»Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.« (Bertolt Brecht, Me-Ti, 1942)
Frieden ist mehr als Abwesenheit von Krieg. Gewaltvolle Konflikte haben nicht nur direkte, sondern auch indirekte und strukturelle Ursachen, zum Beispiel Armut, Hunger, politische Diskriminierung oder soziale Ungleichheit. Der Begriff »positiver Frieden« berücksichtigt diese Aspekte und zielt auf einen Zustand, in dem nicht nur direkte Gewalt eingestellt wird, sondern auch indirekte und strukturelle Formen von Gewalt präventiv und nachhaltig beseitigt werden. In einer Zeit, in der Sicherheit zunehmend als militärische Sicherheit neu definiert wird und militärische Konfrontation und Krieg wieder als probate Mittel der Konfliktlösung gelten, im Angesicht eines barbarischen Angriffskriegs auf die Ukraine, globaler Aufrüstung (SIPRI 2022) und neuer Konfrontationskurse der Großmächte mag es idealistisch, ja naiv klingen, von »positivem Frieden« zu sprechen. Doch die Tatsache, dass die bisherigen Bemühungen für eine Lösung der vielfältigen sozialen, ökologischen und gesellschaftspolitischen Probleme der Gegenwart wenig erfolgreich waren und sich zunehmend Hoffnungslosigkeit breitmacht, ob es überhaupt noch Auswege gibt oder ein neuer Weltkrieg vor der Tür steht, macht es geradezu notwendig, friedenspolitische Ansätze wieder aufzugreifen und weiterzuentwickeln. Denn es ist offensichtlich, dass die vielfältigen Krisen der Gegenwart nicht mit Ansätzen überwunden werden können, die die Zukunft als Fortsetzung der Gegenwart verstehen. Vielmehr sind Fantasie und unkonventionelles Denken gefragt, um nach neuen Wegen der Problemlösung zu suchen. Und das erfordert auch andere Analyse- und Definitionsansätze.
Der Begriff des »positiven Friedens« geht auf den norwegischen Mathematiker und Mitbegründer der Friedens- und Konfliktforschung Johan Galtung zurück. Er unterscheidet »negativen Frieden« als Abwesenheit physischer Gewalt und »positiven Frieden« als gerechten und in jeder Hinsicht wünschenswerten Zustand (Galtung 1971a). Daraus ergibt sich die Unterscheidung zwischen Frieden als Ziel und als Prozess: Während »negativer Frieden« einem Zustand des »Nicht-Krieges« entspricht, wird »positiver Frieden« als dynamischer Prozess im Sinne einer produktiven Schaffung gerechterer sozioökonomischer und politischer Verhältnisse verstanden – oder umgekehrt als Beseitigung der Ursachen für diesen potenziellen Gewaltausbruch durch eine »positive« Gestaltung und Regulierung der Beziehungen.
Die Unterscheidung beruht auf einer differenzierten Ausweitung des Gewaltbegriffs auf alle negativen Folgen sozialer, politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse und Beziehungen (vgl. Balibar 2001). Die Ursache gewaltförmiger Konflikte und Kriege liegt oftmals in der »strukturellen Gewalt« (Galtung 1971 [1969], 1975; Senghaas 1987) begründet, in sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnissen und Beziehungen, genauer: in Formen von Ausbeutung, Unterdrückung, Rassismus und Sexismus, ungleichen Bildungsbedingungen, enormem Reichtum und bitterer Armut, ökologischer Zerstörung usw. »Positiver Frieden« bedeutet, nicht erst dann an Frieden zu denken, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Konflikte finden meist erst dann Beachtung, wenn sie gewalttätig geworden sind. Häufig werden sie dann auf religiöse, ethnische oder auf rein geopolitische oder regionale Konflikte reduziert. Oft sind Konflikte aber schon da, lange bevor sie offen gewalttätig werden. Meist beginnen diese als Verteilungs- oder Befreiungskonflikte, die dann entlang konfessioneller oder ethno-regionaler Grenzen sowie auf internationaler und regionaler Ebene ausgetragen werden. Kritische Konfliktanalysen müssen daher nach den Ursachen fragen. Sie müssen die verschiedenen Akteure sowie ihre jeweiligen Interessen untersuchen: nationale und internationale, jene, die davon profitieren ebenso wie jene, die darunter leiden.
Um dieser Analyse Rechnung zu tragen, entwickelte Galtung das Verständnis von Gewalt als einer Situation, die im Wesentlichen durch zwei miteinander in Konflikt stehende Akteure gekennzeichnet ist, weiter. Nach dieser neuen Definition ist die Gewalt so in eine Struktur eingebaut, dass keiner dem anderen direkt zu schaden scheint. Galtung weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die beiden Begriffe aufeinander folgen oder gezielt eingesetzt werden können. So wurde im Kolonialismus »direkte Gewalt« eingesetzt, um »strukturelle Gewalt« zu etablieren, die früher oder später zu direkter Gegengewalt in Form von Unterdrückung und Entfremdung führte, wie in den antiimperialistischen Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts (Galtung 1971b).
An die Konfliktanalyse schließt sich die Frage der Konflikttransformation, also der Friedenspolitik, an. Für so unterschiedliche Konflikte wie in Mali, im Südsudan, in Syrien oder in der Ukraine gibt es selten eine One-size-fits-all-Lösung. Zugleich existieren Leitlinien für eine linke »Friedenspolitik mit friedlichen Mitteln« (Galtung 2007). Linke Konfliktbearbeitung zielt auf die Deeskalation des laufenden Gewaltkonflikts und setzt auf die Kräfte der Gewaltfreiheit vor Ort. Sie kann aber auch eine Eskalation dort bedeuten, wo die Konflikte ihren Ursprung haben, etwa bei Themen wie dem Ressourcenhunger transnationaler Konzerne oder Waffenexporten aus Deutschland in Krisen- und Kriegsgebiete. Maßnahmen der Konflikttransformation zielen also nicht auf die Verhinderung der Entstehung von Konflikten, sondern auf deren friedliche Transformation mit dem Ziel der Abschaffung und Ächtung des Krieges als Mittel der inner- und zwischengesellschaftlichen Konfliktlösung.
Die Hoffnung auf eine fortschreitende Zurückdrängung der gewaltsamen Regulierung gesellschaftlicher Verhältnisse gründet sich unter anderem darauf, dass die Anwendung von Gewalt im Laufe des Zivilisationsprozesses dysfunktional wird. Galtung versteht Frieden als »Mehrebenenprozess«, was bedeutet, dass er nicht nur eine Angelegenheit von Staaten und Regierungen, eine Frage der Kriegsvermeidung und Abrüstung ist, sondern dass er als gesamtgesellschaftliche Aufgabe entscheidend mit den Lebensbedingungen der Menschen zu tun hat. In diesem Sinne ist »positiver Frieden« unter kapitalistischen Bedingungen eine regulative Idee zur Konfliktprävention im Sinne einer Friedenspolitik mit friedlichen Mitteln und zugleich ein Auftrag für eine umfassende gesellschaftliche – sozialistische – Transformation, die ihrerseits die »Zivilisierung der Revolution« (Balibar 2001, 1307) selbst vollzieht und nicht neue Gewalt und Terror verbreitet.
LITERATUR
Balibar, Etienne, 2001: Gewalt, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 5, 693–96 u. 1270–308
Galtung, Johan, 1967: Theories of Peace. A Synthetic Approach to Peace Thinking, International Peace Research Institute, Oslo
ders., 1971 [1969]: Gewalt, Frieden und Friedensforschung, in: Senghaas, Dieter (Hg.), Kritische Friedensforschung, Frankfurt a. M., 55–104
ders., 1971a: Friedensforschung. Vergangenheitserfahrung und Zukunftsperspektiven, in: ders., Strukturelle Gewalt, Reinbek 1975
ders., 1971b: A Structural Theory of Imperialism, in: Journal of Peace Research 2/1971, 81–117
ders., 1975: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek
ders., 2007: Frieden mit friedlichen Mitteln: Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur, Münster
Senghaar, Dieter (Hg.), 1987: Imperialismus und strukturelle Gewalt. Analysen über abhängige Reproduktion, Frankfurt a. M.
SIPRI – Stockholm International Peace Research Institute (Hg.), 2022: Trends in World Military Expenditure, Solna