Doch gerade diesen beweglichen Netzstrukturen, über die die neuen Machttechniken arbeiten, lässt sich nichtsdestotrotz auch das Potenzial für Formen der Kooperation zuschreiben, die dem kontrollgesellschaftlichen Zugriff entwischen. Und so muss die Antwort auf die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass das Internet eine durchkommerzialisierte und kontrollierte Sphäre wurde, zweitens auch auf die Frage zurück- und auf die Ambivalenz der neuen, beweglichen Infrastrukturen verweisen. Die Topologie und Funktion eines nicht-hierarchischen Netzwerks beschrieb Deleuze gemeinsam mit Felix Guattari affirmativ als Rhizom, als ein Wurzelgeflecht, das kein Zentrum besitzt, sondern sich in alle Richtungen ausbreitet, das verschiedenste Verknüpfungen, Formen und Verdichtungsgrade annehmen kann (vgl. Deleuze/Guattari 1977, 11) – was wiederum mit Deleuze‘ These über die Auflösung hierarchischer Institutionen innerhalb des Kontrolldispositivs korrespondiert, dessen Machttechniken er jedoch vehement kritisiert.
Eine solche Ambivalenz des Kontrolldispositivs zeigt sich in den Strukturen sogenannter sozialer Medien, die sich immer auch in Auseinandersetzungen und Kämpfen weiterentwickelten, deren Interfaces schließlich Spielräume und Vernetzungsmöglichkeiten eröffnen, die nicht vorgegeben sind, und die sich dennoch nicht im Sinne einer organizistischen Lesart des Internets der 1990er Utopien rein rhizomatisch verstehen lassen. Während Facebook mit der Grundregel, dass sämtliche Daten, die UserInnen eingeben, vom Unternehmen archiviert und kommodifiziert werden, ganz offenkundig zentralistisch strukturiert ist, kann das deleuzsche Konzept des Wucherns auch nicht auf die weniger offensichtliche, auf die binäre Logik, die zu Grunde liegt, übertragen werden. Und doch finden sich Kooperationsformen im und durch das Internet, selbst auf Facebook, neue Organisationsweisen, die sich fundamental unterscheiden von Systemen hierarchischer Kommunikation und von vornherein festgelegter Verbindungen (Deleuze/Guattari 1977, 35) und damit neue Erfahrungen von Kollektivität, von kollektiver Wirkungsmacht ermöglichen, die den Anrufungen als einzelne UnternehmerInnen effizienter Selbstdatierung entgegenstehen.
Ist von solch neuen Kollektivitätsformen die Rede, kommt schnell der libertäre Cyber-Traum von Bewegungen ohne AnführerInnen in den Sinn, die alle immer gleichermaßen sprechen und entscheiden lassen würden, jener Traum, der längst als naiv gilt. Doch unterscheiden sich, wie zum Beispiel Rodrigo Nunes schreibt (2014), jene neuen netzwerkartigen Bewegungen nicht etwa dadurch von Systemen hierarchischer Kommunikation, dass sie führungslos sind, sondern dadurch dass sie führungsvoll sind, dass sie mehrere wechselnde Führungsrollen haben, die sich spontan ergeben und die potentiell jede/r innerhalb des Kollektivs übernehmen kann – an dem wiederum potenziell jede/r teilhaben kann. Die netzwerkartigen Kommunikationsstrukturen ermöglichen eine neue Offenheit von Kollektivität: So können einzelne etwa wegen eines bestimmten, spontan formulierten Anliegens kooperieren, so formieren sich kurzfristige Bewegungen, ohne Mitgliedschaftsbestimmungen aufzustellen. Solche Formen der Kooperation finden sich nicht nur in selbst organisierten dezentralen Netzstrukturen, sondern entstehen auch auf eigentlich zentralistisch aufgebauten Seiten wie Facebook, dessen Interface wie bereits beschrieben gerade nicht darauf ausgelegt ist, Raum für politische Diskussionen und Kreativität zu schaffen. Doch viele UserInnen kommen den Anrufungen der Plattform, sich und das eigene Leben permanent zu vermessen und auszustellen, nicht nach, sondern nutzen Facebook, um den weitläufigen Kreis von »Freunden«, die eigenen, mit ein paar Klicks selbst geschaffenen Öffentlichkeiten über kulturelle und politische Veranstaltungen zu informieren, sie mit Meldungen und Meinungen zu mobilisieren und zu organisieren.
So etwa ist das Refugee Phrasebook entstanden: Ein Wörterbuch, das für Menschen auf der Flucht Floskeln zur Verständigung, wichtige Sätze für die medizinische Versorgung und juristische Bausteine für die Behörden bereitstellt, geschaffen ohne Geld, Verlag oder Druckerei. »Wer hilft mit?«, postete jemand Ende August auf Facebook und verlinkte auf ein Google Doc Sheet, ein Online Dokument, an dem beliebig viele gleichzeitig schreiben können, auf dem gerade erste Bausteine für einen Dialog zwischen Geflüchteten und HelferInnen gesammelt wurden. Mittlerweile listet das Booklet, das bereits in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Kroatien, Albanien, Slowenien und Griechenland verwendet wird, in 28 Sprachen Übersetzungen der häufigsten Sätze aus Medizin und Recht auf und wächst beständig. Wer etwas beigetragen oder entschieden hat, lässt sich nicht mehr ausmachen, editorische Kontrolle, AutorInnenschaft und Copyright gibt es nicht, Fehler verschwinden im Dunst der Schwarmintelligenz wie bei der Online-Enzyklopädie Wikipedia.
Ein weiteres, wenn nicht vielleicht das Beispiel einer neuen Kollektivität schlechthin ist Anonymous. In einer wiederkehrenden Selbstbeschreibung heißt es, Anonymous sei ein »Internet gathering« mit einer sehr loosen und dezentralen Kommandostruktur, das eher auf Basis von Ideen als auf der von Vereinbarungen oder Anweisungen operiere. Folglich entspricht Anonymous mit seinen diversen Untergruppen und Assoziierungen weder einer klassischen Organisation mit Statuten, Mitgliedschaften und formalen Hierarchien, noch anderen aktivistischen Gruppen, die beständige und identifizierbare Führungsfiguren haben. Im Fall der »Gatherings« von Anonymous treffen immer wieder verschiedene Individuen, Gruppen und Interessen aufeinander, deren einziges geteiltes Anliegen es ist, dass alle Menschen anonym im Netz kommunizieren können, darin liegt für die Gruppe das konstitutive Element. Anonymous selbst entsteht überhaupt erst und jedes Mal wieder im anonymen Austausch im Netz. Das erklärt die Diversität der Aktionen, die der Gruppe zugerechnet werden, und zeigt, wie wirkmächtig verteilte Führung sein kann (vgl. Apprich 2014; Wiedemann 2014)
Wenn dabei Entscheidungen über die weitere Gestaltung in offenen Diskussionsforen getroffen werden, die sich die UserInnen selber bauen, und für jene, die sich mit Software nicht oder weniger auskennen, die sich also mangels Fähigkeiten weniger beteiligen können, Tutorials angeboten werden, die wiederum in Kooperation derer erstellt werden, die sich schon besser auskennen, dann handelt es sich um Online-Praktiken der Kooperation, Inklusion, Transparenz und des Teilens, die sich ganz konkret und nicht nur symbolisch der Verwertungslogik des Kapitals entziehen. Es scheinen Momente der Solidarität auf, die den kontrollgesellschaftlichen Imperativen der Sichtbarkeit und Selbstvermarktung entgehen (Wiedemann 2014, 155).
Der Versuch, anonym zu kommunizieren und sich anonym zu organisieren, dient im Fall von Anonymous also nicht nur dazu, Zuschreibung unmöglich zu machen und damit Hierarchien und Muster von Ein- und Ausschlüssen zu vermeiden, sondern auch dazu, jene kontrollgesellschaftliche Rationalität zu stören, die veranlasst, dass die Nutzungsbedingungen von Social Media auf Authentizität und Kohärenz der Angaben der UserInnen, auf leichte Lesbarkeit ihrer Profile ausgerichtet sind. Anonymous lässt sich als Bewegung auch als das Bestreben einer öffentlichen Rückeroberung der Kommunikationsinfrastrukturen lesen, die das Grundrecht auf eine anonyme und vertrauliche Kommunikation wiederherzustellen sucht.
Ein Bestreben, das auch weitere Initiativen artikulieren. So entwickeln in den letzten Jahren immer mehr Kollektive Alternativen zu Facebook, wie etwa Diaspora, Appleseed, n+1, Crabgrass: Social Networking Sites, die ihre UserInnen nicht als unbezahlte ProduzentInnen ihrer eigenen dividuellen Verwertung behandeln. Die dafür über Open Source operieren, damit nachvollziehbar ist, was der Computercode tatsächlich macht, und ermöglicht wird, dass unterschiedliche Versionen entwickelt werden können; über offene Protokolle, damit andere Applikationen andocken können und Diversität entstehen kann; über dezentrale Speicherung, weil die Verteilung riesiger Datenmengen auf viele kleine Speicher das Risiko des Kontrollverlusts verkleinert und dabei viele ermächtigt, selbst zu bestimmen, wie sicher die Daten gelagert sein sollen; über gesicherte Verbindungen, indem die Kommunikation zwischen den Knoten verschlüsselt läuft; über Identitätsfreiheit und Anonymität sowie über die Definitionsmacht der UserInnen darüber, wen ein kommunikativer Akt erreichen soll (vgl. Leistert/Röhle 2011, 28). Diaspora ist wohl das erfolgreichste Projekt, an dem seit Jahren gemeinsam gearbeitet wird – und langsam gelingt es, Facebook UserInnen streitig zu machen, obwohl doch der Vorsprung im Silicon Valley enorm ist.