Daniel Steinmetz-Jenkins: Beginnen wir mit der Frage, was Sie unter Austerität verstehen.

Es ist fast ein Synonym für die heutige Wirtschaftspolitik. Statt darin ein objektives Steuerungsinstrument der Wirtschaft zu sehen, verstehe ich darunter ein Instrument des Klassenkampfes von oben: Austerität dient dem Erhalt einer bestimmten sozialpolitischen Ordnung. Strukturelle Einschränkungen bei den Sozialausgaben und Löhnen sorgen dafür, dass die Devise »Arbeite hart und spare so viel wie möglich« für die Bevölkerungsmehrheit mehr als nur eine Form der Disziplinierung ist – es ist der einzige Weg zu überleben. Zusammen entziehen fiskalische, monetäre und industriepolitische Austeritätsmaßnahmen den Lohnabhängigen dauerhaft Ressourcen. Das verschärft ihre prekären Lebensverhältnisse und führt zu einer Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben, wovon an der Spitze gerade insbesondere die Finanzinvestoren*innen profitieren.
 

»Was Austeritätspolitik bewirkt, ist weniger eine Stabilisierung der Wirtschaft, sondern vielmehr eine Zementierung der Klassenbeziehungen.«

Fiskalische Austeritätspolitik bezieht sich auf die meist parlamentarisch beschlossenen Kürzungen von staatlichen Sozialausgaben (für Gesundheit, Bildung, Wohnen) und auf eine regressive Steuerpolitik. Das heißt, dass die Verbrauchssteuern, die Arme stärker belasten, erhöht werden, während die Reichen weniger Steuern zahlen müssen. Monetäre Austerität zeigt sich vor allem in Form von Zinserhöhungen, worüber sich die Gläubiger freuen, während die Haushalte, die für ihr tägliches Überleben auf Kredite angewiesen sind, kaum mehr ihre Rechnungen bezahlen können. Mit den höheren Kosten für Kredite steigen auch die staatlichen Ausgaben für öffentliche Bauvorhaben und soziale Dienstleistungen, vor allem trifft es den Arbeitsmarkt. Weniger offene Stellen und eine höhere Arbeitslosigkeit verringern die Verhandlungsmacht der Arbeiter*innen. Mit industriepolitischen Austeritätsmaßnahmen schließlich sind all die Interventionen gemeint, mit denen der Staat direkt in die Arbeitsbeziehungen zugunsten der Unternehmerseite eingreift, sei es durch Privatisierungen, Deregulierungen oder eine Behinderung der Gewerkschaften. Das dominante Verständnis von Austerität bezieht sich auf die monetären Aspekte, aber fast überall haben Angriffe auf die Gewerkschaften individuelle und kollektive Arbeitnehmerrechte geschwächt, statt Sozialhilfe gibt es nun Workfare, womit der Niedriglohnsektor ausgeweitet und staatlich subventioniert wird.

Was genau zeichnet den von Ihnen vertretenen klassenpolitischen Ansatz aus?

Es geht nicht so sehr darum, wie viel der Staat ausgibt, sondern wofür er Geld ausgibt, und insbesondere darum, wie dies die Kluft zwischen den Wenigen, die von diesem System profitieren, und den vielen Verlierer*innen vertieft. Der Politik- und Wirtschaftswissenschaftler Mark Blyth hat bekanntlich nachgewiesen, dass Austeritätsmaßnahmen nicht wirklich den offiziellen Zielsetzungen wie Staatsschuldenabbau oder Ankurbelung des Wirtschaftswachstums dienen. Also stellt sich die Frage: Warum kommen sie trotzdem zum Einsatz?
Eine Erklärung, die sich aus einem Blick zurück in die Geschichte ergibt, lautet: Das Kapital war schon immer auf Schutz angewiesen. Was Austeritätspolitik bewirkt, ist weniger eine Stabilisierung der Wirtschaft, sondern vielmehr eine Zementierung der Klassenbeziehungen. Historisch betrachtet ging es bei der Austeritätspolitik nie um die Eindämmung von Inflation oder staatliche Haushaltsdisziplin. Austerität bietet vielmehr die besten Bedingungen für die Erzielung hoher Profite, während die Mehrheit der Bevölkerung – die politisch Unterrepräsentierten – dazu verdammt ist, jegliche Vorhaben und Ambitionen in Richtung einer Demokratisierung der Wirtschaft aufzugeben. Niedriglöhne und ständige Sparmaßnahmen zwingen ihnen ein »hartes Leben« auf.

Eine Ihrer Hauptthesen lautet, dass die besondere Art der Austeritätspolitik, die die Regierungen in Italien und Großbritannien Anfang des 20. Jahrhunderts verfolgten, eine Reaktion auf das »kollektive antikapitalistische Aufbegehren« war, das nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte. Was genau meinen Sie damit?

Die sogenannten roten Jahre 1919 und 1920 stellten einen ganz besonderen Moment in der Geschichte des Kapitalismus dar, da die beiden ihn tragenden Säulen – ­Privatbesitz an Produktionsmitteln und Lohnarbeitsverhältnisse – in dieser Zeit von großen Teilen der Bevölkerung dieser Länder nicht länger akzeptiert wurden. Der Unmut und die Proteste der Menschen waren unter anderem motiviert durch das, was sie während der Mobilmachung im Ersten Weltkrieg erlebt hatten: Die Regierungen in Italien und Großbritannien hatten ihre gesamten Volkswirtschaften, insbesondere die industrielle Produktion und die dort gezahlten Löhne, an die Erfordernisse ihrer Kriegsmaschinerien angepasst. Die »natürliche Ordnung« des Kapitalismus war aufgehoben worden, um diesen staatlichen Bedürfnissen nachzukommen. Nun wollten die Regierungen zu den alten Verhältnissen zurück.
Die Bewegung der Arbeiterräte in Italien erreichte im Sommer 1920 ihren Höhepunkt und stellte einen institutionellen Durchbruch dar. Mit ihrer radikalen horizontalen Organisierung und einem strikten Rotationsverfahren für die Entsandten sahen sie eine Repräsentation der breiten Masse der Arbeiterschaft vor. Diese Strukturen sollten den Kern eines neuen Staates bilden, der nicht länger von der Bevölkerung entfremdet war. Ausgangsgedanke war, dass eine politische Demokratie bedeutungslos ist, wenn sie nicht auf einer Demokratisierung der Wirtschaft beruht. Die Abkehr von hierarchischen Produktionsverhältnissen war Teil einer grundsätzlichen Abkehr von einer hierarchischen Weltsicht. Die Antwort der Herrschenden auf diese Bewusstwerdung der Arbeiterschaft und deren Mobilisierung ließ nicht lange auf sich warten: Im Zentrum ihrer Gegenoffensive stand eine strikte Austeritätspolitik.

Wie erklären Sie sich, dass liberale britische Ökonomen trotz der gewaltvollen und illiberalen Elemente seiner Politik Mussolinis Faschismus bewunderten?

Sowohl das internationale als auch das italienische liberale Establishment (darunter Persönlichkeiten wie Luigi Einaudi, der in den 1920er-Jahren Mussolinis Wirtschaftsprogramm ausdrücklich lobte) spielten eine wesentliche Rolle bei der Konsolidierung der faschistischen Diktatur. Sie unterstützten diese ideologisch und materiell, unter anderem mit öffentlichen und privaten Krediten. Dabei handelte es sich nicht um Einzelfälle, ein Großteil der liberalen Eliten in Italien und England stellte sich hinter Mussolini und dessen Austeritätspolitik. Dazu gehörten führende wirtschaftsliberale Medien wie The Times und The Economist. Auch Depeschen der britischen Botschaft in Rom und Dokumente der Bank of England belegen eine unverhohlene Erleichterung über Mussolinis Herrschaft in den 1920er-Jahren. Und warum? Weil er äußerst effektiv darin war, Austeritätsmaßnahmen zulasten der italienischen Arbeiter*innenklasse durchzusetzen, die liberalen ausländischen Investoren zugutekamen.

Für eine besondere Doppelzüngigkeit steht Montagu Norman, damals Gouverneur der Bank of England und eine weitere populäre Ikone des Liberalismus. Norman monierte, Mussolinis Faschismus tendiere dazu, jegliche Opposition zu unterdrücken. »Alles Abweichende« sei »eliminiert« worden und »jede Form von Opposition verschwunden«. Im selben Atemzug mutmaßte er: »Vermutlich ist dies jedoch zumindest vorläufig für Italien eine angemessene Form der Regierung.« Norman kam zu dem Schluss, dass der Faschismus das geeignete gesellschaftliche Mittel für den richtigen wirtschaftlichen Zweck sei: »Der Faschismus hat in den letzten Jahren zweifelsohne für Ordnung inmitten des Chaos gesorgt. Dies war auf jeden Fall notwendig, damit das Pendel nicht zu weit in die entgegengesetzte Richtung ausschlägt. Der Duce war der genau richtige Mann zur richtigen Zeit.«

Diese und ähnliche Äußerungen lassen keinen Zweifel aufkommen: Alle Bedenken hinsichtliche des politischen Machtmissbrauchs der Faschisten traten hinter die Bewunderung für die »Erfolge« ihrer Austeritätspolitik zurück, seien es die Unterbindung von Streiks, die Stabilisierung des Staatshaushalts oder allgemeine Produktivitätssteigerungen. Die britischen Wirtschaftsliberalen sahen ganz klar den Zusammenhang zwischen Austerität und politischer Repression, der für den Faschismus typisch ist. Zugleich ist davon auszugehen, dass sie im Grunde genommen nichts dagegen einzuwenden gehabt hätten, wäre man mit der britischen Arbeiterschaft ähnlich umgesprungen wie mit der in Italien. In der Tat drangen britische Technokraten auf eine undemokratische Umsetzung der von ihnen favorisierten Wirtschaftspolitik mithilfe der Autorität der unabhängigen nationalen Zentralbanken. Auch wenn sie es auf unterschiedliche Weise taten. Am Ende hatten die italienischen und britischen Austeritätsbefürworter ein ähnliches Ziel: die Schaffung und Absicherung eines Systems, das der gesellschaftlichen Mehrheit alltäglich Opfer zumutet, vor Unruhen und staatlichen Eingriffen.

Erleben wir heute ein neues Zeitalter des Faschismus? Zu welcher Einschätzung gelangen Sie mit Ihrem klassenpolitischen Ansatz?

Befasst man sich näher mit dem Faschismus eines Benito Mussolini, so erscheinen die Unterschiede zwischen den vermeintlich liberalen Demokratien und rechtsautoritären Regimen, die wir heute für so selbstverständlich halten und die auch etwas Beruhigendes haben, in einem anderen Licht. Tatsächlich sehen wir bei den meisten gegenwärtigen Regierungen eine Austeritätspolitik mit antidemokratischer Stoßrichtung, wenn auch durchaus mit unterschiedlichen Nuancierungen. Dabei darf die zentrale Rolle des Nationalismus bei deren Durchsetzung nicht vergessen werden. Nationalismus – ob nun der von Giorgia Meloni oder anderer extrem rechter Regierungen heute und in der Vergangenheit – dient der Verschleierung der staatlichen Gewalt gegenüber den eigenen Arbeiter*innen (etwa in Form von Kürzungen der Sozialleistungen oder ungerechter Besteuerung), indem er alle Klassenunterschiede negiert und versucht, alle hinter der Nationalflagge zu vereinen. Nationalismus ist auch eine Strategie, mit der Regierungen von den eigentlichen Gegnern des Volkes ablenken: den wohlhabenden und mächtigen Eliten, die als einzige von unserem derzeitigen Wirtschaftssystem profitieren. Nationalismus schürt Ressentiments gegen »äußere Gegner«, darunter Arbeitsmigrant*innen, die für gewöhnlich noch mehr unter der ­Austerität in ihren Herkunftsländern zu leiden hatten. Derweil stehen Politiker*innen wie Bolsonaro, Trump, Meloni oder Orbán für eine Ausweitung dieses arbeiterfeindlichen Ansatzes.

Welche Lehren lassen sich aus der Geschichte ziehen?

Zum Beispiel die, dass Inflation kein Pro­blem ist, das man mit rein wirtschaftlichen Maßnahmen bekämpfen kann, sondern dass es eng mit den Machtverhältnissen im Produktionsprozess verknüpft ist. Ein Blick auf die Strategien zum Schutz des Kapitals macht deutlich, dass unser sozioökonomisches System keineswegs als das einzige Zukunftsmodell akzeptiert werden muss. Es ist vielmehr das Ergebnis kollektiven Handelns, das dazu dient, Alternativen zum Kapitalismus zu verunmöglichen. Der Aufbau von kollektiver Gegenmacht kann hier Abhilfe schaffen. Die Analyse und Aufdeckung der hinter dem System stehenden Logik und dessen Zweck sind ein erster Schritt in diese Richtung.

Wenn Austeritätspolitik zur DNA von kapitalistischen Staaten gehört, dann bedeutet das auch: Wir müssen noch deutlich entschlossener dagegen angehen und wahre Alternativen dazu sind nur außerhalb der kapitalistischen Logik denkbar. Gramscis Erkenntnis, dass dafür benötigtes Wissen aus kollektiven Mobilisierungen und Erfahrungen wie der erwähnten Rätebewegung erwächst, ist hier entscheidend. Unsere politische Vorstellungskraft wächst mit jeder Teilnahme an kollektiven Aktionen, die darauf abzielen, die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse zu demokratisieren.

Redaktion LuXemburg: In der aktuellen Konstellation multipler Krisen erleben wir ein Ringen innerhalb der herrschenden Klasse in Bezug auf die Austeritätspolitik: Einige Rechte wie Meloni, aber auch überzeugte Neoliberale, die nicht unbedingt mit ­faschistischen Kräften sympathisieren, treten für strikte Austerität, neue neoliberale Offensiven und Aufrüstung ein. Der andere Teil der herrschenden Klasse steht für eine flexiblere Form der Austerität, die neben Aufrüstung keynesianische Ansätze wie staatliche Investitionen in grüne Technologien und den Wiederaufbau der Infrastruktur favorisiert. Wie soll die Linke mit dieser Spaltung umgehen, die teils ein Ringen um den Fortbestand der imperialistischen Weltordnung ist?

Von Spaltung zu sprechen ist vielleicht doch etwas zu oberflächlich. Politisch relevanter ist doch, dass beide Lager den Austeritätskapitalismus blind unterstützen. Der heutige Keynesianismus hat nur noch wenig mit Umverteilung von oben nach unten zu tun, er bevorzugt vielmehr öffentliche Ausgaben zur Unterstützung privater Investoren*innen. Das trifft auch auf die gemäßigteren Austeritätsbefürworter*innen zu. Niemand von denen stellt sich doch dem massiven Ausbau des militärisch-industriellen Komplexes oder der Subventionierung großer internationaler Finanzkonzerne entgegen. Die Linke sollte beide Lager als Klassenfeinde verstehen. Diese brutale Wahrheit zeigt sich derzeit nirgendwo deutlicher als beim Blutbad an den Palästinenser*innen, das vom Westen materiell und ideologisch unterstützt wird, indem er sich an Kriegsverbrechen und der völligen Aushebelung des Völkerrechts beteiligt. Angesichts des apokalyptischen Ausmaßes der fortschreitenden Zerstörung steigen die Opferzahlen in Gaza weiter an: überall zerstörte Krankenhäuser, zu Staub verkommene Felder, verseuchte Wasserquellen, überall Müll und Trümmer auf einem hochgradig vergifteten Stückchen Land, wo menschliches Leben unmöglich geworden ist. Etwa 41 000 Bewohner*innen des Gazas­treifens sind nach Angaben der dortigen offiziellen Gesundheitsbehörde (Stand: September 2024) bereits getötet worden, 20 000 Waisen leben in den von den Ortschaften übrig gebliebenen Ruinen und eine halbe ­Million Menschen ist dem Hungertod ­preisgegeben, weil das israelische Militär ­humanitäre Hilfe blockiert. Folterungen an Gefangenen aus dem Gazastreifen in ­israelischer Haft sind in verschiedentlichen Videos verewigt, die IDF-Soldat*innen [Israel Defenxe Forces, Anm. d. Red.] aufgenommen haben. Unterdessen annektiert Israel im Westjordanland weiterhin ­palästinensisches Land. Die ethnischen ­Säuberungen dort und in Gaza gehen ungestraft weiter.

Die von den europäischen Eliten immer noch unterstützten USA stehen stellvertretend für einen globalen Trend des Austeritätskapitalismus. Während soziale Ausgrenzung und Armut in den USA exponentiell zunehmen, wie etwa die alarmierende Ausbreitung von Obdachlosigkeit zeigt, werden die maßgeblich von Arbeiterhaushalten gezahlten Steuern nicht etwa für die Stärkung des Sozialstaats verwendet. Im Gegenteil: Die Staatsverschuldung wächst, um Großaktionäre zu ­bereichern, öffentliche Gelder fließen massenhaft an private Unternehmen, insbesondere im militärisch-industriellen Komplex. Allein in den letzten zehn Monaten bewilligte der Kongress Militärhilfen an Israel in Höhe von 12,5 Milliarden US-Dollar. (Dabei sind mehr als 100 Zuschüsse aus dem Foreign Military Financing Program noch nicht mitgerechnet, weil sich diese der Kontrolle des Kongresses entziehen.) Was Militärhilfen genannt wird, bedeutet staatlich garantierte Aufträge und ein hervorragendes Geschäft für die mehr als 50 multinationalen Unternehmen, die am Massaker im Gazastreifen beteiligt sind: von General Motors über Ghost Robotics bis hin zu Google und anderen ­KI-Unternehmen, die todesbringende Algorithmen bereitstellen.


Das von der Redaktion der LuXemburg gekürzte Interview erschien zuerst am 18. Juli 2023 in der Zeitschrift © The Nation unter dem Titel »Common Sense Fiscal Policy or Austerity by Another Name?«. 
Es wurde um eine weitere Frage seitens der Redaktion und eine Antwort der Autorin im September dieses Jahres ergänzt.


Aus dem Englischen übersetzt von Niki ­Lambrianidou und Camilla Elle (Gegensatz Translation Collective)

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