Dass das Elektorat der Partei sich aus unterschiedlichen politischen Milieus zusammensetzt, ist nicht neu (Sinus 2021; Glauch u.a. 2021). Wie tief die Gräben zwischen unterschiedlichen Wählergruppen sind, konnte man bis zur Veröffentlichung der neuen Studien nur vermuten. Bedenklich ist, dass dieser Befund auch für die Stammwählenden gilt. Denn Die Linke hatte zum Zeitpunkt der Erhebung Ende 2021 gegenüber 2017 fast Hälfte ihrer Stimmenanteile verloren und war auf ihren Kern zusammengeschrumpft. Die Erwartung, dass in den nach der Wahl 2021 mit der Sonntagsfrage erfassten vier Prozent ein BSW-Abwanderungseffekt schon eingepreist war, so dass es danach eher aufwärtsgehen würde, hat sich als falsch erwiesen. Die Linke hat seitdem weitere Teile ihrer sozialkonservativen Wähler*innenschaft verloren und pendelt in Gesamtdeutschland um die drei Prozent. In Ostdeutschland sind die Verluste besonders groß. Bei den Wahlabsichten zeichnet sich hier teilweise eine Halbierung der Stimmenanteile ab.
Die sozialstrukturellen Gräben
Auch zur sozialen Herkunft der Wählenden der Partei geben die beiden Studien Auskunft. Der politischen Spaltung entspricht eine starke sozialstrukturelle Heterogenität. Nach Kriterien von Bildung und Einkommen ordnen Eversberg u.a. rund ein Drittel (32%) der Wählenden der Linken höheren sozialen Lagen zu, fast zwei Fünftel (38%) mittleren und etwa ein Fünftel (21%) unteren sozialen Lagen. Würde man daraus eine Figur skizzieren, so hätte sie dünne Beine mit einem dicken Bauch und einem dicken Kopf. Im Osten sind untere und mittlere Lagen stärker ausgeprägt. Demgegenüber liegt der Schwerpunkt der Grünen und der FDP bei höheren sozialen Lagen, der Schwerpunkt der AfD bei unteren sozialen Lagen. Die Linke ähnelt damit sozialstrukturell eher den beiden alten Volksparteien SPD und CDU als den anderen Parteien. Man kann deshalb auch von einer Mini-Volkspartei sprechen (Glauch u.a. 2021). Allerdings basiert der soziale Status des Elektorats der Partei Die Linke nach Eversberg eher auf Bildung als auf Besitz und die Beschäftigungsverhältnisse sind zum großen Teil direkt oder indirekt im öffentlichen Sektor angesiedelt, während sie bei den ehemaligen Volksparteien CDU und SPD stärker durchmischt sind.
Zwischen sozialer Lage und Einstellungsmustern gibt es einen Zusammenhang. Mau u.a. zeigen anhand von Berufsklassen und Bildungsabschlüssen, dass in den unteren Bevölkerungsschichten vermehrt die soziale Ungleichheit kritisiert wird, aber in der Umwelt- und Gleichstellungspolitik eher konservative Einstellungen bestehen (279ff). Eversberg kann dies für die ökologiepolitischen Einstellungen Wähler*innenschaft der Linken präzisieren. Die konservativen (besitzstandswahrenden) und defensiv-reaktiven (Ökologiepolitik ablehnenden) Mentalitäten haben ihren Schwerpunkt in mittleren und unteren sozialen Lagen. Das ökosoziale Spektrum findet sich dagegen überwiegend in höheren Schichten mit höheren Bildungsabschlüssen sowie direkt oder indirekt öffentlichen Beschäftigungsverhältnissen.
Hier bildet sich Eversberg zufolge eine gesellschaftlich relevante Konfliktlinie zwischen dem ökosozialen Spektrum einerseits und dem konservativen und defensiven Spektrum andererseits ab. Es geht dabei um die Notwendigkeit, die Reichweite und die Kosten einer ökologischen Transformation. Das ökosoziale Spektrum befürwortet tiefgreifende Eingriffe in die Wirtschaft auch unter den Bedingungen von Preissteigerungen und Jobverlust. Das konservative Spektrum erkennt den Klimawandel und den daraus folgenden Handlungsbedarf an, die Maßnahmen sollen jedoch den jeweiligen Lebensstandard nicht in Frage stellen. Das defensiv-reaktive Spektrum steht ökologiepolitischen Maßnahmen ablehnend bis feindlich gegenüber. Diese Haltungen haben nicht zuletzt mit der eigenen Lebenssituation und Betroffenheit zu tun - das Sein bestimmt das Bewusstsein. Die unteren Schichten der Klasse der Lohnabhängigen sind aufgrund ihrer sozialen Lage eher interessensorientiert, während die höheren Bildungs- und Einkommensschichten auf der Basis gesicherter Beschäftigungsperspektiven materialistisch und postmaterialistisch zugleich denken und wählen (können).
Diese Konfliktlinie spiegelt sich auch im Parteienspektrum wider (Abb. 2). So sind die Grünen die hegemoniale Vertretung des ökosozialen Milieus und die AfD die des defensiv-reaktiven (Ökologiepolitik ablehnenden) Milieus. Die Linke steht dazwischen und bedient beide Gruppen. Auf der einen Seite vertritt sie Milieus mit pro-ökologischen Einstellungen, auf der anderen Seite hat sie viele Wähler*innen mit ökologiepolitisch feindlichen Orientierungen. Sie erbt damit das Spannungsfeld zwischen den beiden Polen und die damit verbundenen Widersprüche. Bemerkenswert ist der Ost-West-Unterschied (Abb. 2). Während das Profil der Partei im Westen eher zum ökosozialen Pol kippt, liegt es im Osten relativ flach über allen Milieus.
Die Untersuchung des Wahlpotenzials
Die Erhebungen zur Studie von Mario Candeias fanden im September 2023, also vor der Gründung der BSW, aber während der öffentlich-medialen Diskussion um die Abspaltung, statt. Im Gegensatz zu den zuvor genannten Studien bezieht sie sich nicht auf das tatsächliche Wahlverhalten (Nachwahlbefragung) oder die Wahlabsicht (Sonntagsfrage), sondern auf Wahlpotenziale („Können Sie sich vorstellen, bei einer Bundestagswahl die Partei Die Linke zu wählen?“). 20 Prozent der Befragten bejahten dies, aber nur 3,6 Prozent hegten eine konkrete Wahlabsicht für die Partei.
Candeias fragt im Unterschied zu den beiden anderen Studien nicht nach sozial- und gesellschaftspolitischen Themen, sondern nach Einstellungen zur Arbeitswelt. Dabei wird deutlich, dass Forderungen nach Gleichstellung und gegen Diskriminierung in der Arbeitswelt im Wahlpotenzial der Partei eine wichtige Rolle spielen, ebenso wie die Forderung nach höheren Löhnen und Arbeitsplatzsicherheit. Bei diesen Themen sind keine Gräben zu finden, wie sie Mau u.a. sowie Eversberg u.a. in Bezug auf klassen-, identitäts- und umweltpolitischen Fragen beschreiben.
Trotz dieser Unterschiede müssen sich die Studien nicht widersprechen, weil sich die Fragen auf unterschiedliche gesellschaftlich Arenen (Betrieb versus Politik) beziehen. So steht eine Kritik an der Diskriminierung von Frauen oder Migrant*innen in der Arbeitswelt nicht unbedingt im Gegensatz zur Forderung nach einer weiteren Begrenzung des Zuzugs von Geflüchteten. Solche Positionen werden zunehmend von Personen mit Migrationsgeschichte geteilt. Die Befunde von Mau u.a. und Eversberg u.a. zur Spaltung zwischen progressiven und sozialkonservativen Teilen der Wähler*innenschaft werden also von Candeias‘ Studie nicht in Frage gestellt. Festzuhalten bleibt aber mit Candeias, dass die Einstellungen zur Arbeitswelt Brücken über die ideologischen Gräben im Elektorat der Partei bilden können, an denen die politische Arbeit anknüpfen kann.
Im Hinblick auf die sozialstrukturelle Lage kann Candeias neue und politisch wichtige Informationen zur Branchenzugehörigkeit des Potenzials der Partei Die Linke ermitteln (S.4). So arbeitet allein in den Sektoren Gesundheit und Pflege sowie Bildung und Erziehung fast die Hälfte (über 40 Prozent) der potenziellen Wähler*innen. Bei Personen mit einer konkreten Wahlabsicht sind es mit 63 Prozent fast zwei Drittel. Insgesamt dominieren in beiden Gruppen Tätigkeiten, die direkt oder indirekt dem öffentlichen Sektor zuzurechnen sind, ein Befund, der sich mit den Studien von Eversberg u.a. deckt. Diese Personen haben ein konkretes Interesse an einer besseren Finanzierung und dem Ausbau der Daseinsvorsorge, dem Kernpunkt des politischen Programms der Partei.
Bei den Einkommen kommt Candeias indes zu anderen Ergebnissen als Mau und Eversberg. Er zeigt, dass mit niedrigem Haushaltseinkommen die potenzielle Bereitschaft zur Wahl der Partei Die Linke zunimmt (Abb. 3). Dagegen kommen Studien zum konkreten Wahlverhalten (mit der Sonntagsfrage) regelmäßig zu dem Ergebnis, dass das Einkommen wenig Einfluss auf die Präferenz für die Partei hat (vgl. Glauch u.a. 2021). Wenn diese Ergebnisse zutreffen, hegen die unteren Schichten der Lohnabhängigen-Klasse mehr Sympathie (Potenzialfrage) für Die Linke als mittlere und höhere, wählen sie aber tatsächlich weniger (Sonntagsfrage). Dies könnte mit der generell hohen Wahlenthaltung, der geringen Durchsetzungsfähigkeit der Partei im Parlament, aber auch mit einem Unbehagen an progressiven gesellschaftspolitischen Inhalten zu tun haben.
Dieser Befund ist konsistent damit, dass die Wahlentscheidung für Die Linke mit sinkendem Bildungsgrad viel stärker abnimmt als das Wahlpotenzial (Abb. 3). Ganz eindeutig ist die Ausschöpfungsquote bei der Gruppe mit Hauptschulabschluss am kleinsten.