In der Partei Die Linke wird nach den Wahlniederlagen und der Abspaltung des BSW erneut kontrovers diskutiert, mit welchen Strategien welche Wähler*innen erreicht werden können und sollen. Drei neue Studien – von Mario Candeias, Dennis Eversberg u.a. sowie Steffen Mau u.a. – legen aus unterschiedlichen Perspektiven tiefe Gräben unter den Wählenden der Partei offen. Sie verlaufen insbesondere im Feld der Gesellschaftspolitik und Ökologie, während die Kritik an sozialer Ungleichheit breit geteilt wird. Die Studien unterscheiden sich in Fragestellungen, Reichweite und Ergebnissen, haben aber eine Schnittmenge in Bezug auf Elektorat und Wahlpotenzial der Partei Die Linke und geben wichtige Hinweise für Wege aus der Krise.[1]

Die politisch ideologischen Gräben 

Seit Ende 2023 sind drei große Studien zu politischen Einstellungen in Deutschland und zur (potenziellen) Wähler*innenschaft der Partei Die Linke erschienen. Die Arbeit von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser wurde unter dem Titel „Triggerpunkte“ veröffentlicht (Mau u.a. 2023). Sie untersucht Einstellungen zu vier Ungleichheitsarenen in Deutschland. Die zweite Studie von Dennis Eversberg, Linda von Faber und Matthias Schmelzer (Eversberg u.a. 2024) fokussiert auf sozial-ökologische Einstellungen und Mentalitäten. Beide Erhebungen wurden um die Jahreswende 2021/2022 (also nach der Bundestagswahl 2021 und der Diskussion um die Abspaltung des BSW) als repräsentative Bevölkerungsbefragung durchgeführt. Beide Untersuchungen erfassen. Wahlabsichten und können daher auch für Die Linke ausgewertet werden. Die dritte Studie von Mario Candeias untersuchte Ende 2023 im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung ausschließlich Wahlpotenziale der Partei (Candeias 2024). Die Ergebnisse der beiden erstgenannten Studien passen gut zusammen. Candeias Schlussfolgerungen zum Klassencharakter der Partei teilen wir nicht, seine Daten liefern aber wichtige Informationen für das Gesamtbild und für die politische Strategie.


Mau u.a. (2023) zufolge gibt es deutliche politisch-ideologische Gräben im Elektorat der Partei. Die Wissenschaftler untersuchen in ihrer Studie Einstellungen zur Umverteilungs- (Oben/Unten-Gegensatz), Gleichstellungs- (Wir/Sie-Gegensatz), Migrations- (Innen/Außen-Gegensatz) und der Ökologiepolitik (Heute/Morgen- Spannungsverhältnis). Dabei werden die Einstellungen der Befragten auf einer Achse von progressiven (also Gleichheit anstrebenden) bis konservativen (Hierarchien anerkennenden) Haltungen verortet. In allen vier Arenen der Ungleichheit werden die Einstellungsmuster der Wähler*innen der einzelnen Parteien ausgewiesen 


Bei Gleichstellungs-, Migrations- und Ökologiefragen zeigt sich das Elektorat der Partei Die Linke nach den Bundestagswahlen und parallel zur Diskussion um die Gründung einer Wagenknecht-Partei als stark gespalten bis polarisiert. Die Einstellungsmuster gehen hier viel stärker auseinander als bei allen anderen Parteien. Allerdings erstrecken sich konservative Einstellungen keineswegs konsistent über alle Politikbereiche. Gerade in bei Menschen mit geringen Bildungsabschlüssen sind die Einstellungen zwischen den Arenen nur schwach korreliert. Es besteht ein "ideologisches Patchwork” (Mau u.a. 2023). Einigkeit besteht dagegen in der Kritik an der sozialen Ungerechtigkeit (Oben/Unten), wo sich die Wähler*innen am progressiven - also nach mehr Gleichheit strebenden - Pol versammeln.

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Abb. 1: Einstellungen zu vier politischen Themen nach Parteipräferenz
 

Quelle Mau u.a. S. 361. “Die Höhe der Berge gibt die Häufigkeit der Einstellungen innerhalb des jeweiligen Elektorats wieder.” Hinweise zur Indexerstellung finden sich im Online-Anhang des Buches. 

Eversberg u.a. bestätigen diese Befunde im Rahmen einer großangelegten Untersuchung zu sozialökologischen Einstellungen und Orientierungen in Deutschland (Eversberg u.a. 2024). Sie unterscheiden empirisch zehn sozialökologische „Mentalitätstypen“, die jeweils grundlegende Haltungen zur eigenen Lebensweise, zu Gesellschaft und Natur zusammenfassen und bilden daraus drei große „Mentalitätsspektren“. Das erste, „ökosoziale Spektrum umfasst jene Mentalitäten, die eine sozial-ökologische Transformation grundsätzlich bejahen und unterstützen…“ (Hierzu zählen 28 Prozent aller Befragten; 45 Prozent des Elektorats der Partei Die Linke). Kennzeichen des zweiten, „konservativ steigerungsorientierten Spektrums sind konformistische Orientierungen, die auf den Erhalt des eigenen erreichten Wohlstandes gerichtet sind“ und Ökopolitik nur dann unterstützen, wenn sie das eigene Leben nicht in Frage stellt (alle: 36 Prozent; Die Linke: 25 Prozent). Das dritte, „defensiv-reaktive Spektrum“ umfasst „ablehnende, teils sogar feindliche Haltungen gegen sozial-ökologische und transformative Anliegen und die Wahrnehmung gesellschaftlichen Wandels als Bedrohung“ (alle: 26%; Die Linke: 21%). 


Damit ist das Elektorat der Partei in der Mitte gespalten. Die eine Hälfte vertritt pro-transformatorische und universalistische Politiken, die andere Hälfte nimmt kritische bis ablehnende Haltungen ein. Vertiefende Auswertungen zeigen, dass in Ostdeutschland die beiden veränderungsskeptischen Spektren im Elektorat dominieren (Abb. 2). In Großstädten wie Berlin mit starken und in Bundesländern wie Bayern mit schwachen Wahlergebnissen sind ökosoziale Mentalitäten dagegen anteilmäßig stärker vertreten. In den Großstädten liegt dies an den starken rot-grünen Milieus. In Bayern scheint es dagegen so etwas wie einen Diaspora-Effekt zu geben. Dort, wo Die Linke schwach ist, dominiert der ideologisch gefestigte Kern.

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Abb. 2: Sozialökologische Orientierungen im Elektorat der Partei Die Linke

Anteile sozialökologischer Spektren am Elektorat von Die Linke, AfD und den Grünen nach Eversberg u.a. 2024. Basis sind Sonderauswertungen der Forschergruppe für unsere Analyse.

Dass das Elektorat der Partei sich aus unterschiedlichen politischen Milieus zusammensetzt, ist nicht neu (Sinus 2021; Glauch u.a. 2021). Wie tief die Gräben zwischen unterschiedlichen Wählergruppen sind, konnte man bis zur Veröffentlichung der neuen Studien nur vermuten. Bedenklich ist, dass dieser Befund auch für die Stammwählenden gilt. Denn Die Linke hatte zum Zeitpunkt der Erhebung Ende 2021 gegenüber 2017 fast Hälfte ihrer Stimmenanteile verloren und war auf ihren Kern zusammengeschrumpft. Die Erwartung, dass in den nach der Wahl 2021 mit der Sonntagsfrage erfassten vier Prozent ein BSW-Abwanderungseffekt schon eingepreist war, so dass es danach eher aufwärtsgehen würde, hat sich als falsch erwiesen. Die Linke hat seitdem weitere Teile ihrer sozialkonservativen Wähler*innenschaft verloren und pendelt in Gesamtdeutschland um die drei Prozent. In Ostdeutschland sind die Verluste besonders groß. Bei den Wahlabsichten zeichnet sich hier teilweise eine Halbierung der Stimmenanteile ab.

Die sozialstrukturellen Gräben 

Auch zur sozialen Herkunft der Wählenden der Partei geben die beiden Studien Auskunft. Der politischen Spaltung entspricht eine starke sozialstrukturelle Heterogenität. Nach Kriterien von Bildung und Einkommen ordnen Eversberg u.a. rund ein Drittel (32%) der Wählenden der Linken höheren sozialen Lagen zu, fast zwei Fünftel (38%) mittleren und etwa ein Fünftel (21%) unteren sozialen Lagen. Würde man daraus eine Figur skizzieren, so hätte sie dünne Beine mit einem dicken Bauch und einem dicken Kopf. Im Osten sind untere und mittlere Lagen stärker ausgeprägt. Demgegenüber liegt der Schwerpunkt der Grünen und der FDP bei höheren sozialen Lagen, der Schwerpunkt der AfD bei unteren sozialen Lagen. Die Linke ähnelt damit sozialstrukturell eher den beiden alten Volksparteien SPD und CDU als den anderen Parteien. Man kann deshalb auch von einer Mini-Volkspartei sprechen (Glauch u.a. 2021). Allerdings basiert der soziale Status des Elektorats der Partei Die Linke nach Eversberg eher auf Bildung als auf Besitz und die Beschäftigungsverhältnisse sind zum großen Teil direkt oder indirekt im öffentlichen Sektor angesiedelt, während sie bei den ehemaligen Volksparteien CDU und SPD stärker durchmischt sind.


Zwischen sozialer Lage und Einstellungsmustern gibt es einen Zusammenhang. Mau u.a. zeigen anhand von Berufsklassen und Bildungsabschlüssen, dass in den unteren Bevölkerungsschichten vermehrt die soziale Ungleichheit kritisiert wird, aber in der Umwelt- und Gleichstellungspolitik eher konservative Einstellungen bestehen (279ff). Eversberg kann dies für die ökologiepolitischen Einstellungen Wähler*innenschaft der Linken präzisieren. Die konservativen (besitzstandswahrenden) und defensiv-reaktiven (Ökologiepolitik ablehnenden) Mentalitäten haben ihren Schwerpunkt in mittleren und unteren sozialen Lagen. Das ökosoziale Spektrum findet sich dagegen überwiegend in höheren Schichten mit höheren Bildungsabschlüssen sowie direkt oder indirekt öffentlichen Beschäftigungsverhältnissen.


Hier bildet sich Eversberg zufolge eine gesellschaftlich relevante Konfliktlinie zwischen dem ökosozialen Spektrum einerseits und dem konservativen und defensiven Spektrum andererseits ab. Es geht dabei um die Notwendigkeit, die Reichweite und die Kosten einer ökologischen Transformation. Das ökosoziale Spektrum befürwortet tiefgreifende Eingriffe in die Wirtschaft auch unter den Bedingungen von Preissteigerungen und Jobverlust. Das konservative Spektrum erkennt den Klimawandel und den daraus folgenden Handlungsbedarf an, die Maßnahmen sollen jedoch den jeweiligen Lebensstandard nicht in Frage stellen. Das defensiv-reaktive Spektrum steht ökologiepolitischen Maßnahmen ablehnend bis feindlich gegenüber. Diese Haltungen haben nicht zuletzt mit der eigenen Lebenssituation und Betroffenheit zu tun - das Sein bestimmt das Bewusstsein. Die unteren Schichten der Klasse der Lohnabhängigen sind aufgrund ihrer sozialen Lage eher interessensorientiert, während die höheren Bildungs- und Einkommensschichten auf der Basis gesicherter Beschäftigungsperspektiven materialistisch und postmaterialistisch zugleich denken und wählen (können).


Diese Konfliktlinie spiegelt sich auch im Parteienspektrum wider (Abb. 2). So sind die Grünen die hegemoniale Vertretung des ökosozialen Milieus und die AfD die des defensiv-reaktiven (Ökologiepolitik ablehnenden) Milieus. Die Linke steht dazwischen und bedient beide Gruppen. Auf der einen Seite vertritt sie Milieus mit pro-ökologischen Einstellungen, auf der anderen Seite hat sie viele Wähler*innen mit ökologiepolitisch feindlichen Orientierungen. Sie erbt damit das Spannungsfeld zwischen den beiden Polen und die damit verbundenen Widersprüche. Bemerkenswert ist der Ost-West-Unterschied (Abb. 2). Während das Profil der Partei im Westen eher zum ökosozialen Pol kippt, liegt es im Osten relativ flach über allen Milieus. 

Die Untersuchung des Wahlpotenzials 

Die Erhebungen zur Studie von Mario Candeias fanden im September 2023, also vor der Gründung der BSW, aber während der öffentlich-medialen Diskussion um die Abspaltung, statt. Im Gegensatz zu den zuvor genannten Studien bezieht sie sich nicht auf das tatsächliche Wahlverhalten (Nachwahlbefragung) oder die Wahlabsicht (Sonntagsfrage), sondern auf Wahlpotenziale („Können Sie sich vorstellen, bei einer Bundestagswahl die Partei Die Linke zu wählen?“). 20 Prozent der Befragten bejahten dies, aber nur 3,6 Prozent hegten eine konkrete Wahlabsicht für die Partei.

Candeias fragt im Unterschied zu den beiden anderen Studien nicht nach sozial- und gesellschaftspolitischen Themen, sondern nach Einstellungen zur Arbeitswelt. Dabei wird deutlich, dass Forderungen nach Gleichstellung und gegen Diskriminierung in der Arbeitswelt im Wahlpotenzial der Partei eine wichtige Rolle spielen, ebenso wie die Forderung nach höheren Löhnen und Arbeitsplatzsicherheit. Bei diesen Themen sind keine Gräben zu finden, wie sie Mau u.a. sowie Eversberg u.a. in Bezug auf klassen-, identitäts- und umweltpolitischen Fragen beschreiben. 


Trotz dieser Unterschiede müssen sich die Studien nicht widersprechen, weil sich die Fragen auf unterschiedliche gesellschaftlich Arenen (Betrieb versus Politik) beziehen. So steht eine Kritik an der Diskriminierung von Frauen oder Migrant*innen in der Arbeitswelt nicht unbedingt im Gegensatz zur Forderung nach einer weiteren Begrenzung des Zuzugs von Geflüchteten. Solche Positionen werden zunehmend von Personen mit Migrationsgeschichte geteilt. Die Befunde von Mau u.a. und Eversberg u.a. zur Spaltung zwischen progressiven und sozialkonservativen Teilen der Wähler*innenschaft werden also von Candeias‘ Studie nicht in Frage gestellt. Festzuhalten bleibt aber mit Candeias, dass die Einstellungen zur Arbeitswelt Brücken über die ideologischen Gräben im Elektorat der Partei bilden können, an denen die politische Arbeit anknüpfen kann.


Im Hinblick auf die sozialstrukturelle Lage kann Candeias neue und politisch wichtige Informationen zur Branchenzugehörigkeit des Potenzials der Partei Die Linke ermitteln (S.4). So arbeitet allein in den Sektoren Gesundheit und Pflege sowie Bildung und Erziehung fast die Hälfte (über 40 Prozent) der potenziellen Wähler*innen. Bei Personen mit einer konkreten Wahlabsicht sind es mit 63 Prozent fast zwei Drittel. Insgesamt dominieren in beiden Gruppen Tätigkeiten, die direkt oder indirekt dem öffentlichen Sektor zuzurechnen sind, ein Befund, der sich mit den Studien von Eversberg u.a. deckt. Diese Personen haben ein konkretes Interesse an einer besseren Finanzierung und dem Ausbau der Daseinsvorsorge, dem Kernpunkt des politischen Programms der Partei.


Bei den Einkommen kommt Candeias indes zu anderen Ergebnissen als Mau und Eversberg. Er zeigt, dass mit niedrigem Haushaltseinkommen die potenzielle Bereitschaft zur Wahl der Partei Die Linke zunimmt (Abb. 3). Dagegen kommen Studien zum konkreten Wahlverhalten (mit der Sonntagsfrage) regelmäßig zu dem Ergebnis, dass das Einkommen wenig Einfluss auf die Präferenz für die Partei hat (vgl. Glauch u.a. 2021). Wenn diese Ergebnisse zutreffen, hegen die unteren Schichten der Lohnabhängigen-Klasse mehr Sympathie (Potenzialfrage) für Die Linke als mittlere und höhere, wählen sie aber tatsächlich weniger (Sonntagsfrage). Dies könnte mit der generell hohen Wahlenthaltung, der geringen Durchsetzungsfähigkeit der Partei im Parlament, aber auch mit einem Unbehagen an progressiven gesellschaftspolitischen Inhalten zu tun haben.


Dieser Befund ist konsistent damit, dass die Wahlentscheidung für Die Linke mit sinkendem Bildungsgrad viel stärker abnimmt als das Wahlpotenzial (Abb. 3). Ganz eindeutig ist die Ausschöpfungsquote bei der Gruppe mit Hauptschulabschluss am kleinsten. 

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Abb. 3: Anteile der Linken-Wähler*innen an Einkommens- und Bildungsgruppen

 

Quelle: Links: Haushaltsnettoeinkommen und Bildungsgrad; Studie von Candeias (2024, 44). Rechts: Bildungsgruppen; Nachwahlbefragung bei der Bundestagswahl; Forschungsgruppe Wahlen 2021

Wir haben daher Zweifel an Candeias’ weitreichenden Schlussfolgerungen zur Klassenbasis der Partei: Ihm zufolge dominieren die unteren Einkommensgruppen, was die neue Zusammensetzung der Lohnabhängigen-Klasse mit eher weiblichen, migrantischen Beschäftigten und prekären Arbeitsverhältnissen widerspiegele. Candeias weist jedoch lediglich Anteile der Linken-Wählenden an Einkommensgruppen aus, nicht aber das Gewicht der Menschen mit unteren Einkommen als Teil des gesamten Wahlpotenzials oder des Elektorats. Eversberg u.a. dagegen ordnen in ihrer Studie nur rund ein Fünftel der Wähler*innenschaft der Partei Die Linke in Bezug auf Einkommen und Bildung unteren sozialen Lagen zu (siehe oben).

Strategien aus der Krise

Wir haben in diesem Beitrag drei neue und hochrelevante Studien zur politischen Kultur in Deutschland diskutiert, die sich in ihren Fragestellungen und Ergebnissen unterscheiden. Eversberg u.a. und Mau u.a. kommen in Bezug auf sozialökologische Orientierungen zu konträren Hypothesen. Während Letztere vor allem die Annahme eines Konsenses der Mehrheitsgesellschaft in vielen Einstellungsfragen favorisieren, nehmen Eversberg u.a. in der Tradition von Bourdieu stärkere Konflikte zwischen unterschiedlichen Klassenfraktionen an. Die Studie von Candeias fokussiert dagegen auf das linke Wahlpotenzial.


Uns interessiert hier vor allem die Wähler*innenschaft der Partei Die Linke und hier gibt es zwischen den drei Studien deutliche Schnittmengen. So zeigen sowohl Eversberg u.a. als auch Mau u.a. bei gesellschafts- und umweltpolitischen Themen starke Differenzen im Elektorat der Partei auf. Die Studie von Candeias fragt komplementär nach Einstellungen zur Arbeitswelt und kann hier eher die Gemeinsamkeiten der potenziellen Wähler*innen aufzeigen. Differenzen zu den beiden erstgenannten Studien ergeben sich allerdings aus der These, dass die unteren Schichten der lohnabhängigen Klasse in Elektorat und Wahlpotenzial der Partei dominant sind.


Nach unserer Diskussion der drei Studien halten wir fest, dass das Elektorat der Partei Die Linke politisch-ideologisch und sozialstrukturell gespalten ist. Bei gesellschafts- und umweltpolitischen Themen finden sich teilweise tiefe Gräben zwischen progressiven und konservativen Einstellungsmustern. Die progressiven Einstellungen haben ihren sozialstrukturellen Schwerpunkt in höheren, die konservativen in mittleren und unteren Bildungs- und Einkommensschichten der lohnabhängigen Klassen. Letztere bilden nur eine Minderheit im Elektorat der Partei.


Vor diesem Hintergrund können wir Candeias´ These einer von den unteren Einkommensschichten der Lohnabhängigen dominierten Klassenpartei nicht teilen. Wir haben es sozialstrukturell und politisch-ideologisch mit Angehörigen unterschiedlicher Fraktionen der sehr heterogenen Klasse der Lohnabhängigen zu tun. Die Mehrheit der höheren Bildungs- und Einkommensschichten innerhalb der Wähler*innenschaft verfolgt auf der Basis relativ gesicherter Beschäftigungs- und Lebensperspektiven sowohl materielle als auch post-materielle und universalistische Ziele. Die Mehrheit der neo-proletarischen Gruppen im Elektorat will aufgrund ihrer sozialen Lage in erster Linie die Arbeits- und Lebensbedingungen verbessern und zielt auf soziale Gerechtigkeit. Sozialökologische Transformationsprozesse werden hier mit Blick auf die eigene Lebenssituation eher kritisch beäugt. Zwischen den beiden Strömungen gibt es keinen antagonistischen Gegensatz, wohl aber politisch-ideologische Spannungen und Interessenskonflikte. Das einigende Band ist, wie Candeias zeigt, die Kritik an der sozialen Ungleichheit in der Gesellschaft und an den Arbeits- und Einkommensbedingungen im Betrieb. Wichtig ist auch der Hinweis auf das große, unausgeschöpfte Wahlpotenzial bei den unteren Einkommensgruppen.


Die Stimmenverluste zur Bundestagswahl von 2021, die sich seit der Abspaltung der BSW 2024 fortsetzen, verweisen auf eine dramatische Situation für Die Linke. Die Partei kann schon allein aus Überlebensinteresse nicht auf den neo-proletarischen und überwiegend sozialkonservativen Teil ihres Elektorats verzichten. Darüber hinaus ist es evident, dass ohne eine breite Wählerbasis in den unteren sozialen Schichten weder konkrete reformpolitische Schritte noch weiterreichende transformatorische Projekte durchgesetzt werden können. Die Studie von Candeias zeigt, dass dort ein großes Potenzial liegt. Eine wirksame Politik müsste zwei Kriterien erfüllen:


Erstens geht es um eine Schwerpunktsetzung bei den Inhalten. Ziel muss es sein, das Wahlpotenzial insgesamt mit sozial brennenden Themen anzusprechen und Sichtbarkeit zu erzeugen. Dafür sollten mit der sozialen Frage in Politik und Arbeitswelt die gemeinsamen Interessen und Werte in den Vordergrund gestellt werden. Hier liegt – wie oben gezeigt – das einigende Band. So liegen etwa gute Löhne, geringe Mieten und eine ausgebaute öffentliche Daseinsvorsorge und Infrastruktur im Interesse aller Wählenden.


Zweitens muss die Partei zeigen, dass sie auch in der Lage ist, bei diesen Themen politischen Druck zu machen und konkrete Erfolge zu erreichen, also mit und für die Menschen einen „Gebrauchswert“ zu erzielen. Letzteres ist viel schwieriger als die Diskussion um den richtigen Forderungskatalog. Aufgrund ihrer Mitgliederbasis in Landkreisen und Ortsverbänden kann Die Linke sich durch konkrete und kontinuierliche Arbeit vor Ort Alleinstellungsmerkmale – auch in Abgrenzung zum BSW – erarbeiten.


Eine Politik, die diese beiden Kriterien erfüllt, wird für die nationale, regionale und kommunale Ebene unterschiedliche Akzente setzen. Für eine übergreifende Fokussierung schlagen wir drei Schlüsselthemen vor: Erstens bezahlbares Wohnen, zweitens gute Löhne und Arbeitsbedingungen und drittens öffentliche Daseinsvorsorge und Verkehr. Das Entscheidende bei diesen Themen: Sie haben einen direkten Klassenbezug, sie lassen sich mit konkreter politischer Arbeit vor Ort verknüpfen (Gebrauchswert) und sie sind wichtige Teilaspekte der sozial-ökologischen Transformation. Durch die Fokussierung gewinnt die Partei an Profil, durch die konkrete Arbeit vor Ort Glaubwürdigkeit. 


Die Themenvielfalt der Partei lässt sich an diese Kernthemen andocken. So können die bestehende Werte- und Interessenskonflikte zwischen den Milieus entschärft und die Kräfte für eine gemeinsame Agenda gebündelt werden. Wer für Klimaschutz kämpft, kommt um die mietenpolitischen Kernfragen von energetischer Sanierung, Wärmewende und Leerstand nicht herum. Immerhin entfallen auf den Sektor Bauen und Wohnen rund 40% der deutschen CO2 Emissionen! Wer über den massiven Wohnungsleerstand und den Wegfall von Sozialwohnungen spricht, setzt der unsinnigen “Das Boot ist voll”- Mentalität etwas entgegen. Wer über Löhne und Arbeitsplätze redet, der muss über Care-Arbeit und schlechte Löhne in weiblich und migrantisch dominierten sozialen Berufen sprechen. Gleichzeitig geht es auch hier um Klimaschutz – ohne Beschäftigungssicherheit keine Transformation. Nicht zuletzt bilden eine gut ausgebaute Daseinsvorsorge und Infrastruktur – Krankenhäuser, Kitas, Schulen, ÖPNV – das Rückgrat für soziale Sicherheit. Sie sind das gesellschaftliche Eigentum der Menschen ohne Privateigentum. Diverse Studien zeigen, dass Investitionen in öffentliche Infrastruktur eine der wirksamsten Maßnahmen gegen das Erstarken rechter Parteien sind.


Was also wären strategische Schlussfolgerungen für die Partei? Entscheidend ist aus unserer Sicht, dass die Argumentationslinien immer wieder auf die Schlüsselthemen zurückgeführt werden und Ansatzpunkte für eine konkrete, umsetzungsorientierte Politik finden. Das schärft das Profil und schafft Alleinstellungsmerkmale. Ziel der Partei muss es sein, auch in den sozialkonservativen Milieus Ansprechpartner zu sein, Vertrauen zu schaffen und Zustimmung zu gewinnen. Nur dann kann Die Linke wieder stärker werden und nur dann kann eine sozial-ökologische Transformation überhaupt gelingen.

[1] Wir danken Mario Candeias, Thomas Goes, Linus Westheuser u.a. für kritische Kommentare. Dennis Eversberg hat mit uns Vorarbeiten zu diesem Essay diskutiert und uns Sonderauswertungen aus seiner Studie für Ost- und Westdeutschland, Berlin und Bayern zur Verfügung gestellt.

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