Die gleiche Logik des Stellvertreterkrieges, welche die Invasion überhaupt erst ermöglicht hatte, grenzte ihre Ausweitung ein, denn sie stieß sich an den Interessen der stärksten Inventionsmächte USA und Russland. Frieden ist seither nicht eingekehrt, vielmehr wurde der Krieg als solcher eingehegt. Nach Angaben der Syrischen Demokratischen Kräfte hat die Türkei von Beginn des Waffenstillstands am 17. Oktober bis zum 3. Dezember 2019 Luft- und Bodenangriffe durchgeführt, mit denen sie 67 Zivilist*innen tötete und 67.000 Menschen in die Flucht trieb. Die Invasion wurde also eingedämmt, die Postinvasionsordnung ist derweil eine kriegerische, aber die Autonome Administration Nord- und Ostsyrien/Rojava ist trotz allem ein handlungsfähiges Subjekt geblieben. Dieser Beitrag zeichnet die Verschränkung der militärischen Entwicklungen und der diplomatischen Interessenlagen nach.
Der Beginn der Invasion
Zu Beginn ihrer Invasion hatte die Türkei Kräfte aufgeboten, die in ihrer Anzahl und Zusammensetzung stark an die Afrin-Invasion von 2018 erinnerten: zwei gepanzerte Brigaden, zwei mechanisierte Infanteriebrigaden, eine Kommandobrigade, zwei Gendarmerie-Bataillone und zudem gemischte Spezialkräfte von etwa 6.000 Soldaten (vgl. Gürcan 2019). Hinzu kamen 6.400 bis 14.000 Kämpfer aus den Reihen der in der Türkei ausgebildeten Syrischen National Armee (SNA) aus Afrin (vgl. Al Jazeera 2019a). Während in den Reihen der SNA überwiegend Islamisten und zum Teil auch dschihadistische Gruppen wie Ahrar al-Sharqiya and Jaysh al-Islam kämpfen,[1] weist der hohe Anteil an Kommandokräften, Gendarmerie und Spezialkräften in den Reihen des türkischen Kontingents nicht nur auf eine professionalisierte, sondern auch auf eine weltanschaulich geprägte Kriegsführung hin. Soldaten aus den Reihen dieser Kräfte haben sich schon während der militärischen Kampagnen in den kurdischen Provinzen der Türkei als dezidiert politische Kämpfer verstanden. Am Nachmittag des 9. Oktober 2019 begann die Invasion mit umfassenden türkischen Luft- und Artillerieangriffen, die zum Teil über die angestrebte Zone hinaus- und damit tief in den Raum Nordsyriens hineinreichten. Ziele waren Positionen der SDF und lebenswichtige zivile Infrastrukturen wie Stromleitungen zu Staudämmen sowie Straßenverbindungen, die für die Verlegung von Truppen und Versorgungsgütern bedeutsam sind. Eine permanente Drohnenaufklärung unterstützte die Luftwaffe und ermöglichte ein weitreichendes und präzises Feuer der türkischen Artillerie. Letztere konnte so agieren, ohne sich selbst dabei in die Reichweite der SDF zu begeben – ein wichtiger Vorteil der Invasoren. Der Nachschub zu den grenznahen kämpfenden Verbänden der SDF sollte so geschwächt und die Bevölkerung in den Grenzstädten demoralisiert und vertrieben werden. In zahlreichen Kriegen stellt die flüchtende Bevölkerung für die Verteidiger ein erhebliches logistisches Problem dar, denn sie behindert den Straßenverkehr und wirkt sich so auf die eigene Logistik und die Fähigkeit aus, Truppen zu verlegen. Zudem entstand durch die umfassende Luftoffensive – bis weit jenseits der Grenze – der Eindruck eines allumfassenden Angriffs auf Rojava. Dem Kalkül der türkischen Kriegsplanung dürfte diese Wirkung zugrunde gelegen haben. Zudem störten die Türkischen Streitkräfte zahlreiche Kommunikationswege mit elektronischen Maßnahmen und erschwerten so die Erstellung präziser Lagebilder. Zu Beginn des Krieges lag also der Schwerpunkt darauf, die Verteidigungsfähigkeit der SDF aus der Distanz zu schwächen. Es kam in den ersten Tagen zu keiner breit angelegten türkischen Bodenoffensive, die komplexere Logistikstränge und erheblich mehr Truppen erfordert hätte. Stattdessen gingen die Invasoren am Boden punktuell vor und bildeten Brückenköpfe für die Einkesselung grenznaher Städte wie Tall Abyad/Girê Sipî[2] und Raʾs al-ʿAin/Serê Kaniyê. Die Türkei hoffte, in den beiden stark arabisch geprägten Städten auf weniger Widerstand zu stoßen. Der starke Widerstand der lokalen arabischen Milizen als integraler Teil der SDF gegen die Invasoren widersprach dem türkischen Narrativ von der Unterdrückung der lokalen arabischen Bevölkerung durch die Partei der Demokratischen Union (PYD). Dennoch hat die Türkei aus ihren taktischen Fehlern während der früheren Offensiven gelernt: Die erste Phase der jüngsten Invasion begann mit dem Einsatz von Methoden, die in der zweiten Phase des Afrin-Krieges Anfang 2018 die entscheidende militärische Wende zugunsten der Türkei gebracht hatten. Im Zuge des Infrastrukturkrieges war damals Afrin-Stadt und kurz darauf ganz Afrin aufgegeben worden, nachdem sich gezeigt hatte, dass es keine Möglichkeit gab, die für die Zivilbevölkerung lebenswichtigen Infrastrukturen gegen die türkische Übermacht zu verteidigen. Von Beginn an basierten die militärischen Erfolge des türkischen Angriffs auf der Verwischung der Grenze zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten. Weltanschaulich-politische Haltung und militärisches Handeln bildeten einen Nexus. Aufgrund des hocheffektiven Krieges der Invasoren gegen die Infrastrukturen zeichnete sich die klare militärische Unterlegenheit der SDF rasch ab: Zwar führten sie am ersten Kriegstag eine Reihe von Gegenattacken – zum Beispiel mit Mörsern – durch,[3] die zum Teil in die Türkei hineinreichten, doch bereits am zweiten Kriegstag nahmen diese deutlich ab. Es fehlten ihnen die Voraussetzungen für einen flexiblen Guerillakrieg, denn sie hatten primär Raum, Infrastrukturen und ihre Bevölkerung zu verteidigen. Ihre Aktionen beschränkten sich daher im Wesentlichen auf den Widerstand gegen die Invasoren und auf punktuelle Versuche, verlorene Positionen zurückzuerobern, sowie auf die Absicherung von Rückzügen und Evakuierungen. Das Voranschreiten der türkischen Offensive sollte so verzögert werden. Es ging darum, Zeit zu gewinnen, um auf diplomatischen Weg Einfluss auf die großen Interventionsmächte (USA und Russland) zu nehmen und einen Stopp der Invasion oder zumindest eine Sperrung des Luftraums zu erwirken.
Diplomatische Reaktionen auf die Invasion
Das Feld Diplomatie bildete damit von Beginn an eine wichtige Dimension des Konfliktes. Den Kampf um die Weltöffentlichkeit hatte die Türkei indes schon lange vor Kriegsbeginn verloren, denn die Invasion war erwartet und auch im Vorfeld als eine solche tituliert worden. Andere Wahrnehmungen fanden sich in verbündeten zentralasiatischen Staaten und unter einigen islamistischen Bewegungen, die enge Beziehungen zur Türkei unterhalten. Doch obwohl offizielle staatliche Außenpolitik immer auch lokale Diskurse und populäre Meinungen berücksichtigen muss, ist sie nicht deren reine Extension. Sie ist vielmehr geprägt von langfristigen strategischen Interessen, die weit weniger öffentlich, als auf vielen anderen Politikfeldern üblich, verfolgt werden. Der unmittelbare Einfluss öffentlicher Diskurse auf die Formulierung von Außenpolitik ist in der Regel beschränkt und unterliegt langen Latenzzeiten. Der Persistenz der Sorge um einen Verbleib der Türkei in westlichen Bündnisstrukturen sowie die kontinuierliche Verweigerung, die Berechtigung dieser Sorge kritisch zu überprüfen, belegen dies eindrucksvoll (vgl. Gehring 2019a). Und ferner fällt die gegenwärtige Unberechenbarkeit der US-Außenpolitik deshalb so stark ins Gewicht, weil sie eine (durch die Spaltung des US-Machtblocks) induzierte Abweichung von dieser Regel darstellt. Derweil weichen seit Beginn der Offensive die diplomatischen Reaktionen der meisten EU-Staaten deutlich von jenem Grundtenor ab, der noch im Januar 2018 die Eröffnung der Afrin-Offensive begleitete. Damals wurde der türkische Angriff als „legitimen Sicherheitsinteressen“ entspringend betrachtet, zugleich wurden „alle Seiten“ zur Zurückhaltung aufgerufen. Die Offensive wurde damals nicht goutiert, doch Afrin lag außerhalb des eigenen Interessensgebietes. Deswegen die Beziehungen zur Türkei noch weiter zu belasten, war außenpolitisch nicht opportun. Beim jüngsten Angriff auf Nordsyrien/Rojava fielen die Reaktionen aus Europa im Anbetracht ihrer Interessenslage deutlich negativer aus (vgl. Deutsche Welle 2019). Ihr Tenor war geprägt von der Besorgnis über die Auswirkungen des türkischen Angriffs auf die Stabilität der Region und deren Folgen für den Anti-IS-Kampf. Die Offensive wurde entschieden, gar aufs Heftigste verurteilt – verbunden mit der Aufforderung an die Türkei, diese einzustellen. Eine für den 9. Oktober geplante Erklärung der Europäischen Union kam aufgrund eines Vetos aus Ungarn – einem der engsten türkischen Bündnispartner auf dem Balkan – jedoch nicht zustande (vgl. Finans Gündem 2019). Ungarn bewertete den Angriff als legitim und gar als sinnvollen Beitrag zur Migrationsfrage. Insgesamt waren die Regierungen einmal mehr mit dem seit Jahren existierenden Kardinalproblem ihrer Türkeipolitik konfrontiert: Die Türkei nutzt ihre Position als NATO-Staat und das Drohpotenzial, diese aufzugeben, um eine Regionalpolitik zu betreiben, die nicht im Interesse aller NATO-Staaten ist, aber notgedrungen hingenommen wird. Durch die Zuspitzung der westlichen Konkurrenz mit Russland hat sich dieses Problem im Laufe der letzten Jahre weiter verschärft und so den Handlungsraum der Türkei vergrößert, da trotz zunehmender Spannungen mit der Türkei gute Beziehungen zu eben dieser eine wachsende Bedeutung bekamen. Stimmen, die diese Beziehungen wegen ihrer vermeintlichen Illoyalität opfern wollten, blieben Ausnahmen (vgl. Rubin 2019). Allerdings ist über die letzten Jahre hinweg der öffentliche Druck gewachsen, Konzessionen gegenüber der Türkei auf ein Minimum zu beschränken. Dies gilt umso mehr für Regionen, in denen türkische mit eigenen Interessen kollidieren – wie in Nordostsyrien. Wichtiger als die Statements aus den Reihen der EU waren für den Fortgang der türkischen Offensive ohnehin die Positionen der beiden handlungsmächtigsten Interventionsmächte in Syrien: USA und Russland. Die US-Regierung hatte die Invasion am 6. Oktober gebilligt, sofern sie nicht näher definierte Grenzen überschritt (siehe Gehring 2019b). Zudem hatte sich die russische Regierung formal für neutral erklärt, indem sie ein türkisches Selbstverteidigungsrecht betonte, aber ausländische Truppen (das heißt US-Truppen) dazu aufforderte, Syrien zu verlassen. Am 11. Oktober versuchte ein französischer Resolutionsentwurf, beiden Staaten im UN-Sicherheitsrat eine Position zur laufenden Offensive abzuringen. Beide verhinderten mit ihren Vetos die Verurteilung des Angriffskrieges durch den UN-Sicherheitsrat. Diese Vetos sind jedoch nicht allein auf verschiedene Positionen und Interessen in Nordsyrien und bei der kurdischen Frage zurückzuführen. Erschwerend auf die Formulierung einer gemeinsamen Resolution hatte sich zudem die seit Beginn des Bürgerkrieges im Jahr 2011 andauernde Spaltung der UN-Vetomächte ausgewirkt: Trotz aller westlich-türkischen Differenzen in der kurdischen Frage und bezüglich des Status Nordostsyriens betrachten sowohl die westlichen Staaten als auch die Türkei die syrische Regierung als illegitim und erkennen die syrische Übergangsregierung an. Sämtliche ihrer Verhandlungsinitiativen zielen letztinstanzlich auf eine Ablösung der gegenwärtigen Regierung in Damaskus. Derweil sieht Russland in der westlichen Politik gegenüber Syrien eine Verletzung der syrischen Souveränität und ihre militärische Intervention in Syrien als Verteidigung derselben. Sämtliche von Russland initiierte Verhandlungsinitiativen (auch der Astana-Prozess, welcher der Türkei aufgenötigt wurde) zielen auf ein zeiträumliches Management des Krieges, sodass Damaskus nicht an zu vielen Fronten kämpfen muss und das Land schrittweise zurückerobern kann. Die kurdische Frage an sich spielt für Russland eine untergeordnete Rolle, zentrales Ziel ist die Widerherstellung der territorialen Integrität Syriens, das heißt der Kontrolle der Zentralregierung in Damaskus über das ganze Land. Daher hatte Russland im Sicherheitsrat darauf gedrängt, die türkische Offensive im Kontext der syrischen Souveränität insgesamt zu thematisieren (Al Jazeera 2019). Die Eskalation des syrischen Bürgerkrieges zum lokalen Stellvertreterkrieg unter Beteiligung globaler Mächte hat also nicht nur die türkische Invasion ermöglicht (vgl. Gehring 2019b), sondern erschwerte auch deren diplomatische Bearbeitung im UN-Sicherheitsrat. Inmitten dieser verfahrenen Situation stoppte Norwegen seine Waffenexporte in die Türkei, binnen weniger Tage schlossen sich die Niederlande, Schweden und Finnland dem Boykott an. Auch Frankreich und Deutschland stoppten die Genehmigung neuer Rüstungsausfuhren in die Türkei. Die deutsche Bundeskanzlerin forderte derweil in einem Telefonat vom türkischen Präsidenten Erdoğan den Stopp der Offensive. Und am 14. Oktober verurteilten die Mitgliedsstaaten der EU gemeinsam die Invasion. Nachdem die konkrete Umsetzung der Aufforderung, Waffenexporte zu stoppen, den einzelnen Mitgliedsstaaten überlassen wurde, sah Ungarn von einem erneuten Veto ab. Auch die arabischen Staaten verurteilten den Angriff, einzig die türkischen Bündnispartner in Tripolis und Qatar vertraten andere Standpunkte. Spätestens mit dem Angriff auf Nordsyrien/Rojava war der türkische Regionalmachtanspruch in der Region nicht mehr nur de facto, sondern offiziell gescheitert. Die latente Erosion türkischer Softpower (vgl. Tuğal 2017) war nunmehr in eine manifeste diplomatische Isolierung umgeschlagen. Doch der dominierende „realpolitische“ Bias staatlicher Politik sorgte dafür, dass diese Isolierung weitgehend symbolisch blieb.
„Kompromiss oder Genozid?“
Ungeachtet der überwiegend negativen diplomatischen Reaktionen – auch die Zustimmung der USA und Russlands war nur zähneknirschend erfolgt – setzte die Türkei ihre Offensive daher fort und betonte sogar, dass sie selbst ein Embargo nicht davon abbringen würde. Anders als bei der Afrin-Invasion konnte sie dabei von geografischen Vorteilen profitieren, die sich zulasten der Verteidiger*innen auswirkten. Wichtige Städte lagen zudem unmittelbar an der Grenze zur Türkei. So bildeten die Grenzstädte Tall Abyad/Girê Sipî und Raʾs al-ʿAin/ Serê Kaniyê die ersten taktischen Ziele der Bodenoffensive und das strategische Ziel war die Fernstraße M4, die im Norden Syriens etwa 30 Kilometer parallel zur Staatsgrenze mit der Türkei verläuft. Am 12. Oktober töteten islamistische Milizen bei einem ersten Vorstoß auf die Fernstraße M4 die Generalsekretärin der Syrischen Zukunftspartei, Hevrin Khalaf. Das Video ihrer Exekution wurde veröffentlicht (Barthe/Kaval 2019). Internationales Aufsehen erregte zudem am folgenden Tag ein Luftangriff auf einen etwa 400 Fahrzeuge umfassenden zivilen Konvoi in dem auch mehrere Journalist*innen unterwegs waren (vgl. Amnesty International 2019). Am 13. Oktober gaben die Invasoren die Einnahme von Tall Abyad/Girê Sipî bekannt, derweil wurden Abschnitte der Fernstraße M4 dauerhaft eingenommen und wurde so die wichtigste Nachschubroute der SDF gekappt. Obwohl die Kämpfe in Tall Abyad/Girê Sipî und Raʾs al-ʿAin/ Serê Kaniyê tatsächlich noch nicht abgeschlossen waren, gab es kaum mehr realistische Chancen, der türkischen Offensive im Hauptkampfgebiet standzuhalten. Mit dem Erreichen der initialen türkischen Operationsziele drohte nun die Ausweitung der türkischen (Boden-)Offensive auf weitere grenznahe Gebiete und Städte. Am selben Tag begann zudem der Abzug der letzten in Nordsyrien stationierten US-Soldaten. Unter dem Eindruck ihres nun absehbaren militärischen Zusammenbruchs sprach der Kommandierende der SDF, Mazloum Abdi, gegenüber der Zeitschrift Newsweek von einer Wahl „zwischen Kompromiss und Genozid“ und bereitete so die US-amerikanische Öffentlichkeit auf ein militärisches Abkommen zwischen den SDF und der syrischen Zentralregierung vor (vgl. Abdı 2019a). Noch am selben Tag vereinbarten die syrische Zentralregierung und die SDF die Stationierung der Syrischen Arabischen Armee (SAA) in Kobane und Manbij/Minbic binnen 48 Stunden (vgl. Perry 2019). Damit wurde schließlich der Angriff der Türkischen Streitkräfte und ihrer verbündeter Milizen auf das im Westen der Invasionsfront gelegene Manbij/Minbic aufgehalten. Die schwachen syrischen Regierungstruppen hatten kaum Einfluss auf das militärische Kräfteverhältnis, aber der Versuch der Eroberung von Manbij/Minbic war nun für die Türkei politisch riskant geworden. Schließlich sollten entlang der gesamten Länge der Grenze und auch in einigen rückwärtigen Städten stationiert werden. Obwohl die Kämpfe andauerten und die Türkei militärisch dort überlegen blieb, wandelte sich mit wachsendem Eskalationsrisiko die politische Kräftekonstellation und richtete sich nun gegen die türkische Invasion. Am 14. Oktober berief sich der US-Präsident auf ein Hintertürchen in seiner Invasionsvollmacht vom 9. Oktober und erklärte fortan das Vorgehen der Türkei als Gefahr für den Anti-IS-Kampf sowie für Sicherheit und Stabilität in der Region. Er tat dies in Form einer Exekutivorder, die laufende Verhandlungen mit der Türkei über ein gemeinsames Handelsabkommen aussetzte und zudem Finanz-, Vermögens- und Einreisesanktionen gegen die Verantwortlichen der türkischen Offensiv erließ (vgl. White House 2019). Auch Russland bezeichnete die Invasion unter Verweis auf die Souveränität Syriens nunmehr als inakzeptabel (vgl. Hubbard u.a. 2019). Zudem wurden erste russische Kräfte weiter nach Norden verlegt, es kam wiederholt zu Gefechten zwischen syrischen Regierungstruppen und Beteiligten an der türkischen Offensive. Eine größere Eskalation im Norden Syriens war zwar nicht wahrscheinlich, aber dennoch möglich. In der angespannten Situation verlagerte sich in der EU die Aufmerksamkeit auf die Frage einer möglichen Konfrontation zwischen dem NATO-Mitglied Türkei und Russland.
Die Abkommen vom Oktober: Beginn der kriegerischen Postinvasionsordnung?
Während zum Ende der ersten Invasionswoche die Sorge um die internationale Eskalation des Konflikts wuchs, gab die Gesundheitsbehörde der kurdischen Verwaltung in Nordostsyrien am 17. Oktober bekannt, dass seit Beginn der Offensive in Syrien mindestens 218 Zivilpersonen getötet worden waren, darunter auch 18 Minderjährige (vgl. Amnesty International 2019). Die auf dem Handlungskalkül der Interventionsmächte basierende Logik des Stellvertreterkrieges hatte die türkische Invasion überhaupt erst ermöglicht und hegte sie schließlich wieder ein. Weder die USA noch Russland hatten Interesse an einer unkontrollierten Eskalation und begannen auf eine Einstellung der Offensive zu drängen. Der türkische Präsident wollte diese aber so lang wie möglich fortsetzen – daher bestand er auf einem Besuch des US-Präsidenten, um Zeit zu gewinnen. Letztlich musste er sich mit dem Besuch einer vom Vizepräsidenten angeführten Delegation in Ankara zufriedengeben. Dort verkündeten Vizepräsident Mike Pence und Verteidigungsminister Mike Pompeo am 17. Oktober einen Waffenstillstand, der „türkische Sicherheitsinteressen“ anerkannte und zugleich von der Türkei die Einhaltung der Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrates sowie die Wahrung der „politischen und territorialen Integrität Syriens“ forderte (womit auch einem russischen Kerninteresse stattgegeben wurde). Die nicht als Vertragspartei beteiligten SDF wurden verpflichtet, sich binnen 120 Stunden 32 Kilometer südlich der Grenze zurückzuziehen. Die Zuständigkeit für die Durchsetzung der Zone übertrug man primär auf die Türkischen Streitkräfte (vgl. Presidency of the Republic of Turkey 2019). Weder die PYD noch die SDF erkannten die Legitimität der Okkupation an. Allerdings stimmte der Oberkommandierende der SDF, Mazloum Abdi, dem Waffenstillstand im Gebiet zwischen Tall Abyad/Girê Sipî und Raʾs al-ʿAin/ Serê Kaniyê zu. Hier waren die Invasoren zum Teil bereits bis zur Fernstraße M4 vorgedrungen. Damit hatten die SDF ein Gebiet von etwa 100 Kilometer Länge und 32 Kilometer Tiefe erzwungenermaßen taktisch abtreten müssen. In den anderen grenznahen Gebieten hielten die SDF bis kurz vor Ablauf der Feuerpause die Stellung beziehungsweise hatten sich nur in Teilen zurückgezogen. Die Türkei nahm dies zum Anlass für weitere Angriffe – darunter auch der mehrmalige Einsatz von weißem Phosphor (vgl. Loyd 2019). Die syrische Zentralregierung bezeichnete dagegen demonstrativ die Präsenz der SDF als legitimen „Widerstand im Dienst der syrischen Verfassung“ – eine erneute Eskalation zwischen Syrien und der Türkei drohte mit dem bevorstehenden Ende der 120-stündigen Feuerpause. Der Druck, eine nahtlos anschließende Folgevereinbarung zu finden, wuchs. Am 22. Oktober schlossen Russland und die Türkei ein weiteres Abkommen, das die neuen militärischen Kräfteverhältnisse in Nordsyrien kodifizierte (vgl. Bianet 2019). Jenseits der militärischen Regelungen, die vor allem den Zusammenstoß zwischen syrischen und türkischen Truppen und damit eine Eskalation über die kurdische Frage hinaus unterbinden sollen, stellt das Abkommen politisch eine Hybridform zwischen der US-amerikanisch-türkischen Zonenvereinbarung vom August dieses Jahres (vgl. Gehring 2019b I) und der Neuinterpretation des Adana-Abkommens dar, die im Januar von Russland auf die Agenda gebracht wurde. Im Grundsatz führt es die Idee einer 30 Kilometer tiefen „Sicherheitszone“ fort. Allerdings umfasst sie als Besatzungszone nur die von der Türkei und der SNA eroberten Gebiete zwischen Tall Abyad/Girê Sipî und Raʾs al-ʿAin/Serê Kaniyê und der Fernstraße M4. Hier können die Invasoren seither exklusiv agieren. Der Rest des grenznahen Gebietes wird nun bis zu einer Tiefe von 10 Kilometer von russisch-türkischen Patrouillen kontrolliert. Die YPG hatten binnen 150 Stunden unter Aufsicht der russischen Militärpolizei und syrischen Grenztruppen aus der Zone abzuziehen. Der Zugang zum grenznahen Quamishli/Qamişlo bleibt ihnen derzeit verwehrt. Die Syrische Arabische Armee errichtet (als offizielle Streitmacht der syrischen Regieurng) 15 Grenzposten, die YPG sollte ebenso Manbij/Minbic und Tell Rifaat verlassen. Wie die mit den USA im August geschlossene Zonenvereinbarung sieht das neue Abkommen vor, Geflüchtete in der Zone anzusiedeln – allerdings nunmehr auf „freiwilliger Basis“. Zugleich will Russland damit die Implementierung des Adana-Abkommen von 1998 „ermöglichen“, um die „nationale Sicherheit der Türkei“ zu schützen und die „politische und territoriale Integrität Syriens zu erhalten“. Damit erteilt es einer dauerhaften Okkupation – auch der Gebiete zwischen Tall Abyad/Girê Sipî und Raʾs al-ʿAin/ Serê Kaniyê – eine Absage. Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der russisch-türkischen Vereinbarung hatten die Invasoren noch nicht alle Gebiete vollständig erobert, die ihnen de facto zugestanden worden waren. Daher setzte die Türkei insbesondere zwischen Tall Abyad/Girê Sipî und Raʾs al-ʿAin/Serê Kaniyê ihre Offensive fort. Die großen Interventionsmächte billigten dies: Russland und die USA hielten den Luftraum für türkische Angriffe geöffnet, und ungeachtet der Kriegshandlungen hoben die USA aufgrund der Waffenstillstandsvereinbarung ihre Sanktionen gegen die Türkei wieder auf (BBC 2019). Am 27. Oktober gaben die SDF den Abzug ihrer Truppen von der Grenze gemäß der Vorgaben des russisch-türkischen Abkommens bekannt. Nach der Umsetzung des Abkommens durch die SDF kam es weiterhin zu intensiven türkischen Kriegshandlungen und ihrer islamistischen sowie dschihadistischen SNA-Verbündeten auch gegen syrische Regierungstruppen. Dies Angriffe fanden nunmehr primär an den Rändern der Okkupationsgebiete zwischen Tall Abyad/Girê Sipî und Raʾs al-ʿAin/Serê Kaniyê statt. Schwerpunkte bildeten dabei die an der M4 gelegenen Verkehrsknotenpunkte Ayn Issa/Bozanê (südlich von Tall Abyad/Girê Sipî) sowie Tell Tamer/Girê Xurma (südlich von Raʾs al-ʿAin/Serê Kaniyê). Zeitraum und Richtung der Angriffe indizieren, dass hier die Türkei vor dem erzwungenen Waffenstillstand zwei zentrale Ziele ihrer Offensive nicht mehr erreichen konnte. Vor allem aber will sie ihren militärischen Druck aufrechterhalten – auch auf die Zivilbevölkerung. Politisch aber ist die Invasionsphase des am 9. Oktober eröffneten Angriffskrieges beendet, denn der Raum der Invasoren ist nunmehr abgesteckt. Eine erneute Invasion vom Umfang der jüngsten bedürfte eines erneuten monatelangen diplomatischen Vorlaufs (siehe Teil I). Die militärischen Angriffe als Teil einer kriegerischen Postinvasionsordnung gehen an den Rändern der Sicherheitszone allerdings weiter – toleriert von den Interventionsmächten, solange deren zentrale Interessen nicht zur Disposition gestellt werden. Am 2. Dezember griff die türkische Luftwaffe das weit im Westen (nahe Afrin gelegene) Tell Rifaat an und hielt damit die Spanungslage über die gesamte Länge der Grenze aufrecht – denn dieser Luftschlag signalisiert, dass jederzeit und überall mit solchen Angriffen zu rechnen ist. Die Militäraktion wurde offenkundig von der russischen Luftraumkontrolle genehmigt. Russland selbst führte derweil Angriffe in Iblib durch. Trotz fortdauernder türkischer Attacken lassen Russland und die USA kein Interesse an einem weiteren Vordringen türkischer Bodenkräfte nach Süden erkennen. Um türkische Angriffe auf die Grenzstadt Amude sowie die Städte Tell Tamer/Girê Xurma und Ayn Issa/Bozanê an der Fernstraße M4 zu unterbinden, willigte SDF dort in die Stationierung russischer Truppen ein (vgl. Abdı 2019b). Zudem ist die US-Außenpolitik nach wie vor nicht auf den US-Präsidenten zu reduzieren: Was ihm in spezifischen Konstellationen als ein probates Mittel erscheint, um die strategische Neuausrichtung der US-Außenpolitik mit populistischer Innenpolitik zu verbinden, wird ihm in anderen Konstellation schlicht aus Ausverkauf US-amerikanischer Interessen ausgelegt. In solchen Fällen kann dann die etablierte Fachbürokratie im Außenministerium einen größeren Einfluss geltend machen. Das Vorrücken syrischer Regierungstruppen und russischer Militärpolizei nach Nordsyrien infolge der Vereinbarung zwischen SDF und der Zentralregierung in Damaskus vom 13. Oktober und dem russisch-türkischen Abkommen vom 22. Oktober, zog daher die Stationierung gepanzerter US-Verbände zur Sicherung der Ölfelder nahe des Euphrat bei Deir ez-Zor nach sich (vgl. Borger/Sabbagh 2019). Kurzum: In sämtlichen nicht von der Türkei besetzten Gebieten würde ein erneuter türkischer Invasionsversuch derzeit unweigerlich auf bereits präsente Interventionsmächte stoßen. Im Grunde bedeutet das russisch-türkische Abkommen, das die Türkei fortan ohne russische Zustimmung nicht mehr im Norden Syriens intervenieren kann, da die YPG ihre grenznahe Präsenz beendet hat, dafür die Syrische Arabische Armee in den Norden zurückkehrt. Die Einbettung der russisch-türkischen Vereinbarung in das Adana-Abkommen bedeutet, dass die türkischen De-facto-Protektorate, wie sie zwischen Jarablus, Al Bab und Afrin bereits existieren, nicht auf Dauer errichtet werden dürfen. Auch die Hürden für eine aktive türkische Demografiepolitik wurden deutlich erhöht. Allerdings beinhaltet das Abkommen keine ausformulierten Instrumente, um die Türkei auf kürzere Sicht von einer Kolonisierung der bereits eroberten Gebiete zwischen Tall Abyad/Girê Sipî und Raʾs al-ʿAin/Serê Kaniyê und der Fernstraße M4 wirksam abzuhalten. Diese Konzession der russischen Regierung an die Türkei stellte vor allem ein taktisches Manöver dar, um die türkische Invasion in ihrer Gesamtheit einzudämmen. Es galt Zeit zu gewinnen, um eigene und syrische Regierungstruppen überhaupt für eine Verlegung in den Norden mobilisieren zu können. Die Schwächung der SDF und der PYD durch den türkischen Angriff kommt ihr aber zugleich nicht ungelegen. Innerhalb dieser Konstellation nutzt die Türkei aktiv den Spielraum, den ihr die russischen Zugeständnisse (vorerst) lassen, und hat inzwischen mit der "Arabisierung" ihrer Okkupationszone begonnen. In der Zone selbst kommt es zu massiven Übergriffen der Besatzer auf die Bewohner*innen, die von Eigentumsverletzungen bis zu standrechtlichen Erschießungen reichen. Darüber hinaus werden Rückkehrer*innen daran gehindert ihre Wohnungen und Häuser erneut zu beziehen (Human Rights Watch 2019). Von den über 200.000 vor der Offensive geflohenen Menschen bemühen sich gerade über 100.000 um eine Rückkehr, davon die Hälfte in die Okkupationszone. Zudem versucht die Türkei mit dem Bau einer Betonmauer ihr De-facto-Protektorat vom Rest Syriens physisch anzugrenzen. Dies indiziert, dass sie sich (vorerst) mit den Ergebnissen der Invasion zufriedengegeben hat beziehungsweise sich gezwungenermaßen mit den herrschenden Machtverhältnissen arrangiert. Zugleich verstößt die türkische Regierung aber mit dem Bau der Mauer gegen ihr Abkommen mit Russland, das als Implementierungsschritt des Adana-Abkommens aufgefasst wird und als solches explizit auf die „territoriale Integrität“ Syriens rekurriert. Ob oder wann die russische Regierung dies als Verstoß bewertet, bleibt dabei wesentlich ihrem taktischen Kalkül überlassen und ist wesentlich von der Entwicklung des Gesamtkonfliktes abhängig. Zu beachten ist indes, dass militärische Abkommen wie das türkisch-russische oder das der SDF mit der Zentralregierung in Damaskus militärische Kräfteverhältnisse kodifizieren und als solche noch keinen umfassenden Rahmen der Konfliktregulierung bieten. Sie regulieren die militärischen Aspekte der Postinvasionsordnung. In weiten Teilen Nordsyriens liegt trotz der Präsenz vereinzelter syrischer Regierungstruppen die politische Macht immer noch in den Händen der lokalen Rätestrukturen und der PYD, die eine führende Rolle darin hat, diese Strukturen auf einer überregionalen politischen Ebene miteinander zu verbinden. Nicht nur die Handlungskapazitäten der PYD, sondern auch die der Zentralregierung in Damaskus hängen im Wesentlichen von der Entwicklung der Ökonomie an sich und der ökonomischen Kräfteverhältnisse ab. Staat- und auch Zentralstaatlichkeit etabliert oder reetabliert sich nicht allein, weil sie mit Truppen präsent ist, sondern weil sie einen politischen Rahmen für die Regulierung einer antagonistisch verfassten kapitalistisch Ökonomie bietet. Innerhalb dieses Rahmens verdichten sich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse, diese aber sind in Nordostsyrien nach Jahren des Bürger- und Stellvertreterkrieges nicht mehr die gleichen wie noch zu Beginn der Dekade. Die von ihnen hervorgebrachten politischen Subjekte existieren jedoch fort. Dies wird häufig von jenen übersehen, die sich sicher sind, dass jetzt das Regime in den Norden und Osten Syriens zurückkehrt – sie übersehen zudem die Komplexität der sozialen Kräfteverhältnisse. Dies ist der zweite Beitrag des Autors zur Analyse der türkischen Invasion in Nordostsyrien.
Weiterlesen Teil I: Der Weg in den Krieg