Als Die Linke gegründet wurde, war der Höhepunkt der neoliberalen Hegemonie gerade überschritten, die Tendenz zu einer Multipolarisierung des Weltsystems war erkennbar, ihre Konsequenzen aber noch nicht vorgezeichnet und schon gar nicht manifest. Seither hat sich die Welt gewandelt. Bereits die neoliberale Globalisierung unter US-Hegemonie verschob Industrien über den Globus und mit ihnen politische Machtpotenziale. Zwar besteht heute keine uneingeschränkte westliche Hegemonie mehr, aber der Westen gehört immer noch zu den Zentren des globalen Kapitalismus. Alte wie neue kapitalistische Großmachtakteure betreiben inzwischen globale Machtpolitik.
Welche der jeweiligen Machtpolitiken die Oberhand hat, ist eine Frage der Kräfteverhältnisse innerhalb einer an sich falschen Ordnung. Als demokratisch-sozialistische und antineoliberale Partei ist für Die Linke nicht nur das Staatensystem Referenzpunkt für Außenpolitik, sondern sie sieht auch das Weltsystem als eine Form von sozialer und kultureller Herrschaftsordnung.
Eben deshalb ist sie in der Lage, sich gegen jeden Imperialismus zu wenden und internationalistische Politik an der Seite der Beherrschten zu formulieren.
Linke können heute keine ungebrochene Dominanz des Westens mehr behaupten oder in nicht-westlichen aufsteigenden Mächten per se die Befreier der Welt von westlicher Dominanz erblicken. Andererseits darf ein realistischer Blick auf das Handeln nicht-westlicher Akteure nicht dazu führen, dass wir uns politisch den im eigenen Land herrschenden Verhältnissen anpassen. Denn die bei uns Herrschenden betreiben ebenso Machtpolitik. Die Benennung des jeweils einen Kritikwürdigen darf nicht zur Ausklammerung des jeweils anderen Problematischen führen.
Frieden und Alltag
Die Auslandseinsätze der Bundeswehr betrafen in den 2000er-Jahren die Bevölkerungen in ihren Einsatzländern und die teilnehmenden Berufssoldat*innen der Bundeswehr sowie ihre Angehörigen. Heute wirken die Dynamiken der Weltordnung viel unmittelbarer in den Alltag der breiten hiesigen Bevölkerung – bis hin zur Angst vor Krieg.
Die laufende Multipolarisierung der Welt resultiert sehr wesentlich aus den Verschiebungen im Zentrum-Peripherie-Verhältnis. Die ökonomischen Sondervorteile, die der Westen aus seiner lange exklusiven Zentrumsrolle ziehen konnte, müssen nunmehr mit neuen Zentren geteilt werden. Wir merken dies konkret an der Krise industrieller Leitsektoren und am Nicht-entstehen-Wollen neuer, international wettbewerbsfähiger Leitsektoren durch die Kräfte des Marktes allein. Hinzu kommen jene Transformationsaufwendungen, die das Ziel der CO2-Neutralität mit sich bringt. Diese Fragen sind direkt mit den internationalen Beziehungen verlinkt, denn das Makromanagement globaler ökonomisch-ökologischer Probleme erfordert ein hinreichendes Maß an Frieden. Der weltweite Umbau der Wachstumsmodelle stellt insbesondere die lohnarbeitenden Bevölkerungen vor Herausforderungen, deren Kosten sie persönlich zu tragen haben. Sie steigen, wenn durch globale geopolitische Konkurrenz jenes Maß an Vertrauen erodiert, das nötig ist, um den politischen Rahmen der Transformation zu setzen. Die direkten ökonomischen und ökologischen Kosten der Rüstung kommen hinzu.
Der Krieg in der Ukraine hat das bis dato stark auf günstigen fossilen Energieressourcen basierende industrielle Exportmodell noch schneller als erwartet an seine Grenzen gebracht und die Lebenshaltungskosten der Bevölkerung direkt über die Rohstoffpreise verteuert. Dies verdeutlicht einmal mehr die Notwendigkeit der Transformation und nicht ihrer Verschleppung, wie vom BSW propagiert. Diese so zu gestalten, dass sie von jenen bezahlt wird, die später die Gewinne der Transformation einfahren, und neue öffentliche Sektoren entstehen, ist die Aufgabe linker Politik.
Emanzipation und Frieden zusammenzudenken ist nicht nur ethisches Gebot, sondern eine schlichte Voraussetzung zur Bewältigung der klassenpolitischen Herausforderungen der ökologischen Transformation und für ihr Gelingen. Daher sollte sich unsere Außenpolitik einer weitergehenden emanzipatorischen Agenda verpflichten und dabei explizit die Sorgen der Bevölkerung adressieren.
Die Linke wird sich dabei über die unbequemsten Fragen der Friedens- und Sicherheitspolitik, also zu Militär und Rüstung, verständigen müssen, die sich im gewandelten Weltsystem (neu) stellen. Im Zuge des globalen Rechtsrucks verfolgen zahlreiche Staaten offen imperiale Ziele – nicht nur im Westen. Nicht zuletzt fragt sich die Bevölkerung, was eine Regierung unter Beteiligung Der Linken wohl anders machen würde: zum Beispiel eine Außen- und Sicherheitspolitik, die nicht vom Primat einer militärisch aufgefassten Sicherheit ausgeht, bei der unsere Sicherheit zur Unsicherheit der anderen wird.
Gemeinsame Sicherheit
Es bedarf einer Vision, in der Sicherheit den Rahmen des Militärischen verlässt und es perspektivisch einhegt. Es ist zur Kenntnis zu nehmen, dass in Zeiten des globalen Rechtsrucks nicht alle Akteure im Weltsystem bereit sind, sich einer friedlichen Außenpolitik zu verpflichten. Die herrschende Antwort darauf ist Rüstung, die sagt, sie wolle abschrecken und so den Frieden sichern. Das klassische, daraus folgende Problem ist ein Sicherheitsdilemma, bei dem die eigene Investition in militärische Abschreckung zur Unsicherheit der anderen wird und Spiralen der Rüstung in Gang setzt. Die Multipolarisierung der Welt lässt die Gewaltpotenziale insgesamt, auch unter nicht-westlichen Staaten, anwachsen, von denen einige eigene Machtinteressen verfolgen. Der Westen hat noch immer einen militärischen Vorsprung, fühlt sich aber herausgefordert und rüstet.
Das gesellschaftliche Bedürfnis nach Sicherheit kann nicht ignoriert werden, sondern muss antimilitaristisch reformuliert werden. Es gilt, die militärische Dimension von Verteidigung tatsächlich defensiv zu gestalten im Sinne Struktureller Nichtangriffsfähigkeit. Das heißt, Streitkräfte so zu organisieren, dass sie fähig sind, im Sinne des Artikels 51 der Charta der Vereinten Nationen bewaffnete Angriffe abzuwehren, sie aber nicht selbst durchführen können. Bereits im Kalten Krieg wurden unter den Bedingungen der militarisierten Systemkonfrontation derartige Ideen im Kontext der Debatten um Gemeinsame Sicherheit diskutiert. Entscheidend für glaubwürdige Friedenspolitik ist es, Konzepte anzubieten, die konkrete und gangbare politische Einstiege in die Transformation von Sicherheitspolitik liefern. Prädestiniert dafür ist eine Rückkehr zur Rüstungskontrolle, zu politischen Verhandlungen darüber, welche Waffensysteme wer in welchem Umfang unterhält und mit welchen Instrumenten dies überprüft werden kann. Das ist keine utopische Forderung, sondern war einst in Gestalt diverser Abrüstungsverträge insbesondere auf dem Feld der Nuklearwaffen Realität, umfasste später auch konventionelle Streitkräfte in Europa und war Teil gegenseitiger Vertrauensbildung.
Die Linke sollte die militärische Dimension von Selbstverteidigung nicht gänzlich ablehnen, aber die Organisation glaubwürdiger Verteidigung ist bereits jetzt an die Erfordernisse Gemeinsamer Sicherheit anzupassen. Dies setzt notwendigerweise einen politischen Dialog der Beteiligten darüber voraus, wie Streitkräfte aussehen, die strukturell nicht angriffsfähig sind.
Die Bedingungen dafür sind in Europa angesichts des Ukrainekrieges denkbar schlecht. Die Invasion eines Landes stellt den größten Vertrauensbruch dar. Allerdings können Einstiege in Gemeinsame Sicherheit nicht verschoben werden, es gibt genügend andere regionale Kontexte, in denen bereits jetzt Schritte dahingehend unternommen werden können. Dazu sind die regionale und die größere kontinentale strategische Dimension politisch voneinander zu trennen. Der bilaterale US-amerikanisch-deutsche Alleingang zur Stationierung von Mittelstreckenraketen vermischt beide Felder. Auch deswegen ist sie abzulehnen.
Ukrainekrieg beenden
Der Ukrainekrieg muss schnell beendet werden. Doch unsere Antworten dürfen keine entsolidarisierenden sein. Das BSW würde einen russischen Siegfrieden akzeptieren. Diese Belohnung des russischen Angriffs würde die internationale Ordnung jedoch weiter destabilisieren. Sie wäre nicht nur unsolidarisch gegenüber der ukrainischen Bevölkerung, sondern würde das Wettrüsten verschärfen, da keine glaubhafte Friedensordnung existiert. Dieser Rüstungswettlauf ist längst angelaufen. Polen etwa gibt heute einen größeren Anteil seines Bruttoinlandsprodukts für Rüstung aus als die USA. Zugleich wird seit über zwei Jahren versucht, die russische Invasion militärisch einzudämmen. Ein Friede, der die Souveränität der Ukraine und die internationale Ordnung wiederherstellen würde, ist dem nicht entsprungen. Aber eine Million Menschen wurden inzwischen verwundet oder getötet (vgl. Pancevski in Wall Street Journal, 17.9.2024). Doch wie kann der Krieg um die Ukraine solidarisch und unter Respektierung der UN-Charta beendet werden?