In kapitalistischen Gesellschaften wird gern die Geschichte von findigen Unternehmern erzählt, die sich mit brillanten neuen Geschäftsideen im harten Wettbewerb durchsetzen, um uns mit tollen neuen Produkten und Dienstleistungen zu erfreuen – und die dabei noch beträchtliche Gewinne erzielen. Mainstream-Ökonomen betrachten kapitalistische Volkswirtschaften als Räume, in denen Firmen bei der Produktion von Gütern oder dem Angebot von Dienstleistungen um die niedrigsten Kosten konkurrieren, bevor sie sie an die Verbraucher zu einem Preis verkaufen, der die Marktkräfte von Angebot und Nachfrage widerspiegelt. Das alles im Streben nach Profit.
Freie Märkte und Wettbewerb sind angeblich die Merkmale des Kapitalismus, die ihn einzigartig machen. Doch auch wenn Märkte, Preise und Wettbewerb seit dem Aufkommen des Kapitalismus immer wichtigere Bestandteile der Weltwirtschaft geworden sind, gab es sie alle schon lange vor dem Kapitalismus. Märkte gibt es schon, seit Menschen untereinander mit Waren und Dienstleistungen handeln. Geld ist ein politisches Konstrukt, das Jahrtausende alt ist. Und Wettbewerb ist etwas, das Menschen und die von ihnen geschaffenen Organisationen immer ausgemacht hat, seit den Anfängen der Menschheitsgeschichte.
Wettbewerb ist so erkennbar wichtig für die Menschheit, dass es völlig irrational erschiene, seine Notwendigkeit zu leugnen. Freie Märkte und Wettbewerb gehören zu den Grundlagen des Kapitalismus, aber sie bestimmen ihn nicht. Das, was den Kapitalismus definiert, ist Kapital.
Was genau ist also Kapital? Die meisten Menschen denken dabei an etwas Gegenständliches – einen Stapel Geldscheine oder Maschinenanlagen. Es ist unmissverständlich, was es bedeutet, wenn man im Kleingedruckten einer Werbeanzeige für eine neue Geldanlage liest: »Ihr Kapital ist möglicherweise gefährdet.« Es bedeutet, dass man Geld verlieren könnte. Ökonomen haben eine etwas kompliziertere Sichtweise auf Kapital. Sie verwenden den Begriff manchmal für Geld, manchmal für die Vermögenswerte eines Unternehmens und manchmal für das Eigenkapital einer Bank. Man könnte sagen, dass Mainstream-Ökonomen eigentlich keine kohärente Vorstellung davon haben, was Kapital überhaupt ist.[1]
Das »Kapital« in Kapitalismus hat allerdings eine andere Bedeutung als die, wie der Begriff üblicherweise in den Wirtschaftswissenschaften verwendet wird. Es meint eine Beziehung, die zwischen verschiedenen Gruppen besteht sowie zwischen realen Dingen, die diese Beziehung ausmachen. Um das zu verstehen, kann man den Begriff Kapitalismus mit dem Begriff Feudalismus vergleichen – die Bezeichnung für das Gesellschaftssystem, das dem Kapitalismus in weiten Teilen der Welt vorausging. Entscheidendes Merkmal des Feudalismus war die Beziehung zwischen Bauern und Aristokraten. Letztere besaßen alles Land, Erstere bearbeiteten es im Tausch gegen lebensnotwendige Dinge. Die Bauern hatten keine wirklichen Rechte, die Politik wurde von Grundbesitzern gemacht. Land war das wertvollste Gut in diesem System, und der Begriff Feudalismus bezieht sich sowohl auf die Bedeutung des Bodens oder Lehens (von lat. feudum), als auch auf die Vorherrschaft der Grundbesitzer in feudalen Gesellschaften.
Im Kapitalismus drückt sich der Reichtum einer Gesellschaft nicht in Form von Bodenreichtum aus, sondern als »eine ungeheure Warensammlung«.[2] Der Begriff Kapital bezieht sich auf die Ressourcen, die für die Produktion dieser Waren erforderlich sind (was Marx die Produktionsmittel nannte). Kapitalisten sind dabei jene Menschen, die all diese Ressourcen besitzen, und Arbeiter diejenigen, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft den Kapitalisten für ihren Lebensunterhalt zur Verfügung zu stellen, weil sie nicht über diese Ressourcen verfügen. Der Lohn, den diese Arbeiter erhalten, ist niedriger als der Wert der von ihnen im Laufe des Arbeitstags produzierten Waren – darin liegt die Quelle des Profits für den Kapitalisten und der Grund für die Ausbeutung des Arbeiters.
Der Kapitalismus wird im Kern durch diese Kluft definiert: die Kluft zwischen den Menschen, die alle für die Warenproduktion erforderlichen Mittel besitzen, und denen, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft an die Kapitalisten zu verkaufen, um genau diese Güter wiederum zu kaufen.[3] Die Interessen der beiden sind diametral entgegengesetzt.