Der russische Angriffskrieg stellt die Linke vor neue Herausforderungen. Wie positioniert sie sich in den Wirrungen imperialen Aufrüstens, legitimer Selbstverteidigung und neuer Blockkonfrontation? Darüber sprachen Étienne Balibar, Silvia Federici, Michael Löwy und Marcello Musto.

 


Marcello Musto: Die russische Invasion der Ukraine hat die Brutalität des Krieges einmal mehr nach Europa gebracht. Nun steht die Welt vor dem Dilemma: wie umgehen mit diesem Angriff auf die ukrainische Souveränität? 


Michael Löwy: Solange Putin noch vorgab, die russischsprachigen Minderheiten in der Region Donezk zu schützen, hatte seine Politik zumindest den Anschein von Rationalität. Dasselbe lässt sich über seine Ablehnung der NATO-Osterweiterung sagen. Doch für seinen brutalen Überfall auf die Ukraine, mit all den bombardierten Städten, die Tausenden zivilen Opfern – darunter alte Menschen, Kinder… – gibt es keinerlei Rechtfertigung. 


Étienne Balibar: Der Krieg, der hier vor unser aller Augen tobt, ist ein „totaler“ Krieg. Ein Krieg der Zerstörung und des Terrors, geführt von der Armee eines übermächtigen Staates, dessen Regierung einen unumkehrbaren, imperialistischen Feldzug gegen den kleineren Nachbarn führt. Das dringlichste und unmittelbarste Gebot der Stunde ist, dass die Ukrainer*innen ihren Widerstand aufrechterhalten. Dafür müssen sie durch Taten unterstützt werden, nicht nur durch Sympathiebekundungen. Aber was für Taten? Hier beginnt dann die taktische Diskussion, also die Abwägung von Nutzen und Risiken von Verteidigung versus Angriff. Erst mal abwarten ist da keine Option.


Marcello: Vom berechtigten ukrainischen Widerstand einmal abgesehen stellt sich die ebenso entscheidende Frage, wie Europa es vermeiden kann, als Kriegspartei gesehen zu werden. Die europäischen Regierungen müssen stattdessen so effektiv wie nur irgend möglich zu einer diplomatischen Initiative beitragen, um die Kriegshandlungen zu beenden. In diesem Sinne ist auch die Forderung eines erheblichen Teils der Bevölkerung zu verstehen, dass Europa in diesem Krieg nicht partizipieren soll – ungeachtet der Kriegsrhetorik der letzten drei Monate. Der wichtigste Punkt ist hierbei, dass weiteres Leid der Bevölkerung verhindert werden muss. Denn es besteht die Gefahr, dass das Land, nachdem es bereits durch die russische Armee in Schutt und Asche gelegt wurde, in ein Waffenlager verwandelt und dauerhaft von der NATO mit Nachschub versorgt wird. Und dann im Namen von Washington, wo auf eine permanente Schwächung Russlands und eine größere ökonomische und militärische Abhängigkeit Europas von den USA gehofft wird, ein langwieriger Krieg geführt werden wird. Sollte dies eintreten, würde der Konflikt über die legitime Verteidigung der ukrainischen Souveränität hinausgehen. Diejenigen, die von Beginn an vor der gefährlichen Kriegsspirale gewarnt haben, die die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine vorantreiben würde, sind sich vollends im Klaren über die dort tagtäglich stattfindende Gewalt. Sie wollen mitnichten einfach die Bevölkerung der militärischen Übermacht Russlands überlassen. „Blockfrei“ bedeutet keineswegs Neutralität oder Äquidistanz, wie es in so manch einer verzerrten Darstellung behauptet worden ist. Es ist keine prinzipielle Frage des abstrakten Pazifismus, sondern vielmehr eine der konkreten diplomatischen Alternative. Das bedeutet, jede Handlung oder Erklärung sorgfältig zu prüfen: Bringt sie uns einen Schritt näher an das aktuell oberste Ziel, nämlich ernsthafte Verhandlungen einzuleiten, um Frieden zu erreichen? 


Silvia Federici: Ich sehe kein Dilemma: Russlands Krieg gegen die Ukraine ist zu verurteilen. Nichts kann die zerstörten Städte, das Töten Unschuldiger oder den Terror, unter dem Abertausende gerade gezwungen sind, zu leben, rechtfertigen. Durch diesen Akt der Aggression ist sehr viel mehr als nur die Souveränität der Ukraine verletzt worden. Ich stimme aber zu, dass wir auch die vielen Handlungen der USA und NATO kritisieren müssen, die dazu beigetragen haben, den Boden für diesen Krieg erst zu bereiten. Und auch die Entscheidung der USA und der EU, Waffen in die Ukraine zu liefern, denn das wird den Krieg auf unbestimmte Zeit verlängern. Die Waffenlieferungen sind nicht zuletzt auch deswegen abzulehnen, weil die russische Invasion hätte verhindert werden können, nämlich, wenn Russland die Garantie der USA erhalten hätte, dass die NATO nicht bis an die russischen Landesgrenzen ausgeweitet werden würde. 


Marcello: Seit Beginn des Krieges ist einer der Hauptdiskussionspunkte, welche Art der Hilfe die Ukraine erhalten solle, um sich gegen die russische Aggression zur Wehr zu setzen, ohne dass zugleich die Bedingungen für noch massivere Zerstörung und die internationale Ausweitung des Konflikts geschaffen werden. Dazu zählten in den vergangenen Monaten auch Präsident Selenskyjs Forderung einer Flugverbotszone über der Ukraine, der Umfang der Wirtschaftssanktionen gegen Russland und, noch wichtiger, die Frage der Waffenlieferungen an die ukrainische Regierung. Welche Entscheidungen wären eurer Meinung nach nötig, damit die Zahl der Opfer in der Ukraine so weit wie möglich verringert und eine weitere Eskalation des Konflikts verhindert werden kann?  


Michael: Es gibt vieles, was man an der heutigen Ukraine kritisieren kann: die Demokratiedefizite, die Unterdrückung der russischsprachigen Minderheit, der ‚Okzidentalismus‘ und vieles mehr. Und doch haben die Ukrainer*innen jedes Recht, sich gegen die russische Invasion ihres Landes – und die brutale, kriminelle Missachtung ihres Rechts auf nationale Selbstbestimmung – zu verteidigen. 


Étienne: Ich würde sagen, der Kampf der Ukraine gegen die russische Invasion ist im rechtsgeschichtlichen Sinne ein bellum justum, also ein „gerechter Krieg“. Mir ist sehr wohl bewusst, dass dies eine fragwürdige Kategorie ist und dass die Geschichte dieser Begrifflichkeit im Westen alles andere als unproblematisch ist. Und doch fällt mir kein passenderer Ausdruck ein. Ich will ihn mir also aneignen und dabei unterstreichen, dass in meinen Augen ein „gerechter Krieg" einer ist, bei dem es nicht ausreicht, lediglich anzuerkennen, dass es legitim ist, sich gegen eine Aggression zu verteidigen – also das völkerrechtliche Kriterium. Sondern dass es auch notwendig ist, sich mit den Verteidiger*innen zu solidarisieren und Partei für sie zu ergreifen. Und schließlich es ist ein Krieg, bei dem man nicht die Wahl hat, passiv zu bleiben – auch nicht Menschen wie ich, für die jeder Krieg in der gegenwärtigen Weltordnung inakzeptabel und katastrophal ist. Die Konsequenzen einer solchen Passivität wären noch schlimmer. Auch wenn ich also dabei keine Begeisterung empfinde, so positioniere ich mich doch ganz bewusst gegen Putin.  


Marcello: Ich kann diese Perspektive gut nachvollziehen, würde aber stärker betonen, wie notwendig es ist, einen allgemeinen Flächenbrand zu verhindern, also wie dringlich ein Friedensabkommen ist. Je länger das ausbleibt, desto mehr wächst die Gefahr einer Ausweitung des Krieges. Es geht nicht darum, wegzuschauen und die Ereignisse in der Ukraine zu ignorieren. Aber wir müssen uns doch klarmachen, dass es illusorisch ist zu glauben, der Krieg gegen Putin – also gegen die Atommacht Russland, ein Land, in dem es im Übrigen derzeit keine nennenswerte Friedensbewegung gibt – könne gewonnen werden.  


Étienne: Ich habe große Angst vor einer militärischen – auch atomaren – Eskalation. Das ist ein Schreckensszenario, das ganz offensichtlich nicht auszuschließen ist. Dennoch ist Pazifismus keine Option. Es ist das Gebot der Stunde, die Ukraine in ihrem Widerstand zu unterstützen. Lasst uns also nicht schon wieder die alte Leier von der Nichteinmischung bemühen. Die EU ist ohnehin bereits am Krieg beteiligt. Auch wenn sie keine Truppen schickt, liefert sie doch Waffen – und ich denke es ist richtig, das zu tun. Es ist eine Form der Intervention. 


Marcello: Am 9. Mai 2022 billigte die Biden-Administration den Ukraine Democracy Defense Lend-Lease Act: Ein Paket aus mehr als 40 Milliarden Dollar an Militär- und Finanzhilfen für die Ukraine. Eine gigantische Summe, zu der außerdem noch die Hilfen aus verschiedenen EU-Ländern kommen. Und es scheint dabei um die Finanzierung eines langen andauernden Kriegs zu gehen. Biden selbst verstärkte diesen Eindruck noch, als er am 15. Juni ankündigte, dass die USA weitere Militärhilfen im Wert von einer Milliarde Dollar bereitstellen würden. Die immer umfangreicheren Lieferungen von Militärausrüstung durch die USA und die NATO ermutigen Selenskyj dazu, die dringend nötigen Gespräche mit der russischen Regierung immer wieder hinauszuschieben. Außerdem ist es eine legitime Frage, ob diese Lieferungen wirklich ausschließlich dazu benutzt werden, um die russischen Streitkräfte vom ukrainischen Territorium zu drängen, wenn man bedenkt, dass Waffen auch schon in der Vergangenheit in Kriegsgebiete geliefert und später vielfach von dritten Parteien für gänzlich andere Zwecke verwendet wurden. 


Silvia: Ich denke, das Sinnvollste, was die USA und die EU jetzt tun könnten, wäre Russland zu garantieren, dass die Ukraine kein Mitglied der NATO werden wird. Nach dem Fall der Mauer wurde dies Gorbatschow auch versprochen, allerdings niemals in schriftlicher Form. Leider besteht wenig Interesse daran, zu einer Lösung zu kommen. Viele Akteur*innen des militärischen und politischen Machtapparates der USA haben die Konfrontation mit Russland seit Jahren herausgefordert und sich darauf vorbereitet. Nun dient der Krieg der Rechtfertigung, die Ölförderung ohne Rücksicht auf die Erderwärmung drastisch auszuweiten. Schon jetzt hat Biden sein Wahlversprechen gebrochen, die Ölförderung auf indigenem Land zu beenden. Zu den größten Gewinnern dieses Krieges zählt also der militärisch-industrielle Komplex, der gerade durch die Umleitung von Milliarden Dollar gefördert wird. Frieden wird jedoch nicht durch eine Eskalation der Kampfhandlungen erreicht werden. 


Marcello: Nun zu der Frage, wie von Seiten der Linken auf die russische Invasion reagiert wurde. Manche Organisationen, wenn auch nur eine kleine Minderheit, begingen einen fatalen politischen Fehler, als sie sich weigerten, die „militärische Spezialoperation“ Russlands unmissverständlich zu verurteilen – ein Fehler, der, ganz abgesehen von allem anderen, auch die zukünftige Verurteilung von Aggressionen seitens der NATO oder eines anderen Akteurs sehr viel weniger glaubwürdig macht. Darin zeigt sich eine ideologisch eindimensionale Sichtweise auf Politik, als ob alle geopolitischen Fragen ausschließlich danach beurteilt werden müssten, ob sie auf die Schwächung der USA zielen. Gleichzeitig sind allzu viele andere auf der Linken der Versuchung erlegen, zu mehr oder weniger offen begeisterten Befürworter*innen dieses Krieges zu werden. Die Positionierungen der Sozialistischen Internationalen, der Grünen in Deutschland oder der wenigen progressiven Abgeordneten der Demokratischen Partei in den USA haben mich dabei nicht sonderlich überrascht – obwohl das plötzliche Überlaufen zum Militarismus von Leuten, die sich noch am Tag zuvor zum Pazifismus bekannt haben, immer etwas Schrilles und Überschäumendes an sich hat. Ich denke aber vor allem an bestimmte Kräfte auf der „radikalen“ Linken, die derzeit jegliche eigenständige Stimme inmitten des Pro-Selenskyj-Chors verloren haben. Ich denke, wenn progressive Kräfte sich nicht gegen Krieg positionieren, dann verlieren sie ein zentrales Element ihrer Daseinsbegründung und übernehmen im Endeffekt das Argument des politischen Gegners. 


Michael: Es ist kein Zufall, dass „radikale“ linke Parteien weltweit –auch solche, die als besonders sowjetnostalgisch gelten, wie die Kommunistischen Parteien in Griechenland oder Chile – in ihrer großen Mehrheit die russische Invasion der Ukraine verurteilt haben. Leider haben sich in Lateinamerika wichtige linke Kräfte und auch Regierungen, wie in Venezuela, auf die Seite Putins gestellt oder aber eine vermeintlich „neutrale“ Position eingenommen. Die Linke ist also vor die Wahl gestellt: entweder das Selbstbestimmungsrecht der Völker – das einst auch Lenin vertrat – oder das Recht von Imperien, andere Länder zu überfallen und zu annektieren. Man kann nicht beides haben, es sind unvereinbare Positionen. 


Silvia: In den USA haben Vertreter*innen sozialer und feministischer Organisationen wie Code Pink Russlands Aggression verurteilt. Gleichwohl ist angeprangert worden, dass die USA und die NATO die Demokratie sehr selektiv verteidigen. Man bedenke nur ihre Rollen in Afghanistan, im Jemen oder bei den Africom-Operationen in der Sahel-Region. Und die Liste ließe sich noch fortsetzen. Die Heuchelei der USA wird unter anderem daran ersichtlich, dass die US-Regierung im Falle der Ukraine von einer Verteidigung der Demokratie spricht, aber kein Wort über die brutale Okkupation Palästinas durch Israel verliert, oder über die permanente Vernichtung palästinensischer Leben. Darüber hinaus öffnet die USA ihre Türen für ukrainische Geflüchtete, während sie für Migrant*innen aus Lateinamerika verschlossen bleiben. Obwohl die Flucht aus deren Heimatländern für viele genauso eine Frage von Leben und Tod war und ist. Mit Blick auf die Linke als Ganzes ist es in der Tat schade, dass die institutionelle Linke – angefangen bei Alexandria Ocasio-Cortez – sich für Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen hat. Ich würde mir auch wünschen, dass die kritischen Medien genauer hinterfragen würden, was uns auf der institutionellen Ebene überhaupt erzählt wird. Zum Beispiel: Wieso „verhungert“ Afrika wegen des Krieges in der Ukraine? Welche internationalen Handelspolitiken haben afrikanische Länder überhaupt abhängig von ukrainischen Getreidelieferungen gemacht? Wieso wird in diesem Zusammenhang nicht auch der massive Landraub durch internationale Unternehmen erwähnt, der sogenannte „neue Wettlauf um Afrika“? Daher meine Frage: Wessen Leben werden wirklich als wertvoll und schützenswert erachtet? Und wieso lösen nur ganz bestimmte Formen des Todes Empörung aus? 


Marcello: Trotz der großen Unterstützung für die NATO in der Folge der russischen Invasion der Ukraine – bezeugt insbesondere durch die offiziellen Beitrittsgesuche Finnlands und Schwedens – ist es notwendig, noch vehementer gegen die allgemeine Vorstellung zu argumentieren, die größte und aggressivste Militärmaschine der Welt (NATO) könne zur Lösung globaler Sicherheitsprobleme beitragen. Denn die NATO hat sich wiederholt als gefährliche Organisation herausgestellt, die durch ihren Drang nach Expansion und unipolarer Dominanz weltweit Spannungen schürt, die letztendlich zu Kriegen führen. 

»Es ist schon sehr besorgniserregend, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine eine völlige Amnesie erzeugt hat, nämlich hinsichtlich des Expansionismus der NATO.« (Silvia Federici)

Allerdings erleben wir derzeit auch ein Paradoxon: Knapp vier Monate nach Kriegsbeginn stellen wir nämlich fest, dass Putin nicht nur auf eine falsche Militärstrategie gesetzt hat. Er hat letztlich auch eben jenen Feind – und insbesondere dessen Fähigkeit zur Herstellung eines internationalen Konsenses – gestärkt, dessen Einfluss er eigentlich zurückdrängen wollte: die NATO. 


Étienne: Ich bin ein Befürworter der Ansicht, dass die NATO mit dem Ende des Kalten Krieges, parallel zur Abwicklung des Warschauer Pakts, ebenfalls hätte aufgelöst werden sollen. Doch die NATO hatte nicht nur eine Funktion nach außen, sondern ebenso – womöglich sogar hauptsächlich – jene, das westliche Lager intern zu disziplinieren, um nicht zu sagen auf Linie zu bringen. Bei alledem geht es zweifellos um eine Form von Imperialismus: Die NATO ist eines der Instrumente, mit dem eine echte geopolitische Unabhängigkeit Europas vom US-Imperium verhindert wird. Das ist einer der Gründe, warum die NATO in der Folge des Kalten Krieges erhalten wurde. Und ich würde der Aussage zustimmen, dass die Konsequenzen dessen für die ganze Welt verheerend gewesen sind. Die NATO hat Diktaturen in ihrer eigenen Einflusssphäre gestützt. Sie hat Kriege gedeckt oder geduldet, in denen Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden. Was momentan wegen Russland passiert, hat meine Meinung über die NATO da nicht verändert.  


Michael: Die NATO ist eine imperialistische Organisation, die, dominiert von den USA, für zahllose Angriffskriege verantwortlich ist. Es ist eine grundlegende Aufgabe der Demokratie, dieses politisch-militärische Monster zu zerschlagen, das der Kalte Krieg einst hervorbrachte. Dass die NATO in den letzten Jahren immer schwächer wurde, veranlasste Frankreichs Präsident Macron noch 2019 zu der Aussage, das Bündnis sei „hirntot“. Unglücklicherweise hat Russlands verbrecherischer Überfall auf die Ukraine derselben Allianz nun neues Leben eingehaucht. US-Truppen sind in großer Zahl in Europa stationiert und Deutschland hat kürzlich Sonderausgaben für Aufrüstung im Wert von 100 Milliarden Euro beschlossen, obwohl es sich noch vor zwei Jahren weigerte, seine Militärausgaben zu erhöhen – und das trotz des unablässigen Drucks von Trump. Putin hat die NATO somit vor ihrem langsamen Niedergang, vielleicht sogar vor dem Zerfall, bewahrt. 


Silvia: Es ist schon sehr besorgniserregend, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine eine völlige Amnesie erzeugt hat, nämlich hinsichtlich des Expansionismus der NATO und ihrer Unterstützung für die imperialistische Politik der EU und der USA. Es wäre an der Zeit, die Erinnerungen an die NATO-Bombardierung Jugoslawiens, ihre Rolle im Irak sowie im gewaltvollen Auseinanderbrechen Libyens aufzufrischen. Die Beispiele, in denen die NATO ihre völlige und grundlegende Missachtung der Demokratie zum Ausdruck gebracht hat – dieses universalen Wertes, den sie nun zu verteidigen vorgibt – sind zu zahlreich, um sie überhaupt alle aufzuzählen. Ich glaube nicht, dass die NATO vor dem russischen Angriff auf die Ukraine wirklich dem Tode geweiht war. Ihr Durchmarsch in Osteuropa und ihre aktuelle Präsenz in Afrika deuten vielmehr auf das genaue Gegenteil. 

»Es bräuchte ein effektives System der internationalen Sicherheit – also eine demokratische Erneuerung der UN und die Abschaffung des Vetorechts im Sicherheitsrat.« (Etienne Balibar)

Marcello: Diese Amnesie scheint viele linke Kräfte, insbesondere mit Regierungsbeteiligung, befallen zu haben. In völliger Abkehr von ihren historischen Grundsätzen hat kürzlich die Fraktionsmehrheit des Finnischen Linksbündnisses dem NATO-Beitritt ihres Landes zugestimmt. In Spanien hat ein Großteil von Unidas Podemos in einen parlamentsübergreifenden Chor von Abgeordneten eingestimmt, die für die Lieferung von Waffen an die ukrainische Armee votierten und erteilten gleich noch ihre Zustimmung für die enormen Zuwächse der Rüstungsausgaben. Eine Partei, die nicht den Mut hat, ihre Stimme gegen solch eine Politik zu erheben, trägt letztlich nur zur Expansion des US-Militarismus in Europa bei. Für derart unterwürfiges politisches Verhalten sind linke Parteien in der Vergangenheit oftmals abgestraft worden sobald sich die Gelegenheit dazu bot, einschließlich an den Wahlurnen. 


Étienne: Es wäre das Beste für Europa, sein eigenes Territorium verteidigen zu können. Zudem bräuchte es ein effektives System der internationalen Sicherheit – also eine demokratische Erneuerung der UN und die Abschaffung des Vetorechts im Sicherheitsrat. Doch je stärker die NATO als Sicherheitsstruktur an Bedeutung gewinnt, desto mehr nimmt die der UN ab. Im Kosovo, in Libyen und insbesondere im Irak 2013 war es stets das Ziel der USA – und damit auch der NATO – die UN in ihrer Fähigkeit zur Vermittlung, Regulierung und Durchsetzung des Internationalen Rechts zu schwächen. 


Marcello: Zum Abschluss: Welchen Kriegsverlauf erwartet ihr und welche künftigen Szenarien haltet ihr für möglich?


Étienne: Die bevorstehenden Entwicklungen können uns nur zutiefst pessimistisch stimmen. Bei mir ist das jedenfalls so, und ich schätze die Chancen als sehr gering ein, dass eine Katastrophe noch abgewendet werden kann. Dafür sehe ich mindestens drei Gründe. Erstens: Eine weitere Eskalation ist wahrscheinlich, insbesondere wenn der Widerstand gegen die Invasion langfristig aufrechterhalten werden kann: Und eine solche Eskalation würde nicht bei konventionellen Waffen enden – auch weil ihre Abgrenzung zu Massenvernichtungswaffen ohnehin mittlerweile sehr unscharf geworden ist. Zweitens: Wenn der Krieg mit einem „Ergebnis“ endet, so wird dieses in jedem Falle desaströs sein. Es wäre natürlich fatal, sollte Putin sein Ziel erreichen und die Ukraine bezwingen. Das würde ihn nur zu weiteren, ähnlichen Vorhaben ermutigen. Dasselbe gilt, sollte er zum Rückzug gezwungen werden und die Welt zu einer Politik der starren Blockkonfrontation zurückkehren. Jedes dieser beiden Szenarien würde ein langanhaltendes Erstarken von Nationalismus und Hass mit sich bringen. Drittens: Der Krieg und seine Folgen blockieren die weltweite Mobilisierung gegen die Klimakatastrophe – ja sie beschleunigen sie sogar. Dabei ist bereits jetzt schon zu viel Zeit verschwendet worden. 


Michael: Ich teile diese Sorgen, vor allem mit Blick auf den nun verschleppten Kampf gegen den Klimawandel, der durch das Wettrüsten aller Länder, die durch den Krieg alarmiert worden sind, völlig in den Hintergrund gedrängt worden ist. 


Silvia: Auch ich bin pessimistisch. Die USA und andere NATO-Länder zeigen keinerlei Bereitschaft, Russland irgendwelche Garantien zu geben, dass die NATO sich nicht bis an die russischen Grenzen ausdehnen wird. Der Krieg wird also weitergehen. Und er wird verheerende Folgen für die Ukraine, Russland und weit darüber hinaus haben. Die kommenden Monate werden erst noch zeigen, inwieweit andere europäische Länder betroffen sein werden. Für die absehbare Zukunft kann ich mir kein anderes Szenario als einen fortdauernden, permanenten Kriegszustand vorstellen, der bereits jetzt in so vielen Teilen der Welt Realität ist. Dazu gehört die umfangreiche Verwendung öffentlicher Ressourcen für destruktive Zwecke, die so dringend im Bereich der sozialen Reproduktion benötigt würden. Mich schmerzt, dass es derzeit keine schlagkräftige feministische Bewegung gibt, die auf die Straße geht, streikt und fest entschlossen ist, für ein Ende aller Kriege zu kämpfen. 

»Die Linke sollte für eine diplomatische Lösung und gegen höhere Militärausgaben kämpfen. Die Kosten trägt nämlich letztendlich die arbeitende Bevölkerung« (Marcello Musto)

Marcello: Ich habe auch den Eindruck, dass der Krieg nicht so bald enden wird. Ein womöglich nicht perfekter, doch sofortiger Frieden wäre einer Verlängerung des Krieges sicherlich vorzuziehen. Doch es drängen zu viele Kräfte auf eine andere Lösung. Jedes Mal, wenn eine Regierung erklärt, man werde „die Ukraine so lange unterstützen, bis sie als klarer Sieger hervorgeht“, rückt die Aussicht auf Verhandlungen in weitere Ferne. Daher halte ich es für wahrscheinlicher, dass wir einer dauerhaften Verlängerung des Krieges entgegensehen. Eines Krieges, in dem die russischen Truppen einer ukrainischen Armee gegenüberstehen, die von der NATO ausgerüstet und indirekt unterstützt wird. Die Linke sollte hier unermüdlich für eine diplomatische Lösung und gegen höhere Militärausgaben kämpfen. Die Kosten hierfür trägt nämlich letztendlich die arbeitende Bevölkerung, sodass noch weitere wirtschaftliche und soziale Krisen befeuert werden. Sollte dies eintreten, dann werden Parteien der extremen Rechten davon profitieren, die jetzt schon in zunehmend aggressiver und reaktionärer Weise die europäische politische Debatte prägen. 


Étienne: Um eine konstruktive Lösungsperspektive aufzuzeigen, sollten wir für die Neuordnung Europas eintreten – und zwar unter Berücksichtigung der jeweiligen Interessen Russlands, der Ukraine und unserer eigenen. Und auf eine Art und Weise, bei der Fragen von Nation und Nationalität gänzlich neu gedacht würden. Noch ehrgeiziger wäre das Projekt, ein multilinguales, multikulturelles, weltoffenes Groß-Europa zu schaffen, anstatt die Militarisierung Europas zur wichtigsten Zukunftsaufgabe zu erklären – so alternativlos sie auf kurze Sicht auch erscheinen mag. Das Ziel wäre dabei nichts Geringeres, als einen clash of civilisations zu verhindern, dessen Epizentrum Europa ansonsten werden würde. 


Michael: Im Sinne einer positiveren Ambition schlage ich vor: Wir sollten ganz grundsätzlich ein anderes Europa und ein anderes Russland anstreben, nämlich jeweils von kapitalistischer, parasitärer Oligarchie befreit. Die Jaurès’sche Maxime, „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen“, ist aktueller denn je. Nur in einem anderen – postkapitalistischen, sozial-ökologischen – Europa, vom Atlantik bis zum Ural, können Frieden und Gerechtigkeit Wirklichkeit werden. Ob dies ein realistisches Szenario ist? Das liegt an jeder und jedem Einzelnen von uns. 


Aus dem Englischen von Jan-Peter Herrmann

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