In den letzten Jahren sind weltweit hunderttausende Feminist*innen für das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche auf die Straße gegangen. Die Pro-choice-Bewegungen erneuern die jahrzehntealte feministische Forderung nach körperlicher Selbstbestimmung und bestehen auf individueller Wahlfreiheit. Jede Frau soll das Recht haben, ihre eigene Entscheidung zu treffen – ein Recht, das von konservativen und rechten Kräften immer wieder neu angegriffen wird. Auch wenn dieser Kampf wichtig und notwendig ist, muss er perspektivisch erweitert werden. Denn echte Wahlfreiheit entsteht nicht allein durch individuelle Abwehrrechte gegen den Zugriff von Kirche, Staat oder Patriarchat – sie benötigt positive, soziale Rechte und ökonomische Ressourcen. Das gilt nicht nur für die finanziellen Mittel und die nötigen Infrastrukturen, um einen Abbruch tatsächlich durchzuführen. Es gilt darüber hinaus für alle Entscheidungen rund um das Kinderkriegen, das Kindergroßziehen und Füreinandersorgen. Aufgrund von Armut, Diskriminierung und Angst ist es vielen Menschen schwer bis unmöglich, entsprechend ihrer Wünsche Kinder zu bekommen und aufzuziehen. Der Ansatz reproduktiver Gerechtigkeit greift diese Problemlagen auf und erweitert den Kampf um sexuelle Selbstbestimmung.

Ursprünge des Konzepts: Gegen die Geburtenkontrolle von oben

Die Forderung nach reproduktiver Gerechtigkeit wurde von schwarzen Feminist*innen und Feminist*innen of Color entwickelt, die ihre Anliegen im Mainstream der Pro-choice-Bewegung nicht vertreten sahen. Sie kritisierten den einseitigen Fokus auf Abtreibungsrechte und Geburtenkontrolle, da diese zum Teil auch für rassistische Bevölkerungspolitiken instrumentalisiert werden konnten. So wurden durch entwicklungspolitische Programme des Westens viele Frauen im globalen Süden zu Maßnahmen der Empfängnisverhütung und Sterilisation gedrängt. Verhütung wurde zum Mittel der Geburtenkontrolle von oben. Das Kinderkriegen marginalisierter Frauen wurde zur Ursache von Armut und Unterdrückung erklärt. Ausgeblendet wurden die ökonomischen Strukturen, die die Ursache für das vermeintliche Problem der „Überbevölkerung“ sind. Als Reaktion auf diese paternalistische Form der globalen Bevölkerungspolitik organisierten sich Feminist*innen rund um die UN-Entwicklungskonferenz in Kairo 1994. Sie  betonten das Recht, sich nicht nur gegen, sondern auch für das Kinderkriegen zu entscheiden.

Kinderkriegen als Akt des Widerstands

US-amerikanische Feminist*innen der Organisation Sister Song prägten in Anknüpfung daran den Begriff der reproductive justice und bündelten darin zentrale Forderungen ihres jahrzehntelangen Kampfes. In der von Sklaverei und Rassismus geprägten US-Gesellschaft hatten sie historisch für das Recht auf Kinder und Familienleben kämpfen müssen -  gegen Politiken der Zwangssterilisierungen und Familientrennungen und gegen die Bedingungen von Armut, Polizeigewalt und institutionellen Rassismus. Doch auch anderen Gruppen wurde historisch der Zugang zu Mutter- und Elternschaft erschwert: Homosexuelle, Queers und Transgender sowie Menschen mit Behinderungen galten und gelten als »illegitime« Eltern. Und auch für arme und proletarische weiße Frauen war das bürgerliche Ideal der Mutter und Hausfrau oft nicht lebbar. Auch hier wurde Elternschaft mit Hilfe konkreter Bevölkerungspolitiken reguliert: Kampagnen der Geburtenkontrolle konstruierten das Bild einer sexuell und moralisch devianten Armutsbevölkerung, die zu einer verantwortlichen Familienplanung nicht in der Lage sei. Mit dem rassistischen Stereotyp einer „Black Welfare Queen“, die früh Mutter wird und mit ihren Kindern dem Staat auf der Tasche liegt, wurde unter Präsident Reagan der Frontalangriff auf wohlfahrtstaatliche Leistungen eingeleitet. In der Folge wurde die Elternschaft für arme Menschen weiter erschwert. Wie eng rassistische und Klassenverhältnisse verschränkt sind, zeigt sich heute am Beispiel von migrantischen Hausarbeiterinnen, die ihre Kinder im Herkunftsland zurücklassen, um reichere, in der Regel weiße Frauen zu entlasten. Eigene Kinder und ein gelingendes Familienleben zu haben wurde vor diesem Hintergrund zur wichtigen Forderung insbesondere für schwarze Feminist*innen und Feminist*innen of Color, die Familie nicht nur als Ort patriarchaler Unterdrückung, sondern als Schutzraum und Ort des Widerstands gegen eine feindselige Gesellschaft erfahren.

Reproduktive Gerechtigkeit heißt Gesellschaftsveränderung

Loretta Ross, Mitbegründerin der Frauenorganisation Sister Song ist zentrale Vordenkerin des Konzepts. Sie definiert reproduktive Gerechtigkeit folgendermaßen: Erstens das Recht, Kinder zu haben, zweitens das Recht, kein Kind zu haben, drittens das Recht, Kinder unter sicheren und gesunden Bedingungen aufziehen zu können, sowie viertens als sexuelle Selbstbestimmung für alle (Ross/Solinger 2017). Das Konzept verbindet damit die Forderungen nach reproduktiven Rechten, reproduktiver Gesundheit und social justice und umfasst nicht nur individuelle Rechte, sondern gesellschaftliche Strukturen. Es zielt auf allgemeine soziale Absicherung, aber auch auf die Freiheit von Diskriminierung und Gewalt und den Zugang zu ökonomischen und ökologischen Ressourcen. Damit wird klar: Reproduktive Gerechtigkeit erfordert grundlegende gesellschaftliche Veränderungen. Das Konzept erweitert damit auch das Terrain feministischer Kämpfe – von einem liberalen Verständnis individueller Gleichberechtigung hin zu einer Perspektive umfassender Befreiung von Klassenherrschaft, Sexismus und Rassismus.

Ungleichheiten werden sichtbar

Als Schlagwort ist reproductive justice inzwischen auch in feministischen Diskussionen in Deutschland angekommen. Auch hier hilft es, sichtbar zu machen, dass vielen Menschen eine selbstbestimmte Elternschaft verwehrt wird. Denn Elternschaft ist auch hierzulande eine Klassenfrage: vielen Menschen fehlen angesichts von prekären Jobs und steigenden Mieten schlicht die finanziellen oder zeitlichen Ressourcen, um Kinder unter guten Bedingungen aufzuziehen. Zudem bleibt legitime Mutter- und Elternschaft an die Norm der weißen, heteronormativen Leistungsträgerin geknüpft. Dies zeigt sich nicht nur in den langen Kämpfen von homosexuellen Paaren oder auch von Menschen mit Behinderung, denen das Recht auf ein eigenes Kind abgesprochen wurde. Es zeigt sich auch in einer sozial selektiven Familienpolitik, die arme Menschen entmutigt, Kinder zu bekommen (etwa durch die Anrechnung des Kindergeldes auf den Hartz IV-Satz) und zugleich Besserverdienende gezielt zum Kinderkriegen animiert (durch ein einkommensabhängiges Elterngeld). Diese Politiken sind verknüpft mit bevölkerungspolitischen Diskursen einer „Überalterung“ der Gesellschaft, die häufig eine rassistische und sozialdarwinistische Schlagseite haben. Denn es werden nicht alle Kinder in die Zukunft des Landes eingerechnet: Kinderreiche Hartz-IV-Familien werden als »asozial« stigmatisiert, »Migrantenkinder« als fremd und deviant, was sich in ungleichen Bildungschancen und geringer sozialer Mobilität niederschlägt. Besonders schwierig ist der Kampf für Kinder und ein Familienleben für viele geflüchteten Menschen, die ohne Privatsphäre in Sammelunterkünften leben müssen oder gar durch Abschottung und Abschiebung dauerhaft auseinandergerissen werden.

Grenzen der Selbstbestimmung erkennen

Auch in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs ist ein breiter Ansatz reproduktiver Gerechtigkeit hilfreich, um die gesellschaftlichen Bedingungen persönlicher Wahlfreiheit in den Blick zu nehmen –  und um sich von einem Diskurs der Eigenverantwortung abzusetzen, der sozialen Risiken auf die Einzelne abwälzt. Dies wird in der schwierigen Frage der Spätabtreibungen deutlich: Wenn bei einem Embryo eine Behinderung diagnostiziert wird, ist in Deutschland ein Abbruch theoretisch bis zum neunten Monat straffrei. Dies stärkt einerseits die Autonomie der Schwangeren. Zugleich wird aber über die Standardisierung der Testverfahren und die Pathologisierung »abweichender« Befunde hoher Druck auf die Einzelnen aufgebaut. Angesichts der fehlenden Aussicht auf gesellschaftliche Unterstützung und der Stigmatisierung von Behinderungen ist es nicht überraschend, dass rund 90 Prozent der Schwangerschaften mit einer Diagnose wie dem Downsyndrom abgebrochen werden. Sich für ein behindertes Kind zu entscheiden, droht unter diesen Bedingungen zu einer Privatangelegenheit zu werden, für die die Gesellschaft keine "Haftung" übernehmen will. Im Sinne reproduktiver Gerechtigkeit muss hier die Forderung nach körperlicher Selbstbestimmung von Frauen mit der Forderung nach Unterstützung und Teilhabe für Menschen mit Behinderung verbunden werden. Erst dann gibt es wirkliche Freiheit, sich sowohl gegen wie auch für ein behindertes Kind zu entscheiden.

Für die Voraussetzungen von Wahlfreiheit kämpfen

Um reproduktive Gerechtigkeit zu verwirklichen, ist es notwendig, den Kampf für sexuelle Selbstbestimmung mit anderen Kämpfen zu verknüpfen. Eine zentrale Anschlussstelle ist die feministische Forderung nach einer Aufwertung von Sorge- und Reproduktionsarbeit. Wenn Sorgearbeiten und die Arbeit des Kinderaufziehens gesellschaftlich anerkannt werden, aber aus der privaten Zuschreibung an Frauen* herausgelöst und in kollektive Verantwortung gelegt werden, bedeutet das eine größere Wahlfreiheit für und gegen Mutter- und Elternschaft. Dies ist nur möglich, wenn soziale Infrastrukturen zur Verfügung stehen, die dies möglich machen – von der freien Beratung für Abbrüche bis zur selbstbestimmten Geburtshilfe, von der entgeltfreien Kitabetreuung bis zur  Gesundheitsversorgung. Dafür sind weiterreichende Forderungen nach einer solidarischen Ökonomie und einer Umverteilung gesellschaftlicher Ressourcen notwendig. Zugleich wird deutlich, wie eng der Kampf um reproduktive Rechte mit dem Kampf gegen Diskriminierung und Ausgrenzung verknüpft ist. Die Hierarchisierung von Mutter- und Elternschaft ist unmittelbar verbunden mit der Hierarchisierung von Leben und Lebensglück unterschiedlicher Menschen. Auch der Kampf gegen Homophobie und Diskriminierung und gegen rassistische Grenz- und Migrationspolitik sind in diesem Sinne Politiken reproduktiver Gerechtigkeit.

Literatur

Ross, Loretta J./Solinger, Rickie, 2017: Reproductive Justice. An Introduction, Oakland