Spätestens seit dem Wahlerfolg Emmanuel Macrons im Frühjahr 2017 bei den Präsidentschaftswahlen muss für Frankreich konstatiert werden, dass das alte Parteiensystem in eine existenzielle Krise geraten ist. Weder der rechtsbürgerliche François Fillon noch der sozialdemokratische Benoit Hamon konnten eine Stichwahl verhindern zwischen der rechtspopulistischen Marine Le Pen und dem ehemaligen Wirtschafts- und Finanzminister Emmanuel Macron, der sich als radikaler, unideologischer und überparteilicher Erneuerer gab. Auch für die im kommenden Jahr anstehenden Präsidentschaftswahlen deutet sich erneut eine starke Zersplitterung innerhalb der politischen Lager, besonders in der Linken, ab. Selbst innerhalb der antiliberalen Linken dominieren inzwischen die gegenseitige Abgrenzung.

Dennoch unterscheidet sich die aktuelle Amtszeit Emmanuel Macrons von jenen seiner Vorgänger. Hatten sich diese durch einen stufenweisen Aufstieg der radikalen Rechten ausgezeichnet, durchleben ultrarechte und rechtspopulistische Netzwerke und Parteien aktuell eine eher schwierige Phase. Denn die Auseinandersetzung zwischen Emmanuel Macron und der Zivilgesellschaft über dessen ungeliebten „Reformen“ lassen rechte Themen wie Identität und Rassismus in den Hintergrund treten. Zwar setzt selbst Staatspräsident Macron verstärkt auf eine fremdenfeindliche und autoritäre Innenpolitik, doch waren die Wahlergebnisse für die Präsidentenpartei La République en Marche (LREM) und den rechtspopulistischen Rassemblement National (RN) bei den Kommunal- und Regionalwahlen in den vergangenen beiden Jahren eher enttäuschend bzw. stark rückläufig.

Doch obwohl hunderttausende Menschen besonders in den Jahren 2018 bis 2020 gegen die Politik Macrons auf die Straße gingen, profitierte die radikale Linke von dieser Entwicklung kaum. Während das Projekt La France insoumise (LFI) nach anfänglicher Euphorie nie den großen Durchbruch jenseits der Präsidentschaftswahlen schaffte und  durch interne Strategiedebatten bald an Dynamik verlor, bleibt der zweifelsfrei bemerkenswerte Einfluss der kommunistische Partei oft auf die kommunale Ebene beschränkt.  Nur durch die Beiträge der Mandatsträger*innen kann sich die Parti communiste français (PCF) heute noch finanzieren. Eine bündnispolitische Zusammenarbeit mit den etablierten „Mitte-Links“-Parteien steht daher im Vordergrund. Im Zweifel auch wenn die inhaltliche Sichtbarkeit dabei leidet. Somit blieben die Gelbwestenproteste ohne großen strukturellen Einfluss auf die Linke. Die ebenfalls relevante Ökologiebewegung in Frankreich des Jahres 2019, die zwar nur punktuell mit den Gelbwesten zusammenarbeitete aber dort nicht unbedingt auf Ablehnung stieß, konnte die Grüne Partei beflügeln. So stieg die eher kleine französische Grüne Partei erst auf Spitzenwerte bei den Europawahlen 2019 und wurde im städtischen Raum 2020 zum eindeutigen Gewinner bei den Kommunalwahlen. Die Listen der radikalen Linken spielten dabei nur eine kleine Rolle.

Die Kommunistische Partei ist nur noch in den Kommunen stark

Die Gründe der andauernden Erosion der kommunistischen Bewegung in Frankreich lassen sich leicht benennen. Einerseits ist ein fortdauernder Verlust an Einfluss in den sozialen Unterklassen festzustellen. Die Führungskader reproduzieren sich in erster Linie aus dem Umfeld von Angestelltenmilieus im öffentlichen Dienst. Dies ist natürlich stark darauf zurückzuführen, dass  die Industriearbeiterschaft, die den Kern des Apparats und der Basis der Kommunistischen Partei ausmachte, von der Deindustrialisierung besonders hart getroffen wurde. Der immer weiter anwachsende Anteil des Dienstleistungssektors aber auch der Logistikbranche, deren Beschäftigte zu großen Teilen weiblich und migrantisch sind, macht die Lage des PCF nicht einfacher. Denn über eine wirkliche Verankerung verfügt die Partei hier nicht (Mischi 2015).

Somit bleiben die kommunistisch dominierten Lokalverwaltungen ein bevorzugter Ort, um neues Führungspersonal zu rekrutieren. Hier handelt es sich in der Regel um Akteure mit verhältnismäßig hohen Bildungstiteln, die  in Institutionen jenseits der Parteistrukturen erworben wurden. Zuvor war ein Aufstieg innerhalb des Parteiapparats für viele angehende Funktionäre, die in der Regel aus den Betrieben stammten, auch ein sozialer Aufstieg gewesen. Er war bis in die späten 1980ziger Jahre unumstößlich verbunden mit einer ideologischen Schulung, die ab den 1990ziger Jahren sukzessive verschwand. Der Verlust der Arbeiter*innenidentität der Partei führte aber auch dazu, dass die prioritäre politische Ansprache der sozialen Unterklassen aufgegeben wurde. Anstelle einer Betonung der Klassengesellschaft wurde im Diskurs mehr und mehr das Leitbild einer diversifizierten Gesellschaft ebtont, die allen gleiche Rechte und Chance einräumen soll (Pudal 2009).

Diese Neujustierung der Außenwirkung der Partei sollte einerseits offensiv mit der eigenen Vergangenheit während des Kalten Krieges brechen und den Vorwurf entkräften, dass in der Partei stalinistische Autoritarismen fortleben. Sie hatte aber auch mit der bedeutenden Rolle der Kommunalpolitiker*innen zu tun. Die wichtige Rolle der Bürgermeister*innen und kommunalpolitischen Funktionäre machte eine Entideologisierung der Partei aus Sicht der Parteispitze dringend notwendig. Denn auf dieser untersten Ebene der staatlichen Verwaltungsstrukturen war und ist längst ein gestionärer Pragmatismus eingetrete. Dieser Pragmatismus verträgt sich nicht unbedingt mit den Zielen einer politisierten Organisation, die langfristige gesellschaftsverändernde Praxen anstrebt. So bemühen sich auch PCF-Bürgermeister*innen immer wieder, überparteiliche Zustimmung zu generieren, um nicht allzu sehr mit der eigenen Partei in Verbindung gebracht zu werden. Dies kommt jedoch einer Schwächung der Basisstrukturen gleich. Mitunter werden die Parteiaktvist*innen sogar als ideologisches Risiko gesehen, die einer pragmatischen, unpolitschen Konsensfindung vor Ort im Weg stehen (Gouard 2014).

Bis in die 1980iger Jahre konnte die Partei noch personell und materiell auf die Bürgermeister*innenfraktion Einfluss nehmen: Indem etwa durch Kaderpolitik frühzeitig Nachfolger*innen aufgebaut wurden oder indem lokale Parteichefs gar als Büroleiter der Bürgermeister*innen agierten, um so die Fraktion zu kontrollieren. Der Mitgliederverlust der letzten Jahre hat dazu geführt, das Erzielen von Mandaten über alles zu stellen. So ist es seit den 1990ziger Jahren üblich, schon weit vor den einzelnen Wahlgängen Absprachen mit den Sozialdemokraten zu treffen. Ziel sind möglichst sichere Listenplätze bei den Kommunal- aber auch Regionalwahlen, und Absprachen über die Kandidaturen bei den Parlamentswahlen, die im Mehrheitswahlsystem vonstatten gehen. Dadurch wird die Partei allerdings mehr und mehr von Mandatsträger*innen dominiert. Wo der hohe Anteil von CGT-Gewerkschafter*innen mit Parteifunktionen früher noch einen realen Blick auf die Arbeitswelt zuließ, beschränkt sich die Parteiarbeit heutzutage auf den parlamentarischen Betrieb und das Alltagsmanagement in den Gemeinden.

Damit kann eine jahrelange erfolgreiche Synthese der PCF in ihren Gemeinden nicht mehr aufrechterhalten werden. Diese bestand darin, dass in den roten Gemeinden zwar auch immer nicht-proletarische Millieus, die mit der Arbeiter*innenbewegung sympathisierten, mit einbezogen wurden, ohne dass die offen gelebte proletarische Hegemonie  in Frage gestellt wurde (Fourcaut 1986) .

Der Verlust dieser einstigen Stärke drückt sich auch in den Kommunalwahlergebnissen der Partei aus. Mit einer einzigen Ausnahme im Jahre 2008 sank der Anteil der Gemeinden, die von einer PCF-Administration geführt werden, seit 1983 deutlich ab. Summierten sich 1977 die Anzahl der Einwohner*innen der kommunistisch regierten Gemeinden noch auf 7,7 Millionen, ist dieser Wert nach der jüngsten Kommunalwahl auf  2,3 Millionen gefallen. Von einst 147 regierten Gemeinden im Pariser Großraum, der auch den „Roten Gürtel“ umfasste, sind dem PCF heute nur noch 34 Gemeinden geblieben. Der Name „Rote Gürtel“ verwies einst auf die dominierende Stellung der Partei in weiten Teilen dieses ersten Pariser Vorstadtringes. Heute stellt sich die Frage, ob die Kommunistische Partei diese Rolle noch ausfüllen kann (Martelli 2020).

Die radikale Linke vereint sich gegen das neoliberale Europa

Die Öffnung hin zur Sozialdemokratie wurde seit den 1960ziger Jahren immer offensiver angestrebt. In der Folge wurde 1972 das „Gemeinsame Programm“ beschlossen. Doch schon im Vorfeld der Parlamentswahlen 1978 kam es zu Spannungen zwischen Sozialistischer Partei (PS) und dem PCF über die Frage, wie weit die Verstaatlichungen der privaten Unternehmen und insbesondere des Finanzsektors gehen sollten.  Daran zerbrach das feste programmatische politische Bündnis zwischen PS und PCF schließlich. Der Versuch, sich anschließend als proletarische Alternative zur akademischen Sozialdemokratie zu präsentieren, scheiterte und die PS übernahm die Führung der „linken Lagers“. Mitterand siegte bei den Präsidentschaftswahlen 1981. George Marchais, der Kommunistische Kandidat, landete weit abgeschlagen bei knapp 15 Prozent. Eine politische Abwärtsspirale mit immer weiter sinkenden Wahlergebnissen und Mitgliederverlusten begann. Nach dem Niedergang des Sozialistischen Lagers setzten sich innerhalb des PCF schließlich jene Akteure durch, welche das Bild des PCF als reine Arbeiter*innenpartei überwinden sollten. Sie plädierten für das eindeutige Bekenntnis zu einem Status als Juniorpartner in „Mitte-Links“-Bündnissen.

Einerseits verhinderte diese Orientierung die voranschreitende Erosion nicht. Andererseits schienen auch die Ergebnisse einer kommunistischen Beteiligung an der Macht, wie etwa der Regierung der „Pluriellen Linken“ zwischen 1997 und 2002, als unzureichend. Diese Regierung aus Sozialdemokraten, Kommunisten und Grünen musste sich -  für Frankreich eher ungewöhnlich - mit dem bürgerlichen Präsidenten Jacques Chirac arrangieren, dessen „Mitte-Rechts“ Lager 1997 die parlamentarische Mehrheit verloren hatte. Auf diesem Weg verankerte das linke Lager zwar die 35-Stunden-Woche gesetzlich, privatisierte allerdings auch im großen Stil öffentliche Unternehmen. Der Frust über die vermeintlich magere Regierungsbilanz führte im Vorfeld der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2002 zu einer derartigen Zersplitterung und Radikalisierung auf Seiten der Linken (die trotzkistischen Kandidat*innen Arlette Laguiller und Olivier Besancenot erreichten einen addierten Stimmenanteil von beinahe 10 Prozent), dass das „Mitte-Links“-Lager die Stichwahlen verpasste und zum ersten Mal der rechtspopulistische Front National in die Stichwahlen um das Präsidentschaftsamt einziehen konnte.

Der Aufschwung antikapitalistischer Akteure innerhalb der Linken und die vertiefte Krise der kommunistischen Partei (deren Kandidat Robert Hue hatte 2002 gerade einmal 3,37 Prozent der abgegebenen Stimmen erzielt) ermutigte Teile des linken Flügels der Sozialdemokratie um Jean-Luc Mélenchon  zu einem neuen Projekt. Gemeinsam mit anderen antineoliberalen Bewegungen und Einzelpersonen drängten sie auf eine verstärkte bündnispolitische Zusammenarbeit der gesamten „antiliberalen“ Linken. Ihren ersten Höhepunkt erreichte diese neue linke Zusammenarbeit im Rahmen der Kampagne zur Volksabstimmung über den europäischen Verfassungsvertrag, der schließlich von einer Mehrheit der Wähler*innen abgelehnt wurde. Die europäische Frage wurde in der Folge einer der Gründungsfaktoren der „Linksfront“, die maßgeblich von der neuen Linkspartei angestoßen worden war. Getragen von ehemaligen Mitgliedern der Sozialistischen Partei wollte sie das breite Bündnis der linken Kräfte von 2005 in einer Bewegung neu vereinen, nachdem im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2007 eine gemeinsame Kandidatur gescheitert war. Die französische Linkspartei verstand sich dabei als eine Organisation mit Raum für zahlreiche linke Strömungen und Traditionen. Als Vorbild diente  die deutsche Linkspartei (Escalona/Viera 2014: 73ff.).

Für Mélenchon und seine engsten Unterstützer*innen war das Bekenntnis der französischen Sozialistischen Partei (PS) zur Lissabon-Strategie und die Schwäche der linken Strömungen in der PS der ausschlaggebende Grund für einen Austritt. Da die Ablehnung der europäischen Austeritätspolitik die radikale Linke bereits 2005 an einen Tisch gebracht hatte, lag es nahe, im Vorfeld der Europawahlen 2009 einen neuen Versuch zu unternehmen. Allerdings beteiligte sich die trotzkistische „Neue Antikapitalistische Partei“ (NPA), die 2004 in Frankreich Mandate für das Europaparlament erzielt hatte, nicht an dem Projekt. Die neue „Linksfront“ ging mit 6,5 Prozent als stärkste Liste links der Sozialdemokratie aus den Europawahlen 2004 hervor. Dies zeigte, dass das neue Bündnisprojekt eine stabile Basis besaß und ermunterte den PCF zumindest auf der nationalen Ebene wieder nach mehr Autonomie von der Sozialdemokratie zu streben (Escalona/Viera 2014: 77f.).

Auch im Präsidentschaftswahlkampf 2012 spielte die Frage nach dem Verhältnis zur europäischen Union eine nicht unbedeutende Rolle. Zwar forderte Mélenchon, der als Kandidat der „Linksfront“ antrat, dass Frankreich sich nicht einfach den EU-Verträgen unterwerfen sollte und sich in der Wirtschaft- und Finanzpolitik den Forderungen der EU verweigern sollte. Doch Forderungen nach einem Austritt aus der Europäischen Union gab es im Wahlkampf nicht (Escalona/Viera 2014: 79f.).

Der französische Linskpopulismus und „La France insoumise“

Freilich rutschte die Linksfront nach den recht erfolgreichen Präsidentschaftswahlen 2012 im Vorlauf auf die folgenden Kommunal-und Regionalwahlen in eine Grundsatzkrise, die zu ihrem faktischen Ende führte. Während der PCF auf lokaler Ebene schon frühzeitig weiterhin mit der PS traf - trotz einer erneuten neoliberalen Wende der 2012 ins Amt gewählten sozialdemokratischen Regierung -  plädierte Mélenchon für einen konsequenten Abgrenzungskurs. In der Folge der Platzbesetzungsbewegung in Südeuropa und dem Entstehen der Partei PODEMOS in Spanien wurde in der französischen Linkspartei der Linkspopulismus populär. Ein Festhalten an allzu traditionalistischen linken Symbolen und Bezugspunkten wurde in Frage gestellt. Die, die sich  „Unten“ verorteten, sollten gegen die „Oben“ mobilisiert werden (Chazel/Dain 2019). Alle, denen die politischen und gesellschaftlichen Eliten ein Dorn im Augen waren, sollten sich verbinden, um eine radikale Neugründung der französischen Republik zu fordern.

In der Folge wurden aus der Linkspartei (diese besteht bis heute weiter !) heraus 2016  die Bewegung „La France insoumise“  („das aufständige Frankreich“, LFI) gegründet. Strukturell verstand sich LFI nicht als Partei und verwies auf die Autonomie der lokalen Aktivist*innen. Der PCF unterstützte die Kandidatur Mélenchons trotz der ungeklärten Konflikte über die Funktion der Linksparteien in den Strukturen der V.Republik, nachdem sich in einer Mitgliederbefragung eine knappe Mehrheit dafür ausgesprochen hatte. Zugute kam dem Projekt die Desillusionierung des linken Lagers über die Politik des sozialdemokratischen Amtsinhabers Hollande, der angetrieben von seinem späteren Wirtschafts- und Finanzminister Emmanuel Macron auf eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik gesetzt hatte. Zudem war vielen linken Akteuren, die autoritäre Antiterrorpolitik aufgestoßen. Im Frühjahr 2016 führte all dies zum Entstehen der „Nuit Debout“-Bewegung im Zuge der sozialen Proteste gegen Hollande. Sie ebbten im Sommer desselben Jahres allerdings folgenlos wieder ab.

Der kurzzeitige Aufschwung von LFI nach den Präsidentschaftswahlen 2017 führte kaum zu einer wirklichen Verankerung. Bereits bei den Parlamentswahlen im Juni desselben Jahres wurden gerade einmal 16 Abgeordnete ins Parlament gewählt, zudem führte der weiter schwellende Konflikt mit der PCF dazu, dass in zahlreichen Wahlkreisen Mandate durch Konkurrenzkandidaturen verpasst wurden. Auch bei den Europawahlen 2019 erreichte man nur 6,31 Prozent. Eine gemeinsame Kandidatur mit der PCF, die knapp 3 Prozent erreichte, hätte das Ergebnis von 2014 der „Linksfront“ deutlich übertroffen.

Die Stagnation von LFI wurde nicht nur durch die streng hierarchische interne Organisation geschwächt, in der vieles in den Händen eines kleinen Kreises im Umfeld Jean-Luc Mélenchons zusammenläuft. Hinzu kam die unklare Haltung zur nationalen Frage. So hatte Mélenchon zwar 2017 führ eine neuerliche Stärkung der französischen Eigenständigkeit in allen Politikfeldern geworden. Gleichzeitig betonte er jedoch, die Stärkung nationaler Entscheidungsmechanismen sei der Beginn einer neuen selbstbestimmten Zusammenarbeit zwischen den Völkern.

Zum Problem wurde allerdings die Frage, wie sich Mélenchon und LFI zur alles dominierenden innenpolitischen Debatte über Migration und den grundlegenden Werten der Französischen Republik  positionieren sollte. Hier neigten zahlreiche Aktivst*innen zu einer innenpolitisch immer dominanteren Logik, unter dem Schlagwort des Universalismus eine kulturelle Assimilation migrantischer Gruppen und ein hartes Vorgehen gegen vermeintliche, vor allen Dingen muslimische, „Parallelgesellschaften“ zu fordern. Für Mélenchon waren solche Positionen allerdings nicht tragbar. In seinem Verständnis gab es zwar eine Verpflichtung des Staates, die grundlegende Programmatik der französischen Nation zu vermitteln. Dies bedeutete aber nicht, ein unpolitisches Bekenntnis zur Ausübung  religiöser oder kultureller Praxen abzulehnen. Diese Positionen waren heftig umstritten. Dass Gegner*innen ohne jede transparente Debatte und Begründung innerhalb von LFI kaltgestellt wurden, führte zu einer Welle von Abgängen.

Fazit

Gegenwärtig zeichnet sich für Frankreich eine paradoxe Situation ab. Mehr denn je wird das Land durch soziale Proteste erschüttert, denen vonseiten der Staates mit aller Härte begegnet wird. Allerdings bleibt der politische Einfluss der Linken auf die neuen Protestbewegungen eher gering. Während der PCF nicht mehr über die Stärke verfügt, offensiv neue, auch akademisch prekäre Millieus nachhaltig einzubinden, stocken die Versuche von LFI sich nachhhaltig unter  Arbeiter*innen zu verankern . Allerdings scheinen LFI und sein Vordenker Mélenchon auch keine wirkliche institutionelle Verankerung anzustreben. Sogenannte Zwischenwahlen werden eher als Problem betrachtet. Eine Beteiligung von LFI an Lokalregierungen untergräbt den Status der Bewegung als Außenseiter, der die gärenden gesellschaftlichen Verhältnisse politisch artikuliert (Soubise 2020). Die Mobilisierung der Unterklassen soll in erster Linie erst wieder 2022 zur nächsten Präsidentschaftswahl erfolgen. Hier wird Mélenchon erneut versuchen zu kandidieren, und sich als zentrale, charismatische Führungsfigur zu präsentieren. LFI wird erneut einen Bewegungswahlkampf führen, der um seine Figur herum aufgebaut ist. Auch klassische linke Symbole werden dabei wieder fehlen. Programmatisch bleibt weiterhin das Programm von 2017, wenn auch in einer leicht überarbeiteten Form, maßgeblicher Bezugspunkt. Im Kern steht nach wie vor das Versprechen einer IV. Republik, die demokratischer ist und in der das staatliche Handeln der zentrale Faktor wirtschaftlicher und sozialer Entscheidungsfindung ist.

Die letzten Wahlergebnisse der Regional- und Départementswahlen zeigten allerdings erstaunlich stabile Ergebnisse der Sozialdemokratie und der rechtsbürgerlichen Republikaner. Die Sozialdemokratie deutet dies scheinbar als Zeichen der Stärke  und wirbt mit der Pariser Oberbürgermeisterin Anne Hidalgo. Auch die Grünen werden mit dem Europaabgeordneten Yannick Jadot eigenständig kandidieren. Inzwischen hat der PCF auch offiziell die enge Bindung an LFI aufgegeben und  strebt ebenfalls  eine  eigene Präsidentschaftskandidatur des Vorsitzenden Fabien Roussel an. Vieles deutet allerdings darauf hin, dass die neue Beinfreiheit eher dazu dient, wieder den Schulterschluss mit Sozialdemokraten und Grünen für den anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zu suchen. Es ist allerdings auch ein offenes Geheimnis, das einflussreiche Köpfe der Partei die Präsidentschaftswahlen als untergeordnetes Ziel betrachten. Sie arbeiten in erster Linie daraufhin, für die kommenden Parlamentswahlen eine möglichst große Fraktion der Partei zu ermöglichen. Diese Planungen stehen im Zeichen einer Stärkung der zerütteten Parteifinanzen. Auch ein erneuter Wahlsieg Macrons und die Fortsetzung seiner Aushöhlung des französischen Sozialstaats wird dabei in Kauf genommen.