Egal, ob die zu erbringenden Opfer benannt werden oder nicht, sie stehen durch die drastischen Kürzungen und hohen Zölle längst auf der Tagesordnung. Die entscheidende Frage ist, wie Regierungen diese Opfer rechtfertigen und durchsetzen. In dieser Hinsicht lässt sich Javier Milei als rechtsextremer Vorreiter autoritärer Experimente begreifen. Vom Krieg gegen die »Gender-Ideologie« bis zur Kürzung der Hochschulmittel, von der Verherrlichung der israelischen Zerstörung in Gaza bis zur Ablehnung einer unabhängigen Justiz zeigen neue autoritäre Regime, wie sich die Faschisierung heute besonders schnell und gezielt vorantreiben lässt.
Die Kettensäge ist in diesem Kontext mehr als eine Metapher. Sie steht für die Logik einer neuen Welle des anarcho-autoritären Neoliberalismus, die sich über Lateinamerika, Nordamerika und Europa hinweg ausbreitet. Als ständen sie im Bann eines viralen Memes scheinen selbst Politiker*innen des Mitte-links-Spektrums diesem Trend zu folgen. Erst letzten Monat brachte der britische Premierminister Keir Starmer die Idee eines »Projekt Kettensäge« ins Gespräch, das sich an Mileis rechtsextremem Angriff auf den öffentlichen Sektor orientiert, dabei jedoch, so Starmer, »radikale Ziele der gemäßigten Linken« realisieren wolle. Je weiter die Kettensägenlogik um sich greift, desto mehr wird eine Politik von patriarchaler Herrschaft, rassistischer Ausgrenzung, Ausplünderung und Gewalt gestärkt, deren Akteur*innen zunehmend international vernetzt sind.
Die Neue Rechte Internationale
Im Jahr 2024 verlagerte sich das Gravitationszentrum der Weltpolitik nicht nur weiter nach rechts, sondern, mit Milei, auch weiter in den globalen Süden. Am ersten Jahrestag seines Amtsantritts und unmittelbar nach Trumps erneutem Wahlsieg versammelte sich im Dezember 2024 die Führungsriege der extremen Rechten in Buenos Aires zur ersten argentinischen CPAC. »Wir könnten uns als rechte Internationale bezeichnen«, erklärte Milei in seiner Eröffnungsrede. »Mit Trump, Bukele und uns hier in Argentinien haben wir die historische Gelegenheit, einen frischen Wind der Freiheit in die Welt zu bringen.« Nayib Bukele, der amtierende Präsident El Salvadors, hatte kurz zuvor ein Abkommen mit der Trump-Administration unterzeichnet, wonach aus den USA abgeschobene Personen im Hochsicherheitsgefängnis CECOT (Centro de Confinamiento del Terrorismo; dt.: Zentrum zur Eindämmung des Terrorismus) untergebracht werden sollen, einer berüchtigten Anlage mit einer Kapazität von 40 000 Insassen.
Als neu ernannte Mitglieder der sogenannten «rechten Internationale» sprachen bei der CPAC unter anderen der Vorsitzende der spanischen Vox-Partei Santiago Abascal, der brasilianische Abgeordnete Eduardo Bolsonaro aus São Paulo (ein Sohn von Jair Bolsonaro), der chilenische Abgeordnete Fernando Sánchez Ossa, Lara Trump als Ko-Vorsitzende des Republikanischen Nationalkomitees, sowie die Politikerin Kari Lake aus Arizona. Ergänzt wurde das Aufgebot durch Online-Meinungsmacher wie Agustín Laje und Ben Shapiro. Steve Bannon und Jair Bolsonaro meldeten sich per Video zu Wort. In ihren Reden fehlte kein Reizwort aus dem Arsenal der extremen Rechten: Gender-Ideologie, LGBTQ+-Lobby, Kulturmarxismus, »woker« Extremismus, Migranteninvasionen, globalistische Machenschaften, zivilisatorischer Verfall. Indes schwang das Kollektiv im Konferenzsaal das Tanzbein zur ironischen Wahlkampfhymne Trumps – »YMCA«.
Schon in seiner Zeit als hitzköpfiger Fernsehkommentator mit Hang zu Schimpftiraden war Javier Milei ein glühender Verehrer Donald Trumps. Und inzwischen wird seine Bewunderung erwidert. Trumps »Lieblingspräsident«, wie er Milei nannte, war der erste ausländische Staatschef, der ihn nach den US-Wahlen in Mar-a-Lago besuchte. «Du hast in kürzester Zeit Großartiges geleistet», lobte Trump ihn in seiner ersten Rede nach der Wahl. Milei brüstete sich seinerseits: »Ich bin heute einer der beiden wichtigsten Politiker der Welt. Der eine ist Trump, der andere bin ich.« Diese gegenseitige Bewunderung hat sich mehrfach in konkrete politische Maßnahmen übersetzt. Zuletzt untersagte Trumps Außenminister Marco Rubio der ehemaligen argentinischen Präsidentin und erklärten Rivalin Mileis, Cristina Fernández de Kirchner, aufgrund von Korruptionsvorwürfen die Einreise in die USA.
Milei gewann die Wahlen in einer Phase explosiver postpandemischer Inflation, in der viele argentinische Arbeitnehmer*innen mehrere Jobs brauchten, um über die Runden zu kommen. Seine Agenda sah eine drastische Kürzung der Staatsausgaben, die Abschaffung öffentlicher Subventionen, die Senkung der Unternehmenssteuern und die Deregulierung von Märkten vor. Zwar hat er sein Wahlversprechen, die Zentralbank abzuschaffen, bislang nicht eingelöst, stattdessen stützt er jedoch den Wechselkurs des Dollars künstlich durch den Rückgriff auf deren Reserven, die sich aktuell auf dem niedrigsten Stand seit seinem Amtsantritt befinden. Aufgrund seiner Reformen müssen immer mehr Argentinier*innen sämtliche Ausgaben von den Lebensmitteln bis hin zur Miete über Kredite finanzieren. Die Betroffenen dieser Prekarität werden förmlich dazu gedrängt, sich an spekulativen Praktiken zu beteiligen. Die rigiden Sparmaßnahmen haben Armut und Privatverschuldung massiv ansteigen lassen. Dazu beigetragen haben insbesondere die Aufhebung von Preisobergrenzen (etwa für den öffentlichen Nahverkehr sowie Telefon- und Internetgebühren), sowie die Liberalisierung von Kreditkartenzinsen (die es Banken ermöglicht, höhere Gebühren für verspätete Zahlungen zu erheben). Unter Mileis Regierung stieg die Armutsquote um 10 Prozentpunkte auf mindestens 53 Prozent der Bevölkerung. Zwar behauptet die Regierung, diese Zahl sei inzwischen auf 38 Prozent gesunken. Tatsache ist jedoch, dass weiten Teilen der Bevölkerung immer mehr das Geld ausgeht, die Inflation sich bei grundlegenden Bereichen wie den öffentlichen Dienstleistungen und bei Lebensmitteln besonders stark bemerkbar macht und 93 Prozent der Haushalte inzwischen in irgendeiner Form verschuldet sind.
Derzeit bemüht sich die argentinische Regierung um ein neues Darlehen in Höhe von 20 Milliarden US-Dollar beim Internationalen Währungsfonds und verknüpft damit einen weiteren Zyklus staatlicher mit der wachsenden privaten Verschuldung im Land, wobei all dies auf Grundlage einer fortschreitenden Finanzialisierung des gesellschaftlichen Lebens geschieht. Die Rückzahlung von Staatsschulden muss in US-Dollar erfolgen, die wiederum in stark deregulierten Sektoren wie dem Bergbau (u.a. in der Lithium-Förderung), der Agrarindustrie und der Energiebranche erwirtschaftet werden sollen. In einem jüngsten Schritt erlaubte Mileis Regierung Jugendlichen ab 13 Jahren, in US-Dollar geführte Bankkonten zu eröffnen: Ein verlockendes, aber weitgehend symbolisches Angebot, da laut UNICEF die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen in Argentinien unterhalb der Armutsgrenze lebt.. Ähnlich wie in den USA ist das Projekt insbesondere unter Jungen und jungen Auf individueller Ebene begreift Milei unter dem Schlagwort »finanzielle Freiheit« sein Modell, welches insbesondere in seiner Aufgeschlossenheit gegenüber Kryptowährungen zum Ausdruck kommt Männern beliebt und trägt zur Konsolidierung einer neuen toxischen Form politisierter Maskulinität bei.
Jüngere Führungsfiguren der lateinamerikanischen «neuen Rechten» verstehen ihr weiteres Projekt als »Kulturkampf« und beziehen sich dabei auf das Konzept des »Stellungskriegs« des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci. Während Gramsci diesen Begriff allerdings nutzte, um den Widerstand gegen die kulturelle Hegemonie der kapitalistischen Klasse zu beschreiben, richtet sich dieser Kulturkampf gegen die wahrgenommene Hegemonie progressiver und linker Kräfte– gegen »progres« und »zurdos« wie Milei sie bevorzugt nennt – und greift feministische, queere, indigene und Menschenrechtsbewegungen sowie den gesamten öffentlichen Dienst an. Ganze Regierungsbehörden – das Ministerium für Nationale Sicherheit (unter Patricia Bullrich), das Ministerium für Humankapital (unter Sandra Pettovello) und das Ministerium für Deregulierung und Transformation des Staates (unter Federico Sturzenegger) – widmen sich nun der Aufgabe, die »inneren Feinde« zu bekämpfen, Proteste zu kriminalisieren und die Finanzierung für Wissenschaft, das öffentliche Bildungssystem, Menschenrechtsprogramme, Initiativen gegen geschlechterspezifische Gewalt und Suppenküchen zu streichen. Mileis libertäre »Revolution« höhlt den Staat von innen aus, zugunsten des Kapitals.
Indem Milei sofort radikal per Dekret regierte, testete er nicht nur die Grenzen der Exekutive. Ein regelrechter Schwall an Verordnungen gleich nach seiner Amtsübernahme – ein Vorgeschmack auf Trumps Vorgehen, das Steve Bannon als »flooding the zone« (dt.: die Überflutung der Zone) bezeichnete – machte den Weg frei für einen gewaltigen legislativen Erfolg: das Grundlagengesetz »Ley Bases« das rund ein halbes Jahr später vom Kongress verabschiedet wurde. Ein Element dieses Gesetzpakets sind die neuen Regelungen und Anreize für Großinvestitionen (Régimen de Incentivo a las Grandes Inversiones, kurz RIGI), die umfangreiche rechtliche Garantien sowie Steuer-, Zoll- und Wechselkursvorteile bei Großinvestitionen in Forstwirtschaft, Tourismus, Infrastruktur, Bergbau, die Tech-Branche und die Stahlindustrie vorsehen. Die Kettensäge trifft dabei jedwede Regulierung, die den Einfluss des Kapitals oder die Ausbeutung natürlicher Ressourcen einschränken könnte.