwingend Verteilungsgerechtigkeit herausfordert, setzt Miegel entgegen: »Es geht nicht. […] Die große Sause ist vorüber, die Bar geschlossen.« (2010, 165) Es mache »keinen Unterschied, ob der Einzelne noch durstig ist oder nicht. Für Durstige wie Nichtdurstige steht auf dem Schild: ›geschlossen‹« (ebd.). Umverteilung gehöre nicht zur Lösung. Überhaupt ließe sich der Reichtum der Reichen schon deshalb nicht umverteilen, weil er zum größten Teil aus Werkshallen, Maschinen, Büros, kurz: überwiegend aus Arbeitsplätzen bestehe (ebd., 178). Jedoch – ob Finanzvermögen, fixes Kapital in der Produktion oder Kommando über Arbeitsplätze: Kapitalreichtum ist ökonomische und politische Macht, und die muss in den künftigen Kämpfen neu verteilt werden.
Die Pointe Miegelscher Wachstumskritik ist eine andere. Wie durch einen Zaubertrick kommt er zur gleichen Konklusion wie in seinen Konzepten für mehr Wachstum. Wenn die Gesellschaften künftig ohne Wachstum leben müssten, dann heißt das: niedrigere Löhne (ebd., 190), Senkung individueller Sozialleistungen (ebd., 203), individuelle Vorsorge und in Notfällen Einstehen von Familien, Freunden und Nachbarn anstelle des Sozialstaats (ebd., 205f), mehrere Jobs der Einzelnen in Kombination von abhängiger Beschäftigung und Selbstständigkeit (ebd., 199), späterer Renteneintritt, höhere Konsumsteuern (ebd., 204) und – in emanzipatorischen Zusammenhängen gewiss eine zentrale Aufgabe – Entfaltung menschlicher Kultur in aller Vielfalt (ebd., 239). Ob mit oder ohne Wachstum, die sozial Schwachen müssen bluten. Wie auf solcher Grundlage die »Entfaltung emotionalsozialer Potenziale« (ebd., 233) in das Zentrum eines neuen Wohlstandstyps treten soll, bleibt unbeantwortet. Und doch ist Miegel mit seiner Distanz zum Wachstum auch jenen Teilen der Machteliten voraus, unter denen ein in der Regel diffuses Nachdenken über die Dringlichkeit von Veränderungen zur Bewahrung der Natur um sich greift – meist allerdings nur als Hoffnung auf ein ökologisches Wachstum durch umwelttechnologischen Strukturwandel. Miegel sieht, dass der Wachstumspfad selbst in den Abgrund führt und verlassen werden muss. Seine Neupositionierung deutet auf Such- und Differenzierungsprozesse in den Machteliten hin. Linke radikale Realpolitik gebietet, die darin keimhaft aufscheinenden Politikoptionen auszuschöpfen wie die Begrenztheit bürgerlicher Wachstumskritik unverkennbar deutlich zu machen.
Überwiegend mit Zustimmung liest sich der Epilog am Ende des Buches: Eigentlicher Wohlstand »beginnt erst da, wo das Wachstum endet. Eigentlicher, menschenspezifischer Wohlstand – das ist bewusst zu leben, die Sinne zu nutzen, Zeit für sich und andere zu haben, für Kinder, Familienangehörige, Freunde. Eigentlicher, menschenspezifischer Wohlstand – das ist Freude an der Natur, der Kunst, dem Schönen, dem Lernen; das sind menschengemäße Häuser und Städte mit Straßen und Plätzen, die die Bewohner gerne aufsuchen; das ist ein intelligentes Verkehrssystem, das ist gelegentliche Stille, das ist sinnenfroher Genuss, das ist die Fähigkeit des Menschen, mit sich selbst etwas anfangen zu können. Eigentlicher, menschengemäßer Wohlstand – das ist nicht zuletzt Revitalisierung der spirituell-kulturellen Dimension des Menschen, die durch das Streben nach immer größeren Gütermengen weithin verkümmert ist. […] Dies zu erkennen wird der große Paradigmenwechsel dieses Jahrhunderts sein – oder dieses Jahrhundert wird scheitern.« (Ebd., 247) Wie bedauerlich, dass Meinhard Miegel die Widersprüche und Probleme des Transformationsprozesses auf dem Weg dorthin einfach ausgeklammert hat: die Eigentums- und Machtfragen, den Übergang zu einer neuen Regulationsweise, die Bedingungen für den Abschied der Einzelnen und der ganzen Gesellschaft von Denk- und Verhaltensweisen, die über Generationen verinnerlicht wurden, die Mechanismen für Innovationsprozesse ohne Wachstum, Chancen und Grenzen für nachhaltiges Handeln innerhalb der Machteliten. Miegel hält es wohl doch nicht mit der Dialektik.
P.S.: In seinem Schlusskapitel schlägt Miegel nach fulminanter Wachstumskritik einen verblüffend inkonsequenten Haken. Auf der vorletzten Seite ist zu lesen: »Wachstum wird und muss sein. Wachstum gehört zum Leben. Doch das von Menschen gemachte Wachstum bedarf, ehe es in Gang gesetzt wird, einer Unbedenklichkeitsprüfung. […] Nunmehr ist Wachstum nur dann wünschenswert und gut, wenn es ohne Beeinträchtigung von natürlichen Lebensgrundlagen sowie Mensch und Gesellschaft möglich ist.« Ist Wachstum, natürlich ein gutes, für Europa also doch die Perspektive? Ist eine Entkopplung von Wachstum des Bruttoinlandsprodukts und Ressourcenverbrauch sowie sozialen Zerstö- rungsprozessen möglich? Oder bleibt es bei der Kritik des Wachstums – wenn auch einer anderen Kritik als der Miegelschen?