Es gibt viele Gründe, Franziska Giffey zu kritisieren. Dass sie es geschafft hat, nicht nur ihre Doktorarbeit, sondern auch ihre Masterarbeit zu plagiieren, wurde breit diskutiert. Nachdem sie ihr Amt als Familienministerin nieder- und ihren Doktortitel abgelegt hat, tritt sie nun für die SPD als Berliner Bürgermeisterkandidatin an. Da dieses Amt glücklicherweise weniger akademische, sondern politische Fertigkeiten voraussetzt, lohnt es sich, die bisherigen Positionen von Giffey zu analysieren, die im Falle ihres Amtsantritts realpolitische Folgen haben.

Abschiebungen als Bestrafung

Giffeys Geflüchteten-Politik ist auf CDU-Linie. Während ihre Parteigenoss*innen der Berliner SPD richtigerweise im April 2021 den Beschluss fassten, dass weder nach Syrien noch nach Afghanistan abgeschoben werden darf, forderte Giffey im Juli, als die Taliban bereits auf dem Vormarsch waren, Abschiebungen von „Gefährdern“ in eben diese Länder.

Damit steht sie rechts ihrer Partei und fischt nach CDU-Wähler*innen. Straftäter*innen hätten ihr Recht auf Asyl „verwirkt“. Abschiebungen in unsichere Herkunftsländer und somit die konkrete Gefährdung von Schutzsuchenden werden von ihr sozusagen als Ersatz-Bestrafung genutzt. Kriminalität wird so einfach in das Herkunftsland „zurückgeschoben“, dort drohende Gewalt, Verfolgung oder Tod werden billigend in Kauf genommen.

Respekt- und Verantwortungsvoll die Mieten explodieren lassen

In Sachen Mietenpolitik werden den aktuellen Koalitionspartnern „rote Linien“ aufgezeigt. Die Hürden für eine Weiterführung der Koalition mit den Linken sollen hoch gehängt werden, denn Giffey lehnt eine Enteignung großer Wohnkonzerne kategorisch ab. Sie stellt sich gegen die Initiative „Deutsche Wohnen & Co Enteignen“ und fällt eine Entscheidung über den realpolitischen Ausgang der Kampagne (die die Vergesellschaftung großer Wohnungsbestände fordert), noch bevor der Volksentscheid dazu überhaupt stattgefunden hat. Dabei ist ihr Argument so falsch wie perfide: sie argumentiert, die Vergesellschaftung sei zu teuer, obwohl ein überzeugendes Konzept zur Gegenfinanzierung der Entschädigungssumme durch Mieteinnahmen vorliegt. Mit dem Volksentscheid wolle sie dennoch „respektvoll und verantwortungsvoll“ umgehen, ihn also rechtlich und verfassungsmäßig prüfen.

Ihre eigenen Lösungsvorschläge für das Problem explodierender Mieten in Berlin beschränken sich auf Neubau und eine Mietpreisbremse, die durch einen Mietpreisbremsencheck besser an die Bürger*innen herangetragen werden soll. Es sind also dieselben Werkzeuge, die auch bisher nicht funktioniert haben. Giffey will kooperieren, nicht konfrontieren. Eine Kooperation mit Immobilienmonopolen bedeutet allerdings die Aufrechterhaltung des Status quo und somit immer weiter steigende Mieten.

Mit Blick auf die von ihr geforderten Neubauten lehnt Giffey einen Sozialwohnungsanteil von mehr als 30 Prozent ab, das würde zu „zu vielen sozialen Problemen an einem Platz“ führen. Stattdessen propagiert sie, dass man sich auch um Menschen mit einem durchschnittlichen Einkommen kümmern solle, sodass es nicht nur Sozialwohnungen auf der einen und sehr teure Wohnungen auf der anderen Seite gäbe. Angesichts der Tatsache, dass die Hälfte der Berliner*innen einen Anspruch auf eine Sozialwohnung hat, eine überraschende These.

Pfleger*innen (manchmal) unterstützen

Im Tagesspiegel Interview antwortete Giffey auf die Frage des Intensivpflegers Ricardo Lange, wie die SPD konkret die Lage der Pflegenden verbessern möchte, man solle besser nicht 30 Milliarden für die Enteignung von Wohnkonzernen ausgeben. Nicht nur dass diese Zahl unter Expert*innen strittig ist, der Gedanke, dass gerade Menschen in niedrigen Lohngruppen, zu denen Pflegekräfte gehören, von niedrigeren Mieten profitieren könnten, scheint ihr fremd.

Der Schlagabtausch ist bezeichnend für die Politik, die Giffey plant. Sie habe weder Zauberstab noch Geldkoffer in der Hand, so das griffige Bild, ihrer Weiter-so-Politik. Um Geld für Sozialleistungen zu beschaffen, hätte man nur die Möglichkeiten, mehr Kredite aufzunehmen oder durch Wirtschaftswachstum Defizite auszugleichen. Umverteilung kommt für sie nicht in Frage – aus diesem Grund konstruiert Giffey einen Gegensatz zwischen der Enteignung und der Unterstützung von Pflegekräften. Als Lange kontert, dass private Klinikkonzerne riesige Gewinne einstreichen und man das Problem doch an der Wurzel packen solle, verweist Giffey auf die Bundesebene. Sie wehrt sich gegen Umverteilungsmaßnahmen, und bezieht unter dem Deckmantel des Kompromisses eine konservative Position.

Mit dem Problem des Pflegenotstands hatte Franziska Giffey als ehemalige Familienministerin bereits zu tun. Im Jahr 2018 startete sie mit Jens Spahn und Hubertus Heil eine Pflegeoffensive, Giffey wollte den Beruf attraktiver machen und den Nachwuchs sichern.

Sie führte eine Ausbildungsvergütung ein, und tatsächlich gab es einen Zuwachs an Auszubildenden.

Primär bleibt jedoch ihr Shitstorm in Erinnerung: die YouTube Serie „Ehrenpflegas“ sollte jungen Menschen den Beruf näherbringen, doch durch Klischees und absolut peinliche und veraltete Jugendsprache, wurden nicht nur Pfleger*innen sondern auch Jugendliche vor den Kopf gestoßen. Dass die Maßnahmen insgesamt kaum Früchte getragen haben, zeigt die andauernde Krise. Denn es fehlen weiterhin gute Arbeitsbedingungen, adäquate Bezahlung, Personalbemessung und Perspektiven für eine berufliche Entwicklung. Es handelte sich bei der Offensive um ein Medien-Ereignis, von dem die Beschäftigten im Pflegesektor in ihrem Alltag wenig mitbekommen haben.

Verkehrswende: irgendwann mal vielleicht

Giffey vermittelt auch ganz „undogmatisch und neutral“ in Sachen Verkehr. Jede*r soll so mobil sein, wie er oder sie möchte. Sie hält nichts von vermeintlichen Verboten, sondern möchte Anreize schaffen und die U-Bahnen ausbauen. Auch hier gleicht die Rhetorik der CDU: bloß keine radikale Veränderung. Erst vor wenigen Wochen wurde der Kern der Sozialdemokratischen Verkehrspolitik offensichtlich: Kurz vor Ende der Legislaturperiode ließ die SPD das lange vorbereiteten Ergänzungen zum Berliner Mobilitätsgesetz platzen, welche Parkplätze reduzieren und drüber die Zahl privater Autos in der Innenstadt reduzieren sollten. Für die nächsten Jahre will sich Giffey nicht festlegen, denn im Gegensatz zum Thema Wohnen ist der SPD beim Thema Verkehr die Meinung der Bürger*innen wichtig: In dem Moment wo Parkplätze entfernt werden sollen, fordert die SPD unter Giffey eine verbindliche Bürgerbefragung.

Ähnlich wie beim Mietenthema berücksichtigt Giffey verschiedene Interessensgruppen, die es in gleichem Maße zu befriedigen gilt, ungeachtet ihrer unterschiedlichen Ausgangspositionen.

In Deutschland wurde jahrzehntelag Straßeninfrastruktur Sinne der Autolobby geschaffen: die aktuelle Situation ist keine neutrale Ausgangsbasis, sondern das Ergebnis jahrzehntelanger, klimaschädlicher Politik. Praktisch bedeutet Giffeys „gemäßigte Position“ Politik im Sinne des Status quo, also kaum Veränderungen, da der städtische Raum nicht im Sinne von Mensch und Umwelt aufgeteilt wird. Doch der Raum für Autos muss beschnitten werden, damit Fußgänger*innen und Radfahrer*innen überhaupt die Chance haben sicher durch die Stadt zu kommen.

Der Bereich, in dem radikale Veränderung am notwendigsten ist, ist der Klimaschutz. Dazu hat Giffey die liberale Antwort par excellence: Innovation, E-Autos, ökologischer Neubau und Sanierungen sollen es richten. Das ist trotz jahrzehntelangen Versprechungen weder auf Bundes- noch auf Landesebene geschehen. Generell scheint Klimaschutz ein Randthema des Berliner Wahlkampfs der SPD, das man lieber den Grünen und LINKEN überlässt. Das ist fatal, denn Klimapolitik wird nicht nur auf Bundesebene gemacht, auch auf Landesebene finden wichtige Weichenstellungen statt. Während Giffey jedoch immer wieder vom geplanten U-Bahn Ausbau spricht, bleiben weitreichende Maßnahmen an LINKEN und Grünen hängen – und lediglich die LINKE verkörpern an dieser Stelle halbwegs glaubhaft eine Verbindung von ökologischer und sozialer Politik. Denn wie auf Bundesebene bedienen die Berliner Grünen weiterhin das Narrativ, dass gewinnorientiertes Wirtschaften sich auf „grünen Kapitalismus“ umstellen lässt.

Giffey: Und dann?

Was bedeutet die konservative Kandidatin der SPD für Berlin? Aktuell ist noch alles offen. Bisher schließt Giffey lediglich die AfD als Koalitionspartner aus, die FDP mit dem Landesvorsitzenden Sebastian Czaja jedoch nicht. Dieser twitterte im Jahr 2018 über Proteste gegen den rechten Mob in Chemnitz „Antifaschisten sind auch Faschisten“, offenbar kein Ausschlusskriterium für die „älteste antifaschistische Partei Deutschlands“. Giffey will sich explizit nicht für Rot-Rot-Grün aussprechen, sondern streckt die Fühler Richtung CDU und FDP aus.

Die bisherigen Koalitionspartner Grüne und LINKE können sich vorstellen weiter zusammenzuarbeiten. Doch was bliebe von den eigenen progressiven Positionen übrig, angesichts einer konservativen Bürgermeisterin? Die Problemfelder Mieten, Umweltschutz, Pflege oder Verkehrswende müssen unbedingt bearbeitet werden - für eine Rot-Grün-Rote Koalition unter Giffeys Führung scheint das schwierig.

Noch ist die Wahl nicht gelaufen, aber es scheint, als sei die Berliner Stadtgesellschaft noch stärker als bisher gefordert, Druck für diese Themen zu machen. Einerseits ist es ist wichtig, dass wirklich progressive Parteien gute Ergebnisse erzielen: Ohne sie gibt es keinen Raum für den sozial-ökologischen Wandel. Andererseits wird Politik nicht nur im Parlament gemacht, sie geschieht im Betrieb, im Kiez, in Politgruppen – kurz, überall dort wo sich im Alltag Menschen zusammenfinden und organisieren können. Wenn auf parlamentarischer Ebene wenig umsetzbar ist, muss mehr Druck erzeugt werden, linke Themenschwerpunkte müssen stärker gesetzt werden.

Außerdem werden so Personen erreicht, die zuvor noch nicht organisiert oder politisiert waren. In manchen Bereichen ist das in Berlin bereits gelungen: die Initiative Deutsche Wohnen enteignen hat dazu geführt, dass keine Partei an dem Mieten-Thema vorbeikommt, hat das Prinzip der Vergesellschaftung diskutabel gemacht und die breite Bevölkerung erreicht. Von Giffey und ihrer SPD ist wenig zu erwarten: Wir müssen das wohl selbst in die Hand nehmen.