Die größten Herausforderungen für Organisationen kommen nicht aus Krisen, sondern aus Erfolgen. Die Linke befindet sich derzeit in einem Erneuerungsprozess, indem sich die Partei ebenso schnell verändert, wie neue Mitglieder Anfang des Jahres eingetreten sind. Ihre Weiterentwicklung ist kein Selbstläufer, sondern braucht strategische Steuerung. Wir möchten hier einen Blick auf die Genese des Erneuerungsprozesses werfen, mögliche Problemfelder skizzieren und Vorschläge anbieten, wie die weitere Parteientwicklung gelingen kann.
Die größten Erfolgschancen sehen wir darin, die innere Verfasstheit und die Strategiefähigkeit der Partei zuallererst vor Ort weiter aufzubauen. Durch eine systematische Mitglieder- und Organisationsentwicklung, besser bekannt als Organizing, kann dieses Vorhaben gelingen. Dazu müssen wir unser Verständnis von politischer Aktion und der dafür notwendigen Mobilisierung, des Organisationsaufbaus und des Durchsetzens von politischen Forderungen neu zueinander ins Verhältnis setzen. Parteiaufbau, Mobilisierung und die Durchsetzung konkreter politischer Forderungen betrachten wir als drei Punkte eines Kreises bzw. eines Organizing-Prozesses, und nicht als parallele Dimensionen oder gar als verschiedene Wegrichtungen desselben Ausgangspunktes. Zuallererst jedoch braucht es die dauerhafte Bereitschaft, Menschen außerhalb des eigenen Referenzrahmens anzusprechen, ihnen zuzuhören, sich auf sie einzulassen und sich verbindlich mit ihnen zu organisieren. Aber wagen wir zuerst einen Blick zurück.
Wer ist die Partei Die Linke?
Die Linke hat sich bekanntlich 2007 aus den beiden Quellparteien – der vorrangig ostdeutschen PDS und der vorrangig westdeutschen WASG – gegründet. Zu diesem Zeitpunkt zählte sie etwa 71 000 Mitglieder. Davon waren 71 Prozent auf dem Gebiet der ehemaligen DDR (inklusive Westberlin) zu Hause, 29 Prozent wohnten in den sogenannten alten Bundesländern. Nach den ersten Jahren der Euphorie und Erfolge, die sich in Wahlergebnissen und Mitgliederzahlen niederschlugen, wurden verschiedenste Bruchstellen immer deutlicher sichtbar. Bei allem guten Willen und gemeinsamen Grundverständnis gehörten seit spätestens 2009 interner Streit und massive parteiinterne Machtkämpfe zu einem Markenkern der Linken. Mitgliederverlust und schlechtere Wahlergebnisse kamen im Gepäck. Ab dem Jahr 2015 setzte jedoch eine Stabilisierung und seit 2017 teilweise sogar eine Trendwende ein. Die Parteiführung mit Katja Kipping und Bernd Riexinger als Parteivorsitzende konnte die Partei ein Stück weit zusammenführen, während sich die äußeren Bedingungen zuspitzten: Die AfD wurde in den Bundestag gewählt, ein Jahr zuvor wurde Trump Präsident der USA, rechtsterroristische Anschläge wie in Halle und Hanau erschütterten die Gesellschaft. Jedes dieser Ereignisse und jede Wahl führte zu kleineren und größeren Eintrittswellen in Die Linke, die auf den ersten Blick nicht auffallen, da sie durch die Sterberaten der überalterten ostdeutschen Mitgliedschaft und die vielen Austritte unsichtbar werden. Ein neu eingetretenes Mitglied verblieb zu diesem Zeitpunkt durchschnittlich nur drei Jahre in der Partei. Das lag vor allem an fehlender Willkommenskultur, aber ebenso auch am Unwillen, Neue zu integrieren, denn sie konnten schnell den ständigen Machtkampf in die eine oder andere Richtung verschieben. Wer nicht in einer Strömung andocken konnte oder wollte, verließ meist die Partei wieder frustriert.
Nach der Bundestagswahl 2021 spitzten sich die internen Konflikte in der Partei zu, die Umbrüche in der Mitgliedschaft beschleunigten sich. Den Zersetzungsbestrebungen des Wagenknechtflügels begegneten die damaligen Parteivorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan nach unendlichen Vermittlungsbemühungen mit einer konsequenten Abkehr und proklamierten, »Die Zukunft der Linken ist eine Zukunft ohne Sahra Wagenknecht«. Auf dem Tiefpunkt der Mitgliederentwicklung und öffentlichen Wahrnehmung, Die Linke hatte nur noch knapp 50 000 Mitglieder und errang in der Folge bei der Europawahl nur noch 2,7 Prozent, ermöglichten sie der Partei, sich aus der Krise herauszuarbeiten. Aus der Partei Die Linke wurde Die Linke Partei. Mit dem Plan 2025 legten die damaligen Vorsitzenden einen Aufbauplan vor, der bestehende Organizing-Ansätze weiter stärkte und mehr Ressourcen zur Verfügung stellte. Dank dieser wesentlichen Weichenstellungen konnten die im Oktober 2024 gewählten Vorsitzenden Ines Schwerdtner und Jan van Aken den Ball aufnehmen und gemeinsam mit einer wegweisenden Social Media Kampagne, der mitreißenden Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek und mit den »Silberlocken« angesichts eines beispiellosen Rechtsrucks und einer geschlossen agierenden (gesellschaftlichen) Linken, die Partei mit einem fulminanten Ergebnis im Februar 2025 über die Ziellinie der Bundestagswahl bringen. In einer historisch einzigartigen Alles-oder-Nichts-Situation haben über 4 Millionen Menschen Die Linke gewählt, mehr als 60 000 Genoss*innen sind eingetreten. Unsere Partei hat jetzt einen jüngeren Altersschnitt als die Gesellschaft, wird von mehr weiblichen, queeren und trans Genoss*innen geprägt als vorher.
Problemzonen einer Partei im Umbruch
Seit ihrer Gründung im Jahr 2007 ist Die Linke als Organisation im Umbruch. Doch noch nie war dieser so massiv und umfassend wie jetzt. Aktuell befindet sich die Partei in einem Werde-Prozess, der die Chance bietet, eine gesamtdeutsche linke Partei hervorzubringen, aus Jung und Alt, in der Stadt und auf dem Land, die sich zeitgemäß organisiert und eine strategische Kompetenz und diskursive, organisatorische und parlamentarische Handlungsfähigkeit erlangt. Allerdings birgt dieser Weg auch Gefahren. Konkret möchten wir drei Problemfelder herausheben und im Anschluss strategische Vorschläge machen.
Kulturelles Unbehagen
Ein massiver Umbruch birgt auch Risiken, die durch den Blick auf die Eintrittszahlen schnell übersehen werden. Mit der neuen Zusammensetzung der Mitgliedschaft geht auch ein dringend notwendiger Kulturwandel einher. Ohne bewusste Steuerung, kann dieser dazu führen, dass die verbliebenden Kernaktiven und Funktionäre sich nicht mehr und gleichzeitig viele neue Kernaktive und (potenzielle) Funktionäre sich noch nicht wohl in der Partei fühlen. Die einen haben eine kulturelle (politische) Heimat verloren, die anderen haben sie noch nicht gefunden.
Bis 2021 bestand Die Linke mehrheitlich aus Gruppen von Menschen, die geschlossen in die Partei kamen und diese vor Ort kulturell und politisch übernehmen und prägen konnten. Spätestens seit der Bundestagswahl 2021, und beschleunigt seit Februar 2025 treten neue Mitglieder ein, die nicht in Gruppen kommen, die vielfach eine eigene, aber eben keine gemeinsame Organisationserfahrung mitbringen. Mehr als die Hälfte aller Mitglieder sind erst in diesem Jahr eingetreten. Neue und alteingesessene Mitglieder kommen jetzt in den Gliederungen zusammen und sind erstmal kulturell befremdet voneinander. Sie teilen weder eine Organisationskultur, noch die vielen feinen Selbstverständlichkeiten. Ohne einen bewussten Prozess der Organisationsentwicklung, der auch das kulturelle Miteinander adressiert, können Unterschiede als Angriff oder Defizit wahrgenommen werden. Das geschieht etwa, wenn durch die Neuen ganz selbstverständlich Anglizismen und Ausdrucksweisen wie sie in einer chattenden Kultur gängig sind, benutzt werden oder andersherum, wenn Alteingesessene in einer sehr ausführlichen Denk- und Sprechweise sich heutzutage unüblich raumnehmend verhalten. Die einen haben die Behäbigkeit einer Massenorganisation internalisiert, kennen aber dafür die schwierigen Skaleneffekte in eben dieser, während viele Neuere die Hemdsärmel schnell hochgekrempelt haben, aber erst im dritten Schritt überblicken, dass ihre Kommunikations- und Arbeitsweisen eben der Skalierung auf 100 000 Mitglieder nicht standhalten.
Aktiv an der Organisationskultur zu arbeiten, ist für die Organisationsentwicklung zentral, weil sie den Mitgliedern Handlungssicherheit und ein Zugehörigkeitsgefühl vermittelt:
»Organisationskulturen beantworten die Fragen ›Wer sind wir?‹ und ›Wie erledigen wir hier Dinge?‹ Sie bevorzugen bestimmte Strategien und Taktiken und verhindern andere. […] Dieser Prozess bezieht gemeinsam verstandene Bedeutungen, Normen, Praxen mit ein […] und beinhaltet mehr als der Ansatz des ›Framings‹ in sozialen Bewegungen.« (Swarts, 2008, Übers. d. Verf. )
Entsteht keine geteilte Kultur, fällt auch gegenseitiges Vertrauen schwer. In der Folge sind Organisationen in der Regel nicht erfolgreich (Diani 1997). Kultur und Vertrauen machen Mitglieder in den Gliederungen der Linken oft an der »Atmosphäre« fest und treffen damit einen auch soziologisch begründeten Nerv. Die Atmosphäre in unserer Partei ist genauso wichtig wie die formalen Regeln, weil sie informelle »Regeln der Interaktion« (interaction rules) bzw. ein »anspruchsvolles Set von normativem Deutungen« (sophisticated set of normative understandings) (Polletta, 2002) schafft.
Diese ungeschriebenen Regeln haben einen großen Einfluss auf Erfolg oder Misserfolg der Linken vor Ort. Verstehen wir uns nicht (mehr), wird dies selten als das interpretiert, was es ist: organisatorische, kulturelle Schwäche. Stattdessen schieben wir das Problem auf die inhaltliche Ebene, auf der ein gemeinsames Verfahren existiert: Reden, Anträge, Abstimmungen. Ausgehend von kulturellem Unbehagen fühlt sich jedoch jeder und jede inhaltlich zu wenig verstanden und von den falschen Genoss*innen (falsch) repräsentiert, obwohl der Grund des Unwohlseins in der Verfasstheit der Organisation liegt. Durch die Verlagerung der Probleme in die inhaltlichen Debatten wird diese immer vielschichtiger und immer schwerer zu verstehen. Die teilnehmenden Mitglieder spüren, dass andere Dinge (mit)verhandelt werden und reagieren mit Misstrauen, da dieses Andere nicht transparent dargelegt wird. Ein Teufelskreis, der sich in zahllosen Verbänden der Linken im Konflikt mit Anhänger*innen von Sahra Wagenknecht beobachten ließ und auch bei aktuellen Konfliktthemen wiederholt auftritt.
Wissens- und Organisationslücken
Sehr viele hinzu gekommene Mitglieder bringen zwar oftmals politische Erfahrung mit, kennen aber Parteiorganisationen nur wenig, die zwei besondere Herausforderungen mit sich bringen:
- Jede organisationspolitische Maßnahme muss skalieren können, so dass sie für den Kreisverband Nordoberpfalz funktioniert, aber auch für den Bezirksverband Neukölln. Die Linke hat 320 Kreisverbände und aktuell 114 655 Mitglieder – allein die Kommunikation und Abstimmung in einer Massenorganisation braucht einen guten Plan. Schnell mal anrufen funktioniert für eine parteiweite Kommunikation ebenso wenig, wie schnell mal in Chatgruppen Bescheid geben.
- Die Linke ist eine Partei – daraus resultiert die Aufgabe, zu Wahlen anzutreten. Sie spielen eine gewichtige Rolle in der Arbeit, aber eben auch nicht die alleinige. Wahlkämpfe sind eingebettet in politische Kampagnen, Aktionen vor Ort, strategischer Arbeit nach Innen und Außen zur Verschiebung und Beeinflussung von Diskursen in der Öffentlichkeit und zur Herstellung von parteiinterner Klarheit und Geschlossenheit und kommunalpolitischer Intervention. Diese Partitur zu beherrschen ist weitaus schwieriger als den Sopran sicher singen zu können.
Eine Demonstration zu organisieren oder daran teilzunehmen ist etwas anderes, als einen Wahlantritt vorzubereiten. Aufstellungslisten, Vertreterversammlungen, Easyplates, Mapping und Canvassing – allein das Vokabular zu verstehen und zusätzlich noch handlungssicher in der Organisation zu sein, braucht meistens eine Wahlperiode, die ja für Parteiämter immerhin zwei Jahre dauert. Fehlt die Integration vom existierenden Wissen mit dem neu hinzugekommenen Wissen, funktionieren in der Folge die Basics vor Ort nicht mehr – jede Veränderung ist unter solchen Bedingungen schwierig umzusetzen. Gleichzeitig gibt es aber auch keinen Weg zurück: Die Integration neuer Mitglieder in die althergebrachten Strukturen und Arbeitsweisen kann wiederum nicht funktionieren, da diese ebenso zerrüttet, überaltert, durch Austritte und Abspaltung kaputtgegangen oder schlicht inexistent sind. Eine Partei, in der neue Mitglieder nach drei Jahren Mitgliedschaft immer noch das Gefühl haben, die Neuen zu sein, muss dringend erneuert werden. Wir brauchen eine Organisation, bei der die neuen Mitglieder bereits nach dem ersten Treffen motiviert und inspiriert nach Hause gehen, mit Vorfreude auf das nächste Parteitreffen warten und wissen, wann und wo sie mittelfristig ihre Fähigkeiten ausbauen können, um mehr Verantwortung zu übernehmen.
Eine Erneuerung, vielmehr eine Neuerfindung der Arbeit der Partei vor Ort ist daher notwendig, überfällig und sogar unausweichlich. Das stellt die kleinere, länger bestehende Mitgliedschaft vor die Herausforderung, ihr Wissen weiterzugeben, mit der Bereitschaft und dem Wissen, dass alles davon hinterfragt (werden muss) und gegebenenfalls verändert wird – inklusive der eigenen Position. Die neue Mitgliedschaft wiederum steht vor der Herausforderung, existierende Praxen und Arbeitsweisen in der Partei (oder die Reste davon) zu verstehen, zu hinterfragen, zu prüfen und in der Folge zu verändern, statt vermeintlich abzukürzen und alles Althergebrachte naserümpfend als untauglich zu disqualifizieren. Eine solche, vermeintlich disruptive Erneuerung[1] einer Organisation wäre nichts anderes, als die restlose Zerstörung dieser jetzt schon im Kern erschütterten Organisation, die mit einem immensen Wissensverlust einherginge. Dieses Wissen wieder aufzubauen, wird auf Grund der Länge von Legislatur- und Wahlperioden mindestens vier, wahrscheinlich aber eher acht Jahre Zeit brauchen.
Kurzum: Der Parteivorstand kann jahrelang Konzepte beschließen, sie werden wirkungslos bleiben, wenn sie nicht an Organisationswissen vor Ort andocken können und es keine Vorstellungen davon gibt, wie die Vorschläge in die konkrete Praxis auf den verschiedenen Ebenen der Parteiarbeit – Kommunalpolitisch, vor Ort, auf Kreis-, Landes- und Bundesebene – integriert werden können. Die jahrelang entwickelte und von 2021 bis 2025 gesteigerte systematische Ansprache und Organisierung von Interessierten, Umfeld und Akteuren kann bis 2029 nur auf eine qualitativ und quantitativ neue Stufe gehoben werden, wenn möglichst viele neue und alte Erfahrungen einfließen können.
Erzählungen in der Partei
Das dritte von uns identifizierte Problemfeld betrachtet die Frage, wie wir über das Wirken unseres Handelns reden.
Hierzu ein kurzer Exkurs zum Lieblingsthema vieler Strateg*innen, der Erzählung: Erzählungen sind »Mikrogrundlagen kollektiven Handelns« (Polletta 2009) und in Diskussionen um ein Vielfaches wirksamer als rationale Argumente oder Informationen. Polletta konnte in empirischen Untersuchungen zeigen, dass Erzählungen in politischen Organisationen oft verkürzt vorkommen, in kurzen Versatzstücken auf größere Erzählungen verweisen und so einen normativen Standpunkt unterstreichen. »Diese Kurzformen wirken als eine Art roter Faden der Erzählungen, die in bruchstückhafter Form in den Beschreibungen, Forderungen, nicht-narrativen Erklärungen und Verweisen der Aktiven vorkommen« (Polletta 2009). Als solcher strukturieren sie oftmals die Auseinandersetzungen in Organisationen.
In den Gliederungen der Partei begegnen uns ständig verkürzte Erzählungen, wenn bspw. Halbsätze über die mangelnde Repräsentanz der Arbeiterklasse oder die scheinbar dysfunktionalen Strukturen in den Geschäftsstellen thematisiert werden. Für gewöhnlich verbinden langjährige Mitglieder mit diesen erzählerischen Versatzstücken persönliche Konflikte, alte Gewissheiten, Abgrenzungen und die scheinbar richtigen strategischen Überzeugungen. Für die 60 000 neuen Mitglieder bedeuten sie meistens nichts.
Die Wirkung solcher verkürzten Erzählungen kann verheerend sein, wenn bspw. Organisationen aufgrund entsprechender erzählerischer Zuschreibungen Taktiken und Strategien abwählen, obwohl diese nachweislich erfolgreich sind. Polletta führt dafür das Beispiel der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren an und beschreibt in ihrem Aufsatz »How participatory democracy became white«, wie destruktive Erzählungen erfolgreiche Taktiken verhinderten und sogar abschafften und so den Niedergang der Organisation eingeläutet haben (Polletta 2005).
Die Linke steht heute vor ähnlichen Herausforderungen, weil unterschiedliche taktische und strategische Vorschläge selten für sich bewertet, sondern immer mit verkürzten Erzählungen verknüpft und anhand dieser beurteilt werden. Oftmals wird mit den Vorschlägen eine Zugehörigkeit zu dem ein oder anderen Lager assoziiert und allein deswegen werden in der Folge Vorschläge akzeptiert oder abgelehnt. Dem Zeitgeist folgend, werden Misserfolge schnell externalisiert, der Bundestrend ist schuld. Erfolge werden aber ebenso schnell privatisiert, Ich bin einfach der beste Kandidat! Das Problem dabei: Diese Strategie führt dazu, dass aus den Misserfolgen nicht gelernt werden kann und in der Folge keine Verbesserung stattfindet. Die Privatisierung der Erfolge hat aber ebenso mindestens zwei schlechte Effekte: Ein Teil der Beteiligten wird seiner Erfolge beraubt – völlig unnötig, wo doch genug Erfolg für alle da ist. Und der andere Teil der Beteiligten, dem die Erfolge (selbst) zugeschrieben werden, überschätzt seine eigene Rolle und folgerichtig auch die eigene strategische Kompetenz.
Leitplanken für die Parteientwicklung
Wie aber entwickeln politische Organisationen sinnvolle Strategien für kommende Herausforderungen und ihre eigene (Weiter-)Entwicklung? Die für uns interessanten Beiträge der Debatte laufen auf zwei Fluchtpunkte hinaus und beziehen sich dabei auf Konzepte des Organizings. Ein zentraler Aspekt bezieht sich auf die abstraktere Ebene der Strategie und Strategiefähigkeit, der zweite Punkt behandelt die Systematik der Praxis. Organizing bedeutet erstens, in Machtverhältnissen zu denken, Gegenmacht zu den herrschenden Verhältnissen aufbauen zu wollen und die eigene Strategiefähigkeit aus dem Zustand und der Zusammensetzung der Organisation abzuleiten (Ganz 2000. Nur wenn eine Organisation kollektiv strategiefähig ist, entstehen sinnvolle und erfolgreiche Strategien (ebd.). Auf die Praxis bezogen, bedeutet Organizing zweitens, systematisch den Kreis von Aktiven, Sympathisant*innen und passiven Unterstützer*innen zu erweitern, Beziehungen zu ihnen aufzubauen und sie aktiv zu unterstützen, mehr Verantwortung zu übernehmen und damit strategie- und handlungsfähig zu machen. Dafür müssen sie innerhalb und außerhalb der Organisation regelmäßig aktiv angesprochen werden. Ferner werden Arbeitsbereiche, die auch aus großen Mobilisierungen bekannt sind, wie Aktionen, Kontakte zu anderen Organisationen, Recherche, Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit, immer mit der Prämisse bearbeitet, in allen Arbeitsschritten mehr Kontakte und Aktive zu gewinnen und stückweise den Kreis derer, die Verantwortung übernehmen, zu erweitern. Sozialistische Parteientwicklung sollte vor diesem Hintergrund auf folgende Aspekte fokussieren:
Haustürarbeit abseits von Wahlen
Haustürgespräche haben wir in den letzten Jahren vor allem im Zuge von Wahlkampagnen geführt. Es gibt wenige Beispiele von Haustürarbeit zur Durchsetzung von konkreten Verbesserungen, wie beispielsweise in Mietenkampagnen in Berlin Gropiusstadt oder in Hamburg Steilshoop. Diese Erfahrungen lehrten uns, dass organisierende Arbeit an den Haustüren im Stadtviertel nicht leicht im facettenreichen Parteialltag zu integrieren und mit linker Kommunalpolitik zu verzahnen ist. Gelingt beides, kann Haustürarbeit in der (kommunal)politischen Arbeit vor Ort enorme Kraft entfalten.
Anliegen frühzeitig identifizieren, kommunalpolitisch darauf reagieren, mit Linken Sozialberatungsangeboten Betroffene unterstützen und organisieren, kommunalpolitische Erfolge schnell und direkt mit Anwohner*innen kommunizieren – wenn wir auch hier mehr in Organizing-Zyklen statt in linearen »Problem erkannt – Problem gebannt«-Logiken denken und arbeiten, kann die integrierte Haustürarbeit zu einem zentralen Scharnier sozialistischer Alltagspraxis werden. Aus der jahrelangen Erfahrung einzelner Parteigliederungen können wir uns diesen Organizing-Zyklus beispielhaft wie folgt vorstellen: Durch die Haustürgespräche erfährt Partei vor Ort von Mietsteigerungen, die Kommunalfraktion holt Informationen ein und macht Druck, die AG Mieten der Partei lädt die betroffenen Mieter*innen zu einem Vernetzungstreffen ein, die AG Linke Hilft unterstützt beim Schreiben von Widersprüchen. Die Informationen der Kommunalfraktion werden im Vernetzungstreffen mit den Mieter*innen beraten, mögliche Schritte und Aktionen gemeinsam besprochen, für die Aktionen wird wiederum an den Haustüren gemeinsam geworben und die Arbeit der Kommunalfraktion wird wiederum bei den Gesprächen an den Haustüren kommuniziert, so dass schrittweise ein Zyklus entsteht. Kommunalpolitik und Parteiarbeit wird zusammengedacht und mit Haustürarbeit, Linke Hilft und Öffentlichkeitsarbeit verbunden. Dabei kommt der Haustürarbeit die Rolle zu, der Gradmesser und das Ohr in der Nachbarschaft zu sein, was den Leuten wirklich auf den Nägeln brennt. Zusätzlich sind die Gespräche an den Haustüren unsere ausgestreckte Hand zu den Menschen, mit dem Ziel sie zu gewinnen, sich gemeinsam mit uns für eine bessere Gesellschaft im Konkreten einzusetzen. Eine Sichtbarkeit der Partei in der Nachbarschaft gibt es darüber hinaus als Effekt mit im Gepäck.
Doch was in der Mietenfrage auf den ersten Blick simpel und klar erscheint, bringt in der Praxis sehr viele offene Fragen und Widersprüche mit, die mit allen Beteiligten, also Aktiven, Vorständen, Kommunalpolitiker*innen gemeinsam bearbeitet werden müssen. Wir brauchen einen Konzeptentwicklungsprozess und dürfen nicht davon ausgehen, dass »einfach« noch mehr an die Haustüren gehen außerhalb von Wahlkämpfen per se weit trägt.
Führung anders denken
Vielerorts in der Partei erleben wir gewählte Vorsitzende oder Vorstände, die mit dem Tag ihrer Wahl beginnen, in kleinen Vorstandskreisen zu versuchen, irrwitzige Mengen von Koordinierungs- und Planungs- und Verwaltungsaufgaben wegzutragen. Es ereilt alle dasselbe Schicksal: Sie werden zu "Flaschenhälsen", kommen den Aufgaben nicht hinterher, schaffen keine Erneuerungsprozesse mehr, weil allein die Bewältigung von allem, was auf dem Tisch liegt, jeden neuen Gedanken erdrückt. Wenn es dann Erneuerungsvorschläge gibt, werden diese von der Mitgliedschaft oftmals genauso schnell vom Tisch gefegt oder ausgesessen, wie sie mit diesen konfrontiert wurden. Das hat nichts mit den gewählten Führungspersönlichkeiten zu tun, sondern hat einfach strukturelle Gründe: Es braucht Parteiorganisationen, die auf der Vielzahl der Erfahrungen und Möglichkeiten der Mitglieder beruhen und diese zentral einbinden. Der erste Schritt sind Vorstände, in denen jede einzelne Person feste Zuständigkeiten und Aufgaben hat. Das bedeutet für die jeweiligen Vorsitzenden, Aufgaben abzugeben und darauf zu vertrauen, dass diese gut erledigt werden. Die anderen Vorstandsmitglieder müssen sich dann aus der Rolle der ständigen Kommentier*innen am Rand lösen und ganz konkret mitarbeiten. So kann ein Großteil der Verwaltungs- und Planungsarbeit verteilt werden und das Gremium als Ganzes sich der eigentlichen Aufgabe gemeinsam widmen: politische Strategien zu diskutieren und gemeinsam zu entscheiden. Erneuerungsprozesse können dadurch viel breiter diskutiert und auf mehrere Schultern verteilt werden und haben eine reale Chance. Wenn wir diese Logik der kollektiven Führung in allen Gremien und Organisationen denken – vom Parteivorstand bis hin zur Basisorganisation – haben wir schließlich eine Partei, in der jedes einzelne Mitglied konkrete Verantwortung trägt und konkrete Arbeitsbereiche und Aufgaben hat. Wie viel könnte dann gemeinsam erreicht werden?
Aktion-Strategiebildung-Aktion
Offene Aktiventreffen sind ein wunderbarer Ort, um schnell und in ganz konkreter Vorbereitung von kleinen oder großen Aktionen mit anderen Parteimitgliedern in Kontakt zu kommen, Leute kennenzulernen und in dieser gemeinsamen Aktion ein Verhältnis zueinander zu entwickeln. Es leistet jedoch nicht die gemeinsame politische Meinungsbildung und Aneignung von politischer Analyse und Strategie. Zusammen Aktionen zu planen und dann gemeinsam durchzuziehen, hilft, in einem solchen Bildungsprozess ein anderes, gemeinschaftlicheres Verhältnis zueinander einzunehmen. Organisierung bedeutet gemeinsames Handeln und erleichtert es uns die inhaltliche Debatte kollektiver und integrierender zu führen, so dass es nicht darum geht, Wahrheiten durchzusetzen, sondern um Gemeinsamkeiten zu ringen. Ganz plump gesagt: Wer zusammen mit anderen ein Transpi trägt, wird auch eine politische Diskussion so führen, aus der am Ende alle Teilnehmenden mit mehr Klarheit hervorgehen. Wenn eine Parteigliederung einen solchen zyklischen Aktions- und Debattenprozess organisieren kann, sind alle einzelnen Mitglieder entsprechend inhaltlich und praktisch geschult und verbunden. In der Folge kommen sie in der gemeinsamen Planung und Bewertung von politischen Herausforderungen zu besseren Ergebnissen, als der schlauste Kopf unter ihnen es vermocht hätte. Auch hier gilt: Aktionen und Debatte stehen nicht in Konkurrenz, sondern in einem zirkulären Verhältnis zueinander, sie bedingen und fördern sich wechselseitig.
Parteidigitalisierung
Wenn wir Partei so denken wollen, dass alle Mitglieder konkret mitmachen und Aufgaben übernehmen können, dann braucht es auch entsprechende Kommunikations- und Arbeitswege, die diese neue Parteiarbeit ermöglichen. Weg von der Gießkanne, mit der die Vorsitzenden der jeweiligen Ebene über ihre Mitglieder eine Flut von E-Mails ausschüttet, hin zu gezielter Kommunikation per Telefon oder auch per E-Mail, hin zu der Möglichkeit der kollektiven Führung in Vorständen, hin zur Selbstverständlichkeit von hybriden Parteitreffen, um die Beteiligung aller zu ermöglichen, hin zur Möglichkeit, Dokumente und Unterlagen für alle Mitglieder bereitzustellen, so dass diese jeweils eigene Aufgaben in ihren Organisationen übernehmen können. Diese Möglichkeiten und Arbeitsorte zu schaffen, ist Aufgabe der Parteidigitalisierung. So sollte eine gemeinsame Partei-Cloud, in der alle Mitglieder Zugang zu wesentlichen Informationen haben ebenso zum selbstverständlichen Arbeitsmittel gehören, wie die Möglichkeit, die Mitglieder meiner Gliederung unkompliziert anrufen zu können oder eben hybride Parteitreffen jederzeit realisieren zu können.
Rollenklarheit in der (gesellschaftlichen) Linken
Von der Zusammenarbeit diverser Linker Akteure im Kreisverband bis zur Aufgabenteilung zwischen Partei, Fraktion und Rosa-Luxemburg-Stiftung fällt auf, dass wir gemeinsam von einer stärkeren Klarheit über unsere jeweiligen Aufgaben profitieren würden. Allein im Kreisverband gibt es Vorstände in Kreis- und Ortsverband, Fraktionen auf Orts- und Kreisebene mit ihren jeweiligen Vorständen, AGs, Ad-Hoc Vorbereitungsgruppen, Kampagnengruppen, Linksjugend, Hochschulgruppe, Hauptamtliche, diverse Mandatsträger*innen aller politischen Ebenen und ihre Mitarbeiter*innen. Hinzu kommt die Rosa-Luxemburg-Stiftung und viele Akteure der gesellschaftlichen Linken. Sowohl für die Orte und Rollen im eigenen Kreisverband, als auch für die genannten Organisationen, braucht es eine das Abstandsgebot ernstnehmende Beschreibung, wer eigentlich welche Rolle hat.
Erarbeiten wir keine solche Beschreibung, laufen wir Gefahr, einiges doppelt und dreifach zu machen, anderes gar nicht und riskieren vor allem, uns im Prozess auf die Füße zu treten bzw. regelmäßig unproduktiv darum zu ringen, wer eigentlich bei welchem Arbeitsfeld den Hut auf hat. Zu oft erleben wir, dass wir als Gesamtorganisation unser Potenzial nicht ausschöpfen, weil wir zu wenig die Rollen und Möglichkeiten der anderen kennen und diese zu wenig mitdenken können. Wenn beispielsweise eine AG Mieten vor Ort wunderbare Arbeit in der Mietenkampagne wegträgt und sich inhaltliche Debatten erarbeitet, ohne die Publikationen der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu kennen und ohne direkten Draht zur Kommunal- oder Kreistagsfraktion, dann verschenkt die Partei ihr Potenzial. Diese Lücken beobachten wir auf allen Ebenen. Sie rühren oftmals daher, dass sich die jeweiligen Akteure persönlich nicht kennen, vor allem aber zu wenig die verschiedenen Rollen und Funktionen der anderen Organisationen.
Der Linke Kreisverband würde zusätzlich von einem Ort profitieren, an dem sich die o.g. Akteure ohne Beschlussdruck austauschen können. Dies würde vielen Missverständnissen vorbeugen und allen eine gemeinsame strategische Weiterentwicklung ermöglichen.
Das Einfache, das so schwer zu machen ist
Die gesellschaftliche Situation ist für die gesamtgesellschaftliche Linke im Allgemeinen und die Linke Partei im Besonderen ausgesprochen schwierig. Multiple Krisen, der daraus folgende globale Aufstieg von autoritären, reaktionären und teilweise faschistischen Kräften, zunehmende Kriege mit einhergehender Verschärfung der sozialen Lage der Bevölkerungen und Abbau von sozialen und demokratischen Rechten durch Umstellung auf Kriegswirtschaft – die Liste der Problembeschreibungen ließe sich fortsetzen. Diese Krise ist keine konjunkturelle, sie ist eine existenzielle Krise des Kapitalismus. Aber aus dieser wird etwas Neues entstehen. Was es sein wird, liegt ganz maßgeblich auch daran, wie gut Linke heute ihren Job machen. Wir tragen alle miteinander diese historische Verantwortung, die gehörigen Druck auf uns ausübt und zu unnützer Verhärtung der inneren Debatten führt. Darum sollte aus den Fehlern von Linken aus früheren Zeiten gelernt werden: Nur gemeinsam kann die Partei strategie- und handlungsfähig werden. Es braucht Vertrauen ineinander, den Mut neue Wege zu gehen und die Zuversicht und den Optimismus, dass wir die gesellschaftlichen Verhältnisse so verändern werden, dass sie für alle Menschen und die Natur eine sichere, lebenswerte Zukunft bieten. Darum halten wir es mit Ernst Bloch, der schon 1959 feststellte: »Ich bin. Wir sind. Das ist genug. Nun haben wir zu beginnen.«