Kollektiver Ungehorsam ist die Mutter gewerkschaftlicher Organisierung und Kämpfe. Aufstände und Sabotage, Streiks und gemeinschaftliche Verweigerung kennzeichnen den langen Weg von Menschen zu gemeinsamer Handlungsfähigkeit für die Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen, aber auch gegen Herrschaft und Faschismus, für Selbstbestimmung und Demokratie. Ungehorsam ist oft ein individueller Impuls. Kollektiver Ungehorsam muss eingeübt werden und braucht Organisierung – früher und auch heute. 
Der erste uns bekannte Streik fand im alten Ägypten um 1159 v. u. Z. unter Pharao Ramses III. statt: Arbeitskräften, die am Bau königlicher Gräber arbeiteten, wurde ihr »Lohn« in Form von Getreide, nicht gezahlt. Sie verweigerten die Arbeit, besetzten Tempel und forderten bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen – mit Erfolg. In der Antike fanden Revolten gegen Ausbeutung statt, die gemeinsam hatten, dass sie Druck ausübten, indem sie die Arbeit verweigerten. Im Mittelalter organisierten sich Handwerker*innen in Zünften und setzten organisiert Arbeitszeiten, Löhne und soziale Absicherungen durch. Sie waren Zweckgemeinschaften nach innen und durch Abgrenzung nach außen gekennzeichnet. Während der Bauernkriege (1524 – 1526) kämpften Geknechtete gegen Frondienste und Leibeigenschaft. Zu Beginn der Aufstände standen sie an der Seite der Bauern, verkauften dann ihre Unterstützung an den Adel, um eigene Privilegien zu verteidigen. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen. »Geschlagen gehen wir nach Haus – die Enkel richten es besser aus« bleibt ihr trauriger und hoffnungsvoller Nachlass an die folgenden Generationen. 

 

»Widerstand gegen Unterdrückung und Ausbeutung ist alt. Das verbindende Element war und ist die Bereitschaft, sich gegen herrschende gesellschaftliche Regeln kollektiv zur Wehr zu setzen und massenhaften Ungehorsam zu leisten.«

Mit der Frühindustrialisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann eine tiefgreifende Transformation der Arbeitswelt. Arbeitsplätze gingen verloren und mit ihnen die Existenzgrundlage ganzer Familien. Fachkräfte verloren Aufträge und Einkommen. Frauen und Kinder wurden als billige Arbeitskräfte in die Fabriken gespült und in Konkurrenz zu Arbeitern gesetzt. Gegen die Übernahme ihrer Arbeit durch neue Technologien gründeten sich die Ludditen, die als »Maschinenstürmer« in die Geschichte eingingen. Sie drangen in Fabriken ein und zerstörten Maschinen, die ihnen die Arbeit und mit ihr den Lebensunterhalt weggenommen hatten. Die Ludditen forderten auch soziale Absicherungen und fanden sich in Kommunen zusammen.

Erste gewerkschaftliche Strukturen

In den folgenden Jahren bildeten sich in England, Deutschland und Frankreich erste gewerkschaftliche Strukturen, die blutig bekämpft wurden. Der massenhafte Ungehorsam wurde von den Herrschenden und Fabrikherren angegriffen, verfolgt und immer wieder mit brutaler Gewalt unterdrückt. Die Idee, gemeinsam für eine gute Welt für alle und die eigenen Interessen zu kämpfen, blieb. 


Widerstand gegen Unterdrückung und Ausbeutung ist alt. Das verbindende Element war und ist die Bereitschaft, sich gegen herrschende gesellschaftliche Regeln kollektiv zur Wehr zu setzen und massenhaften Ungehorsam zu leisten. Aktionen des zivilen Ungehorsams sind Triebkräfte der Demokratisierung und Humanisierung von Gesellschaften, getragen von Solidarität. Sie sind ungeschriebener Gesellschaftsvertrag aller Lohnabhängigen. 


Die ersten Gewerkschaften in Deutschland wurden im Umfeld der Revolution von 1848 zwischen Industrialisierung und dem Hegemonieverlust der alten Eliten gegründet. Doch Adel und neues Bürgertum eigneten sich die Macht wieder an. Von dieser Niederlage erholten sich die Gewerkschaften nur langsam. Unternehmer übernahmen feudalistische Privilegien und richteten sie gegen ihre Belegschaften. Die Arbeitstage waren lang, der Lohn gering. Die Mehrheit der Arbeiter*innen arbeitete um das blanke Überleben. Ihre Lebenszeit wurde vernutzt. Die Kraft zum Widerstand des Einzelnen blieb auf den Werkbänken und in den Fabriken oder in dunklen Stuben, in denen Heimarbeit geleistet werden musste, liegen. Trotzdem blühte gewerkschaftlicher Widerstand wieder auf. Selbstorganisierte Arbeitskämpfe, Streiks und Kaufboykotte von unten gegen Unternehmer waren an der Tagesordnung – ohne Arbeitskampfrichtlinien, Friedenspflicht und Streikgelder. Zunehmender Einfluss und Macht der organisierten Beschäftigten führte zu einem Gegenangriff der Unternehmen und des Staates. Zwischen 1878 und 1890 waren Gewerkschaften aufgrund der Bismarckschen Sozialistengesetze kriminalisiert und verboten. Sie organisierten sich in Turn- und Bildungsvereinen weiter – ein Akt des Ungehorsams gegen die Macht des herrschenden Rechts.

» Aktionen des zivilen Ungehorsams sind Triebkräfte der Demokratisierung und Humanisierung von Gesellschaften, getragen von Solidarität. Sie sind ungeschriebener Gesellschaftsvertrag aller Lohnabhängigen.«

In der Novemberrevolution von 1918 begehrten die Arbeiter, Matrosen und Soldaten auf, die sich nicht länger als Kanonenfutter hergeben wollten. Sie beendet mit ihrem Ungehorsam, der den Auftakt zur Revolution bildet, den Krieg. Der Kaiser musste abdanken, die Republik wurde ausgerufen – die ungehorsamen Matrosen wurden blutig niedergeschossen. Die Weimarer Republik begann. Die Gewerkschaften erreichten während der Weimarer Republik den Höhepunkt ihrer Organisierung mit fast 9 Millionen Mitgliedern. Deutschland war in den 1920er Jahren das europäische Land mit den meisten Arbeitskämpfen. Während Gewerkschaften sich gegen Verarmung und Verelendung stemmten, zog am Horizont des Kapitalismus der Faschismus auf. Die unterschiedlichen Reaktionen von Gewerkschaften auf diese fundamentale Bedrohung der Rechte von Beschäftigten prägt bis heute die Diskussion um Aktionsformen gegen Faschismus und ist in diesen Tagen aktuell wie lange nicht. 

Von der Verteidigung der Republik zur Zerschlagung 1933

Kaum war die Weimarer Republik gegründet, versuchten Militärs und Nationalisten unter Wolfgang Kapp und General Walther von Lüttwitz mit einem Staatsstreich gegen die neu gewählte Regierung die Geschichte zurückzudrehen. Die Gewerkschaften reagierten geschlossen und eindeutig: Der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB), die Freien Gewerkschaften, die christlichen und liberalen Gewerkschaften sowie die USPD und SPD riefen zu einem der wirksamsten Generalstreiks der deutschen Geschichte auf. Am 13. März 1920 wurden weite Teile Deutschlands durch den Streik lahmgelegt. Innerhalb von Tagen kollabierte die Wirtschaft, Kapp musste am 17. März zurücktreten, die Republik war – zunächst gerettet. Der organisierte Ungehorsam gegen die alten Eliten siegte.


Wirtschaftskrisen, Massenentlassungen, Mitgliederverluste und Spaltung, die Debatte um Revolution oder Reform, Einbindung und Parteienbindung prägte die Entwicklung deutscher Gewerkschaften bis zu ihrer Zerschlagung am 2. Mai 1933. Anders als dreizehn Jahre zuvor, setzten 1933 fast alle Gewerkschaftsführungen nicht auf Kampf und Widerstand, sondern auf Legalismus, Zähmung und Kooperation mit den Nationalsozialisten. Die freien Gewerkschaften unterstützten Versuche, gegen die Ermächtigungsgesetze der NSDAP einen Generalstreik zu organisieren, nicht. Tausende von Gewerkschafter*innen wurden direkt nach der Machtübertragung an Hitler verhaftet, gefoltert und ermordet. Die Nationalsozialisten machten keine Kompromisse. Faschisten machen keine Kompromisse. Die Frage, wie Gewerkschaften damit umgehen, stellt sich heute nicht nur in Deutschland, sondern über Ländergrenzen und Milieus hinweg. Verbindende Klassenpolitiken und Handlungsfähigkeit durch massenhaften zivilen Ungehorsam als Organisierungs- und Handlungsraum gegen die drohende Faschisierung stehen als Angebot im Raum. 

Kollektiv widersetzen – aus doppeltem Grund

Anknüpfend an die Massendemonstrationen gegen die »Remigrationspläne« von Teilen der AfD und der neuen Rechten organisiert das Netzwerk widersetzen seit März 2024 Aktionen des massenhaften zivilen Ungehorsams gegen die AfD und ihre Politik und spricht dabei offensiv Gewerkschaften und ihre Mitglieder an. Innerhalb weniger Wochen organisierte das Netzwerk, überwiegend online, in einer Struktur um einen Kreis von wenigen Menschen, die Busanreise von mehr als 70 Bussen, zahlreiche Aktionstrainings und Infoveranstaltungen vor Ort und die Planung von Blockaden gegen den AfD-Parteitag. Wie ein schlafender Riese, der erwacht, kamen antifaschistische Strukturen nach der fast starren Stille der Coronapandemie und der Spaltungen zurück in die kollektive Aktivität. 7 000 Menschen reisten im Juni 2024 – nach nur 12 Wochen Organisierung aus dem Nichts – nach Essen, um den Parteitag der AfD zu blockieren. Die Hälfte von ihnen waren zum ersten Mal in Aktionen des zivilen Ungehorsams. Von den Studis gegen Rechts, über Parteijungenden und Gewerkschafter*innen bis zu den Omas gegen Rechts machten sich Menschen auf, um massenhaften zivilen Ungehorsam gegen die Normalisierung der AfD zu leisten – und auch, um den Raum, den die AfD zu erobern sucht, mit ihren Forderungen, Vorstellungen und Hoffnungen zu füllen und zu verteidigen. 


Der erste Erfolg von widersetzen war es, eine Mobilisierung aus den Menschen heraus überhaupt wieder denkbar und lebendig zu machen. Der Mut, sich zu widersetzen, war in der Welt. Er ist (bisher) überwiegend jung, divers und aktivistisch. Die Organisierung von widersetzen ist von hoher Beweglichkeit, enormer Verbindlichkeit untereinander und der Bereitschaft zur Toleranz geprägt. Strukturen, die jahrelang nicht miteinander arbeiten wollten, suchen hier einen Weg, miteinander gegen den Faschismus einen Schritt weiter zu gehen und neben Demonstrationen und Kundgebungen, Aktionen des zivilen Ungehorsams als Element der Selbstermächtigung zu erlernen und weiter zu entwickeln. Dabei nehmen sie in Kauf, für die Verteidigung der Demokratie Repressionen zu erleben. Sie übernehmen eine Verantwortung, die eigentlich die demokratischen Institutionen tragen müssten und es aktuell nicht oder nur mit Lippenbekenntnissen zu tun. Sie brauchen die Unterstützung der Gewerkschaften, um diese Verantwortung tragen zu können und Gewerkschaften brauchen diese beeindruckende Energie, die widersetzen nach innen und außen freisetzt. Die Brandmauer muss gebaut werden und dafür brauchen wir neue Werkzeuge, neue Bauarten, neue Strukturen, die das Alte in sich tragen und das Neue schon leben – kollektive, solidarische Arbeit, die geübt werden muss – auch von und in Gewerkschaften. Die Ernsthaftigkeit, Lernbereitschaft, die Bereitschaft, freie Zeit, Kompetenzen von Hunderten von Menschen zwischen 14 und 80 in das Projekt einzubringen, ist beeindruckend. 


Die Resonanz ist in den Gewerkschaften zu Aktionen des zivilen Ungehorsams gegen AfD-Parteitage und zu widersetzen ist geteilt. Bisher war die Beteiligung von Gewerkschafter*innen, über ein kleines, aktivistisches Spektrum hinaus, gering. Aktuell ist sie erstaunlicherweise rückläufig, obwohl die Akzeptanz in den Gremien zumindest formal steigt. 


Die Debatte um notwendigen Widerstand gegen den wachsenden Einfluss der AfD und ihres Umfeldes auf politische Prozesse in den Gewerkschaften hat begonnen und ist notwendig. Gelingt es, unterschiedliche Formen von Protesten zu verbinden oder erschöpfen sich die Akteur*innen im Kampf um Deutungshoheit und Rechthaberei?

 

»Widersetzen ist eine Organisierung, in der Gewerkschaften gemeinsam mit anderen Akteur*innen zivilgesellschaftlicher Gruppen zum einen lernen könnten, über tarifliche Arbeitskampfchoreografien hinaus, Werkzeuge zur Gegenmacht zu entwickeln und anzuwenden.«

Nach Jahren der sozialpartnerschaftlichen Verhandlung um Arbeits- und Lebensbedingungen zeigt sich seit Jahren deutlich ein Verlust realer Kampfkraft in den Gewerkschaften: Mitgliederrückgang und sinkende Durchsetzungsmacht lassen den Handlungsspielraum von Gewerkschaften schwinden, obwohl die Anzahl von Streiks zunimmt. Die Handlungsfähigkeit von Belegschaften sinkt in vielen Bereichen. In anderen – vor allem im sozialen Sektor – wächst sie. Angriffe auf sicher geglaubte Rechte und gesellschaftliche Verteilungskämpfe nehmen zu. Der Wille zum Widerstand prägt gewerkschaftliche Diskussionen, aber die Fähigkeit zu erfolgreichen Aktionen des massenhaften Ungehorsams sind wenig entwickelt und intern umstritten.


Widersetzen ist eine Organisierung, in der Gewerkschaften gemeinsam mit anderen Akteur*innen zivilgesellschaftlicher Gruppen zum einen lernen könnten, über tarifliche Arbeitskampfchoreografien hinaus, Werkzeuge zur Gegenmacht zu entwickeln und anzuwenden, um sich rechtzeitig der realistischen Gefahr einer faschistischen Machtübernahme zu widersetzen. Mindestens genauso so elementar ist der Aufbau von Vertrauen im gemeinsamen Handeln mit unterschiedlichen, zum Teil konkurrierenden und polarisierenden Strukturen innerhalb politischer Räume. Spaltungen, Misstrauen, Konkurrenz und Abwertung überwinden sich nicht in der Theorie, sondern in gelebter Praxis, wenn Menschen sich als Menschen begegnen und aufeinander in Solidarität angewiesen sind. 


Wir leben in einer Zeit, in der geopolitische Verschiebungen, der Kampf um Märkte und Ressourcen, Transformationsprozesse von rasanter Geschwindigkeit durch technologische Entwicklungen im Bereich künstlicher Intelligenz, Robotik und synthetische Biologie unsere Gesellschaften vor Herausforderungen stellen, die denen der 1920er Jahre des letzten Jahrhunderts ähneln. Reichtum häuft sich in immer weniger Händen. Ganze Arbeitsbereiche werden in den kommenden Jahren verschwinden. Maschinen und KI werden viele Arbeiten übernehmen und damit den Lohnerwerb von Millionen von Menschen. Klimawandel, Verteilungskriege und autoritäre Regime werden noch mehr Fluchtbewegungen in Gang setzen. Ein derartiges Ausmaß an Veränderung und Krisen ist ein Zündstoff, mit dem faschistische Strukturen ihre Machtbestrebungen befeuern. Ein weiterer ist die kapitalistische Sortierung von Menschen in nützlich und nicht nützlich zur Profitmaximierung. Gewerkschaften können die Gegenmacht stellen, wenn sie in der Lage sind, Mehrheiten zu organisieren und Widerstand zu leisten. Das muss erlernt werden und dafür ist jetzt die Zeit. 

» Spaltungen, Misstrauen, Konkurrenz und Abwertung überwinden sich nicht in der Theorie, sondern in gelebter Praxis, wenn Menschen sich als Menschen begegnen und aufeinander in Solidarität angewiesen sind.«

Gewerkschaften waren der entscheidende Faktor im Widerstand gegen den Kapp-Putsch 1920 und retteten mit ihrem massenhaften zivilen Ungehorsam in Form eines Generalstreiks die Republik. Die Anpassungstheorie der Gewerkschaftsführung um 1933 ist historisch widerlegt. Sie war untauglich gegen eine faschistische Bewegung, die keine Kompromisse zuließ. Gewerkschaften müssen aktiv und frühzeitig gegen Faschismus kämpfen, nicht mit ihm verhandeln. Man muss den Schneeball zertreten, bevor er zur Lawine wird. Das braucht Mut, Solidarität und die Bereitschaft, aufeinander zu achten – auch und gerade im kollektiven Ungehorsam. 

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