Seit meiner Kindheit bin ich fast jeden Sommer durch die Straßen von Mariupol gelaufen. Zuletzt im Sommer 2019, vor der Pandemie, denn das Grab meines Vaters liegt in einem Dorf vor der Stadt. Angesichts dessen fällt mir die Reflexion über die aktuellen Ereignisse nicht leicht. Indem die Putin’sche Kriegsmaschinerie Krankenhäuser, Schulen, Theater und Eisenbahnen in Mariupol und anderswo zerstört, löscht sie auch die öffentlichen Infrastrukturen der Sowjetzeit aus – ein Prozess der »Entkommunisierung«. Der drei Jahrzehnte währende deprimierende Prozess der Klassenzersetzung, Verelendung und Auswanderung der ukrainischen Arbeiter*innenklasse hat sich zu Massakern und Zwangsvertreibung gesteigert. Es geht dabei auch um die Auslöschung von Geschichte und Erinnerung. 
Während aus Orten wie Butcha entsetzliche Bilder von Verwüstung, Tod und Vergewaltigung im Internet kursieren und während ukrainische Frauen mit Kindern in Europa willkommen geheißen werden, ungewollten »anderen« hingegen die Einreise verwehrt wird, bekommen wir von westlichen und ukrainischen Eliten immer wieder gesagt, die Ukraine verteidige Europa und führe einen europäischen Krieg. Dabei wird die aufkommende Idee des »Ukrainisch-Seins« und dessen Gleichsetzung mit dem »Europäisch-Sein« durch Konzepte von Rasse, Klasse, Geschlecht und Sexualität vermittelt. Ukrainische Selbstbestimmung wird von den lokalen Eliten zunehmend damit in Verbindung gebracht, sich als »weiße« und »europäische« »ukrainische Nation« in die »Festung Europa« einzugliedern. Das Konzept der »Selbstbestimmung«, einst eine Losung der internationalistischen, antikolonialen und antiimperialen revolutionären Linken, wird nunmehr instrumentalisiert und in der eurozentrischen Denkweise westlicher und ukrainischer Eliten von seinen kommunistischen und antifaschistischen Wurzeln abgetrennt. Die Ironie ist, dass sich diese Umdeutung nicht stark unterscheidet von Putins eigenen Angriffen (vgl. Tugal 2022) auf die Selbstbestimmung der Ukraine, einem Land, das er abwertend mit den leninistischen Prinzipien des Antiimperialismus und Antikapitalismus verbindet.
Die neuere Osteuropa-Forschung, die sich mit Rassismus, Klassenverhältnissen und Imperialismus (und nur wenig mit Geschlecht und Sexualität) befasst, untersucht die vielfältigen Peripherisierungen verschiedener osteuropäischer und postsowjetischer Länder gegenüber »Europa«. Sie materialisieren sich im ungleichen Zugang dieser Nationen zu einem spezifischen »Weißsein«, im Zugang zur erfolgreichen Eingliederung in die kapitalistische Wirtschaft nach europäischen Maßstäben und der Zugehörigkeit zu den Gewinnern des Neoliberalismus, den »bürgerlichen«, westlichen, nicht kommunistischen Nationen. Das »Weißsein« der Osteuropäer*innen ist historisch stets kontingent gewesen. Während Varianten des »Europäertums« stilisiert werden, birgt jede Abweichung von den vermeintlichen Normen dieser Identität die Gefahr eines Statusverlusts mit entsprechenden materiellen Auswirkungen. Die Region und ihre Bewohner*innen sind zu prekären »Europäer*innen« gemacht worden, sei es durch enteignende IWF-Kredite, energiepolitische Maßnahmen, prekäre Arbeitsmöglichkeiten für Migrant*innen oder die Abhängigkeit von Auslandsüberweisungen.
Mein Anliegen ist es, Abstand zu nehmen vom Fokus auf militärisch-strategische Fragen, von Lagerdenken und methodischem Nationalismus, der viele Debatten zum Ukraine-Krieg prägt. Stattdessen will ich die Aufmerksamkeit auf eine Kritik der politischen Ökonomie und eine Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen ukrainischen Staat lenken, mit den rassifizierenden Elementen des ukrainischen Nationalismus, aber auch den alltäglichen Dynamiken der sozialen Reproduktion.

»Gute Europäer«


In den ersten Wochen nach dem russischen Einmarsch wurde die Welt Zeugin rassistischer Gewalt (Tondo/Akinwotu 2022) an den Grenzen der Ukraine zu Polen, Rumänien und Ungarn. Flüchtlingen aus Afrika, Südasien und Nahost sowie ukrainischen Roma (Popoviciu 2022) und Tausenden von internationalen Studierenden wurde der Grenzübertritt verwehrt. Mancherorts wurden sie von Ukrainer*innen, die Menschenketten bildeten, daran gehindert, Züge nach Westen zu besteigen. Internationale Journalist*innen prangerten dies an, gingen aber geschwind dazu über, Bilder von freundlichen freiwilligen Helfer*innen zu zeigen, die Spielzeug an ukrainische Kinder verteilen. In Nordamerika und Westeuropa erstrahlten unterdessen Einkaufszentren in den Farben Blau und Gelb. Auf der Webseite des Tech-Giganten Amazon kann man auf »Helfen Sie den Menschen in der Ukraine« klicken. Einige der größten Immobilienkonzerne Kanadas – die während der Pandemie die Mieten erhöht hatten – verständigten sich darauf, Ukrainer*innen kostenlosen, subventionierten Wohnraum anzubieten. Die Medien und westliche Politiker*innen schienen beschlossen zu haben, dass die Ukrainer*innen »gute«, »europäische« Bürger*innen sind. Rassismus wurde nicht als strukturelles Problem begriffen, sondern als Summe von Einzelfällen.
Der ukrainische Widerstand wird als heldenhaft und demokratisch gefeiert. Gleichzeitig werden nationale Selbstbestimmung und gewaltsamer Widerstand anderswo nicht im gleichen Maße gewürdigt, sondern als terroristisch verunglimpft. Warum ist das so? Sind die Bürger*innen in Afghanistan, in Syrien, im Irak, im Jemen, in Gaza und in Äthiopien nicht auch mit außergewöhnlichen Umständen konfrontiert? Bis Ende 2021 forderte allein der Konflikt im Jemen 377 000 Tote, davon fast 70 Prozent Kinder unter fünf Jahren.  An der polnischen Grenze gab es für diese Frauen und Kinder kein Essen und Spielzeug, sondern Tränengas, Wasserwerfer, Polizeihunde und Stacheldraht. Gerade erst wurde Polens Grenze zu Weißrussland zur neuesten Frontlinie einer hochtechnologischen Überwachungs- und Abschreckungspolitik aufgerüstet. Im Oktober 2021 genehmigte die polnische Regierung die Errichtung eines 350 Millionen Euro teuren, bis zu 5,50 Meter hohen Sicherheitszauns mit hochmodernen Kameras und Bewegungssensoren, von denen Rüstungs- und Technologieunternehmen unmittelbar profitieren. Um russische Kriegsverbrechen in der Ukraine zu ahnden, haben das Vereinigte Königreich, Kanada und Frankreich dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) Gelder zukommen lassen. Für die Verfolgung von Kriegsverbrechen in Afghanistan, Syrien und im Irak, an denen auch polnisches und ukrainisches Militär beteiligt war, hat der IStGH hingegen Mühe, Mittel aufzutreiben. Hier offenbart sich der systemische Rassismus, der nicht nur die liberale Justiz, sondern auch die Verteilung von humanitärer Hilfe durchzieht (vgl. Alexander/Rozzelle 2022). Unter diesen Eindrücken beschreibt Ralph Wilde die Theatralik offizieller europäischer Sympathien für die Ukraine zum »soziopathischen, rassistischen Gaslighting der irakischen Bevölkerung« – und vieler anderer, die durch europäische und nordamerikanische Kriege enteignet worden sind.
So oft, wie in Medien von ukrainischen Molotowcocktails die Rede ist, kann man den Eindruck bekommen, der Krieg werde allein aufgrund der radikalen Selbstverteidigung der Bevölkerung gewonnen. Doch auch wenn der Mut und die kollektive Stärke enorm ausgeprägt sind, wird die Verteidigung doch ›von oben‹ (durch den Staatsapparat) geleitet und ›von außen‹ (durch ein gut finanziertes Heer) unterstützt, das von imperialistischen, kapitalistischen Interessen durchzogen ist. Wir müssen folglich unterscheiden zwischen den Interessen der ukrainischen Bevölkerung und den Interessen des ukrainischen kapitalistischen Staates. Letzterer hat die ukrainische Bevölkerung durch Militarisierung und Austerität seit 2014 kontinuierlich enteignet.
Vor Ausbruch der Feindseligkeiten hatte die Ukraine bereits 30 Prozent der sowjetischen Militärbestände geerbt und ihre Militärausgaben in den vorhergehenden zehn Jahren vervierfacht. Sie verfügt über fast 500 000 Soldat*innen – davon 250 000 in regulären Truppen und eine 250 000 Rekrut*innen starke Nationalgarde, darunter neofaschistische Gruppen wie die Aidar- und Asow-Bataillone. Das Heer dürfte stärker sein als dasjenige der osteuropäischen NATO-Mitglieder und steht in der Region nur hinter der Türkei und Russland zurück. Die einheimische Rüstungsindustrie ist beachtlich; zusätzlich wurden der Ukraine in den letzten Monaten vonseiten der USA mehr als 1,7 Milliarden Dollar an »tödlicher Hilfe« zugesagt, zusätzlich zu den 2,5 Milliarden Dollar, die zwischen 2014 und 2021 gezahlt wurden – plus Ausbildungsleistungen  und weitere Mittel anderer NATO-Verbündeter. Am 28. April genehmigte der US-Kongress 33 Milliarden Dollar für weitere militärische sowie für wirtschaftliche und humanitäre Hilfe. Wie die New York Times berichtet, sind das insgesamt 46,6 Milliarden Dollar, was mehr als zwei Dritteln des gesamten jährlichen Verteidigungshaushalts Russlands (65,9 Mrd. US-Dollar) entspricht. Die Verteidigung der Ukraine wird unter Berufung auf Roosevelts Lend-Lease Act von 1941 »lebenswichtig für die Verteidigung der Vereinigten Staaten« bezeichnet. Das zeigt die Eskalationsdynamik und das Interesse der USA an einem langwierigen Krieg. Zweifelsohne hat diese »Hilfe« dazu beigetragen, den russischen Vormarsch zu stoppen. Doch wie schlägt sich die Militarisierung im alltäglichen Leben der Arbeiter*innenklasse nieder, die versucht, über die Runden zu kommen?

»Sollen sie doch Kanonen essen!« 
Neoliberale Reformen und Militarisierung


Mit der 2014 einsetzenden Militarisierung gingen neoliberale Reformen einher:  staatliche Ausgaben für die soziale Reproduktion wurden drastisch gedrosselt; die Einsparungen mit den »unumgänglichen Erfordernissen« der Kriegsanstrengungen gerechtfertigt und mit dem Aufruf, »Opfer für die Nation« zu bringen, normalisiert (vgl. Mathers 2020). Die strengen Kürzungen der Sozialausgaben, auferlegt von internationalen Finanzinstitutionen wie dem IWF, umfassen die faktische Abschaffung von Brennstoffsubventionen (die zu höheren Preisen für Gas, Heizung, Strom und Transportmittel geführt hat), weitreichende Kürzungen in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Kinderbetreuung sowie eine umfassende Reform des Rentensystems. Dies alles hat die Ungleichheit verschärft, sodass 67 Prozent der ukrainischen Haushalte im Jahr 2021 als »arm« galten.
Der soziale Kahlschlag erfolgte zeitgleich mit den 2015 eingeführten »Entkommunisierungsgesetzen« (Council of Europe 2015), mit denen kommunistische Parteien und Symbole verboten, Städte und Straßen aus der Sowjet­zeit umbenannt und die Verfolgung linker Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen erleichtert wurde. Im Namen von Modernisierung und Europäisierung wurde der in der Verfassung verankerte Wohlfahrtsstaat reformiert, von dem nach der Schocktherapie der 1990er Jahre ohnehin wenig übrig geblieben war. Es wurden unter anderem die Geldstrafen für gesetzesbrüchige Arbeitgeber*innen herabgesetzt, der Arbeitsschutz dereguliert und das Rentensystem verändert sowie das Gesundheitswesen privatisiert. Die Ausgaben für das Gesundheits- und Bildungswesen und den öffentlichen Dienst wurden 2013 bis 2016 um jeweils über ein Drittel gekürzt. Die Enteignung durch Austerität und Militarisierung hat zu einer Feminisierung von prekärer Beschäftigung und Armut geführt.
Für die zwei Millionen Menschen, die bereits vor der aktuellen Eskalation durch den Krieg im Donbass vertrieben wurden, war soziale Reproduktion in den letzten acht Jahren schon nahezu unmöglich. Der ukrainische Staat stellte im November 2014 staatliche Dienstleistungen in den Separatistengebieten ein, inklusive der Rentenzahlungen. Viele ukrainische Bürger*innen, die zufällig auf der falschen Seite der Frontlinie wohnten, mussten erst die Grenze zu den ukrainisch kontrollierten Gebieten überschreiten, um ihre Rente zu erhalten. Im Jahr 2016 führte die ukrainische Regierung strenge Kontrollmaßnahmen ein, laut denen »Binnenvertriebene« alle zwei Monate in den von der Regierung kontrollierten Gebieten vorstellig werden mussten, um ihre Rentenberechtigung nicht zu verlieren. Viele ältere Menschen mussten alle 60 Tage bis zu 24 Stunden lang mit Bussen oder zu Fuß anreisen und in langen Schlangen ohne Obdach und ohne Toiletten warten, um ihre magere Rente von durchschnittlich 90 US-Dollar entgegenzunehmen. Allein zwischen Dezember 2018 und April 2019 starben 18 ältere Menschen während der schwierigen Reise. Laut Schätzungen der UNO verloren so insgesamt 400 000 Menschen den Zugang zu ihren Renten. Der ukrainische Pensionsfonds hat Schulden in Höhe von 86 Milliarden Griwna (etwa 3,5 Milliarden US-Dollar) bei diesen Rentner*innen angehäuft. 
Auch Gewalt gegen Frauen hat durch den Krieg zugenommen. Mathers schreibt, »maskulinisierte Körper nehmen als Soldaten an Kampfeinsätzen teil. Wenn sie hinter die Front zurückkehren, um sich von den Verletzungen zu erholen, müssen sie aufgrund von Kürzungen der staatlichen Gesundheitsversorgung größtenteils in den Haushalten versorgt werden« (Mathers 2020, 1236). Im Jahr 2018 wurde in den von der Ukraine kontrollierten Teilen von Donezk und Luhansk ein Anstieg der gemeldeten Fälle von häuslicher Gewalt um 76 Prozent (bzw. gegenüber dem Durchschnitt der vorherigen drei Jahre um 158 Prozent) vermeldet. Angehörige des Militärs und der Polizei müssen nicht vor Zivilgerichten erscheinen und sind damit vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt.

Migrantische Arbeit, soziale Reproduktion und das »Grenzland des Weißseins«


Durch die neoliberalen Reformen der Schocktherapie durchliefen die Industrie, die öffentliche Infrastruktur und die qualifizierten Arbeitskräfte der postsowjetischen Ukraine einen Prozess ursprünglicher Akkumulation und bildeten ihre ganz eigene Variante des kapitalistischen Staates aus, eine neoliberale Kleptokratie (vgl. Ishchenko/Yurchenko 2019). In der Folge müssen ukrainische Mütter und Großmütter oftmals ihre Familien zurücklassen, um wie andere Osteuropäer*innen in den 1990er Jahren als migrantische Hausangestellte zu arbeiten (vgl. Hristova 2021). Für wohlhabende »weiße Frauen« leisten sie in Italien, Deutschland, Polen, den USA und Kanada nun die soziale Reproduktionsarbeit. Seit 2014 ist ihre Zahl dramatisch angestiegen. Den Großteil ihres Einkommens überweisen sie nach Hause, um dort die Lücken der staatlichen Versorgung zu schließen und die Schäden durch Krieg und Militarisierung zumindest etwas zu kompensieren. 
Im Jahr 2020 wurde die Zahl der im Ausland lebenden ukrainischen Arbeiter*innen auf 2,2 bis 2,7 Millionen geschätzt, was 13 bis 16 Prozent der Gesamtbeschäftigung im Land entspricht. Bis Ende Februar 2020 stieg die Zahl der nach Polen geflüchteten Ukrainer*innen auf 1 390 978, davon 44 Prozent Frauen, die nun meist im prekären Pflegesektor beschäftigt sind. Die Ukraine ist (in absoluten Zahlen) der weltweit zehnt­größte Empfänger von Rücküberweisungen, diese machten 2020 etwa 9,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus. Die Rücküberweisungen decken in manchen Fällen zwischen 50 und 60 Prozent des Budgets der Empfängerhaushalte (vgl. Pieńkowski 2020). Die Reproduktion der ­ukrainischen Arbeitskräfte ist für die EU-Länder sozusagen »kostenlos«, da sie im Heimatland aufgezogen, qualifiziert und versorgt wurden, und auch jetzt verursachen sie wenig Kosten, da sie von staatlichen Leistungen der EU ausgeschlossen sind.
Die soziale Reproduktion von EU-Bür­ger*innen und ukrainischen Arbeiter*innen ist in ko-konstitutive Dynamiken von Geschlecht, Rasissmus und Klassenverhältnissen verstrickt. Dahinter steht zudem die ­vermeintliche »Bedrohung« durch nicht-weiße Flüchtlinge. Die geschlechtsspezifische Arbeit »produziert die Nation« und formt die Grenzen Europas, denn wie Krivonos und Diatlova argumentieren, »[entsteht] Europa […] durch den symbolischen Austausch von Frauen und ihrer Reproduktionsarbeit zwischen Ost und West« (2020, 120). Die mitteleuropäische Antimigrationsrhetorik gegenüber dem globalen Süden erscheint besonders paradox, wenn man betrachtet, wie stark diese Region von der Migration aus dem Osten, einschließlich der Ukraine, profitiert. Obwohl auch polnische Frauen als Hausangestellte in westeuropäischen Ländern beschäftigt sind, »spielen sich polnische Arbeitgeber*innen gegenüber ukrainischen Hausangestellten oft als paternalistische Vertreter*innen westlicher Werte und Lebensstile auf« (Safuta 2018, 225). Weißsein basiert also nicht auf einer Dichotomie, sondern einem Gefälle. Abstufungen dieses »peripheren Weißseins« bzw. der Nähe zu Europa ­bewegen sich von Brüssel nach Warschau, von Warschau nach Lviv, von Lviv nach Donezk. Die Rassifizierung osteuropäischer Frauen in der Pflege- und Hausarbeitsbranche hat konkrete politisch-ökonomische Funktionen, die eingebettet sind in die Kommodifizierung der Pflege im neoliberalen Westeuropa und die kontinuierliche Feminisierung von Armut in Osteuropa, die in der Ukraine besonders eng mit der militarisierten Austerität nach 2014 zusammenhängt. 
Auch die ukrainischen Angebote in der assistierten Reproduktionstechnologie (»Repro-Tourismus«) sind stark von transnationalen Netzwerken, Klasse und Rassifizierung abhängig. Sie zielen auf die biologische Reproduktion »weißer« europäischer Babys durch »ärmere« weiße Reproduktionsarbeiterinnen. So ­genießt die »Leihmutterschaftindustrie« in der Ukraine einen Wettbewerbsvorteil gegenüber der indischen oder thailändischen, da ihre Reproduktionsarbeiterinnen als ­weitgehend »weiß« und »europäisch« gelten. Der ukrainische Staat erhebt zwar keine offiziellen Statistiken, doch mit schätzungsweise jährlich 2 000 bis 3 000 Leihmutterschaftsbabys ist das Land womöglich international führend in der Branche. Während sich die Kosten für die zukünftigen Eltern auf 38 000 bis 45 000 US-Dollar belaufen, erhalten die Leihmütter nur 300 bis 400 US-Dollar monatlich und ca. 15 000 US-Dollar am Ende der Schwangerschaft.
Zu Beginn der Invasion erwarteten rund 800 Paare ein Kind von einer Leihmutter in der Ukraine (vgl. Coles 2022). Infolge des Einmarsches sind Leihmütter, Krankenschwestern und Kinder nun erneut in einer schwierigen Lage. Die Leihmütter werden in eine Situation gebracht, in der sie das Kind über die vereinbarte Vertragszeit hinaus betreuen, jedoch lange auf die Bezahlung warten müssen. Einige von ihnen waren nicht in der Lage, zu fliehen, da sie fürchten mussten, sich in anderen Ländern laut Gesetz als Vormund der Babys registrieren zu müssen. Das Beispiel zeigt, wie reichere westliche Länder Reproduktionsarbeit in die Peripherie auslagern – wobei in diesem Fall die Arbeiterin gar nicht erst in die EU einzuwandern braucht. Im Jahr 2018 erzeugte der Leihmutterschaftsmarkt in der Ukraine Einnahmen von über 1,5 Milliarden US-Dollar, allerdings werden der Leihmutter weder Schwangerschaft noch Geburt bei der Rentenberechnung angerechnet (vgl. Lamberton 2020). Auf der anderen Seite verlässt sich die Branche auf die »kostenlose« soziale Reproduktion der Leihmutter in der Ukraine sowie auf die Care-Infrastruktur des Landes, die noch weitgehend aus der Sowjet­zeit stammt. Ukrainische Leihmütter riskieren, dass ungewollte Kinder, insbesondere solche mit Behinderungen, von den Kund*innen abgelehnt werden (vgl. ebd.).
Ukrainische Eizellenspenderinnen und Leihmütter »werden in den Diskursen der Kliniken und Vermittlungsagenturen als Trägerinnen des Weißseins […] und der Weiblichkeit konstruiert (Vlasenko 2015, 202). So heißt es auf der BioTextCom-Webseite in der Rubrik »Über uns«: »Willkommen bei der größten europäischen Typenspenderinnen-Datenbank. Der ukrainische Genpool gilt als der beste für Unfruchtbarkeitsbehandlungen.« Dabei werden Ukrainerinnen nicht nur als explizit europäisch und besonders fruchtbar charakterisiert, sondern es wird auch impliziert, dass sie Leihmüttern aus dem globalen Süden vorzuziehen seien – ganz zu schweigen von der Homogenisierung von Ukrainer*innen, die diese Zuschreibungen transportieren. Die Beschreibung der Eizellspenderinnen auf der Datenbank-Webseite ist kategorisiert nach »Schönheit, Intellekt, Gesundheit, Menschlichkeit« – in genau dieser Reihenfolge. Dort heißt es: »Manche sagen, die Schönheit ukrainischer Frauen sei auf die zahlreichen Eroberungen und Umsiedlungen zurückzuführen, die zu einer reichen genetischen Mischung geführt hätten  […]. Expert*innen und Liebhaber*innen weiblicher Schönheit  [äußern] einstimmig, ukrainische Frauen seien die schönsten der Welt, sofern wir vom europäischen Erscheinungstyp ausgehen. Ein normaler Körperbau und ein normales Körpergewicht, helle Augen, Haare und Haut, feine Gesichtszüge sprechen für ukrainische Spenderinnen.«
Um die seit 2014 zunehmende Feminisierung von prekärer Arbeit und Armut in der Ukraine zu verschleiern, versichert BioTextCom, die meisten Spenderinnen stammten aus der »Mittelschicht« und ihre Motivation sei in erster Linie Wohltätigkeit – anders als im globalen Süden, wo Armut das Hauptmotiv sei. Dies entspricht nicht der Wahrheit. In Interviews gaben einige ukrainische Leihmütter an, dass sie durch den Krieg in der Donbass-Region vertrieben worden seien, während es anderen darum ginge, ihr geringes Einkommen aufzubessern (vgl. Vlasenko 2020). Offensichtlich ist die »Ukraine« mit der Produktion jenes Weißseins beschäftigt, in dessen Grenzland sie sich befindet – ihre billige Reproduktionsarbeit dient auch dazu, eine Grenze um die europäische Zivilisation aufrechtzuerhalten.

Die Welt feuert die Ukraine an


Schlagen wir den Bogen: Wenn wir in den Nachrichten hören, dass »die Ukraine einen europäischen Krieg führt« oder »Europa verteidigt« und die fliehenden »armen weißen« Frauen und Kinder gegenüber anderen bevorzugt werden, dann erhält die Ukraine in der globalen Imagination das Attribut des »Weißseins«. Die Mythologien von einer westlichen Zivilisation ermöglichen und bedingen »die Aufforderung, sich zu europäisieren bzw. ›nach Europa zurückzukehren‹. Und diese Europäisierung ist zugleich eine Markierung (Verkündung) und eine Entmarkierung (Naturalisierung) des Weißseins der Ukrainer*innen.« (Husakouskaya/Gressgård 2020, 76) Paradox daran ist: Europa als solches existiert nur durch die Ausbeutung der globalen Arbeiter*innenklasse, die Enteignung von Ressourcen und die heutigen neoliberalen Wirtschaftsreformen – es wird durch feminisierte Arbeit am Leben gehalten. Dazu gehören auch billige Arbeitskräfte aus der Ukraine, die im Vergleich zu Arbeitsmigrant*innen aus dem globalen Süden noch relativ »privilegiert«, aber keineswegs so privilegiert sind wie die westlichen Mittelschichten. 
W.E.B. DuBois’ Konzept des »psychologischen Lohns« des Weißseins verdeutlicht, wie Rasse und Klasse bei der Herausbildung der armen weißen Arbeiter*in zusammenspielen: »Es muss daran erinnert werden, dass weiße Arbeiter*innen zwar einen niedrigen Lohn erhielten, aber durch eine Art öffentlichen und psychologischen Lohn entschädigt wurden. Sie wurden in der Öffentlichkeit mit Ehrerbietung und Höflichkeitstiteln bedacht, weil sie weiß waren.« (Du Bois 1935, 700)
Der vom ukrainischen Staat und liberalen Eliten konstruierte, im Westen überaus begrüßte ukrainische Nationalismus als Prozess einer »Rückkehr nach Europa« ist in historisch ungleiche, geschlechtsspezifische und rassifizierte Verhältnisse des globalen Kapitalismus verstrickt. Die ohnehin verarmte ukrainische Bevölkerung muss zusätzlich die Kriegsanstrengungen mit ihrer Care-Arbeit subventionieren. Die Kosten des Krieges und der Verteidigung werden vergesellschaftet, zulasten der Lebensgrundlagen der Menschen.
Was ist unter Selbstbestimmung der Ukraine zu verstehen? Wen repräsentiert, wen umfasst »die Ukraine« überhaupt? Wie wird sich der Widerstand gegen den russischen Imperialismus angesichts von Militarisierung, Nationalismus und Austerität nach einem Ende des Krieges artikulieren? Kann er sich in eine Solidarisierung von antiimperialistischen und antikapitalistischen Kämpfen im globalen Süden übersetzen? Dies würde erfordern, die Ukraine neu zu denken, nämlich als ein antirassistisches, pluralistisches und sozialistisches Projekt von unten. Das geht nicht ohne eine Kritik des Eurozentrismus. Darum muss die Losung sein: Sieg für die arbeitenden Menschen in der Ukraine, Solidarität mit der russischen Antikriegsbewegung!

Der Artikel erschien in einer längeren Version bei LeftEast. Aus dem Englischen von Max Henninger.