Gewinnen lernen heißt, aus Erfolgen Konsequenzen ziehen. Die Wahlkämpfe von Sanders und Corbyn, aber auch Luigi Pantisanos Kampagne in Konstanz zeigen: Haustürwahlkampf und systematische Datenerhebung können das ein oder andere Wunder bewirken. Im Frühsommer 2021 wird die LINKE erstmals im Kontext des Haustürwahlkampfs eine Wahlkampf-App in der Partei einsetzen. Kern der App ist die Hilfe bei der Organisation des Wahlkampfs.
Da die Entwicklung einer App sehr zeit- und ressourcenaufwendig ist, werden die Funktionalitäten schrittweise entwickelt. Zuerst wird die Wahlkampf-App den Haustürwahlkampf unterstützen. Im zweiten Schritt wird das Auf- und Abhängen von Plakaten über die App möglich sein und im dritten Schritt kommen dann Analyse- und Auswertungsmöglichkeiten dazu. Vorausgegangen sind der Entwicklung lange Analysen, Diskussionen und Tests mit einer anderen Haustürwahlkampf-App. Wir wissen, dass unsere Mitglieder – im Vergleich zu den Grünen – wesentlich weniger Geld haben und wir bei ihnen ein Smartphone nicht voraussetzen können – ein neues Smartphonemodell erst recht nicht. Darum basiert unsere App auf einem Browser, viele nennen das Web-App. Das bedeutet, dass ich die App am Computer und am Smartphone, eigentlich auf allen Geräten, die einen Browser abbilden können, bedienen kann. Wir wissen aber auch, dass wir nicht wenige aktive Genoss*innen in unseren Reihen haben, die mit 82 Jahren noch aktive Parteiarbeit machen, aber keinen Computer nutzen. Für diese Genoss*innen wird es sogar eine Funktion zum Ausdrucken von Routenplänen geben.
Eine App als Wahlhelferin
Die Funktionalität der App wird simpel sein: Als Wahlkampfplanende*r kann ich auf einer Karte Gebiete markieren und sie verschiedenen Genoss*innen zuweisen. Alle Adressen in diesen Gebieten können dann von denen, die an den Haustüren Wahlkampf machen, abgearbeitet werden. Wenn eine Adresse bereits besucht wurde, ist sie bei den anderen Wahlkämpfenden als »erledigt« markiert. Zusätzlich erstellt jede*r Wahlkämpfende eine Statistik über seine oder ihre Haustürbesuche: Wie viele Türen wurden mir geöffnet? Wie viele Gespräche sind zustande gekommen? Mithilfe dieser Statistik wollen wir neue Erkenntnisse gewinnen: Wenn wir zum Beispiel einen Volksentscheid auf den Weg bringen wollen, wissen wir zukünftig besser, wie viele Aktive und wie viel Zeit wir brauchen, um eine bestimmte Anzahl von Unterschriften zu sammeln. Bisher erfassen wir diese Statistiken lediglich auf Zetteln. Wie es in der Natur von Zetteln liegt, verschwinden sie sehr oft. Unsere aktuellen Statistiken sind darum nicht vollständig, sondern nur punktuell aussagekräftig.
Doch diese punktuellen Aussagen sind spannend. Im Eisenacher Bürgermeisterwahlkampf zum Beispiel, den wir gewonnen haben, konnten wir sehen, dass wir zwar auch ohne Haustürwahlkampf eine starke Kandidatin hatten und auch sehr viel Unterstützung in der Stadt. Die entscheidenden Prozente für den Sieg haben wir jedoch durch den Haustürwahlkampf absichern können. In Konstanz hat Luigi Pantisano erkannt: Wenn etwas mehr Kapazitäten vor Ort gewesen wären, um in mehr als zwei Wahlkreisen flächendeckend an die Türen zu gehen, dann wäre es auch möglich gewesen, mehr als diese zwei Wahlkreise zu gewinnen. Ein dritter Wahlkreis ging nur knapp an den Amtsinhaber – mit flächendeckenden Haustürgesprächen wäre hier vermutlich ein anderes Ergebnis möglich gewesen. Damit wir unsere Ressourcen für solche Situationen zukünftig gezielter einsetzen können, brauchen wir eine detaillierte Planung und Auswertung von Wahlkämpfen. Auch dazu soll die Wahlkampf-App in der Zukunft nutzbar sein.
Erfolge an der Haustür
Der Haustürwahlkampf steht nicht ohne Grund im Zentrum der Wahlkampfstrategie. Dass er effektiv ist, um Sympathisierende an die Urnen zu bekommen, haben schon viele Analysen bestätigt. Get out the vote wird diese Strategie genannt, sie beschreibt die Notwendigkeit, grundsätzlich überzeugte Wähler*innen schlussendlich zum Akt des Wählens zu mobilisieren. Es ist eben nicht damit getan, Menschen von einer guten linken Idee zu überzeugen. Die Zustimmung auf dem Sofa führt leider noch nicht zu einer Stimmabgabe. Es reicht auch nicht, wenn Menschen sich politisch links verorten, aber auf den letzten Metern zum Wahllokal an einem trockenen Sommertag dann doch mit einer Stimme für die Grünen ein Zeichen gegen den Klimawandel setzen wollen. Die LINKE hat ein Wähler*innenpotenzial von 20 bis 30 Prozent, schafft es bislang aber nicht ansatzweise, dieses in reale Wähler*innen stimmen umzusetzen. Ein flächendeckender Haustürwahlkampf kann hier den entscheidenden Wechsel bringen.
Seit 2016 sammelt die LINKE wieder mehr Erfahrungen mit der Haustürarbeit. Inspiriert von Erfolgen von Jeremy Corbyns Kampagne in Großbritannien und der Working Families Party innerhalb der Demokraten in den USA wurde schnell klar: Wer wachsen will und bestrebt ist, sein Potenzial in Wahlkämpfen besser auszuschöpfen, kommt um den Haustürwahlkampf nicht herum.
Doch die gesetzlichen Grundlagen und die Wahlkampfdynamiken in den USA und in Großbritannien sind grundverschieden von denen in Deutschland. Vor allem die Existenz öffentlicher Wahlregister, über die den Parteien die bisherigen Wahlpräferenzen der jeweiligen registrierten Wähler*innen bekannt sind, markiert einen entscheidenden Unterschied für den Haustürwahlkampf. Während es in den USA und Großbritannien möglich ist, gezielt nur das eigene Wählerpotenzial aufzusuchen, ist dies in Deutschland schwierig, wenn nicht sogar unmöglich. Wenn ich in Deutschland an einer Tür klingele, weiß ich nicht, ob mir ein eingefleischter AfD-Wähler öffnet, eine Linke oder ein Nichtwähler. Können Haustürwahlkämpfe trotzdem genauso effizient sein wie in den USA?
Um diese Frage sicher beantworten zu können, hat die LINKE im Bundestagswahlkampf 2017 angefangen, systematisch Erfahrungen im Haustürwahlkampf zu sammeln. Ein Schulungskonzept wurde entwickelt und bundesweit umgesetzt, Gesprächsleitfäden wurden erdacht, getestet und optimiert, Erfahrungen ausgewertet und analysiert. Im Bundestagswahlkampf klopften Genoss*innen in 62 Einsätzen in zehn Bundesländern an 10 424 Türen. Und es hat sich gezeigt: Mit der richtigen Ansprache ist Haustürwahlkampf nicht nur effektiv, sondern er macht vor allem auch den Wahlkämpfenden Spaß. Denn ein Großteil der Menschen, an deren Türen wir klopfen und nach deren Sorgen und Wünschen wir fragen, reagiert auf Besuche der LINKEN sehr positiv. Das ist auch nachvollziehbar, denn es passiert selten, dass Parteien das Gespräch in den Nachbarschaften suchen und sich erkundigen, was die Menschen umtreibt.
Interessant ist, dass oftmals gerade die Genoss*innen, die am längsten in der LINKEN organisiert sind, die größten Schwierigkeiten haben, ihre Komfortzone zu verlassen und an eine Haustür zu klopfen. Der Kulturwechsel von der Agitation hin zum Nachfragen und Zuhören ist schwer und darum fällt dieser Schritt gerade Neumitgliedern oftmals leichter.
In den letzten fünf Jahren haben insgesamt mehr als 600 linke Genoss*innen wertvolle Erfahrungen in der Haustürarbeit gesammelt. Diese waren durchweg positiv – egal ob in Ost oder West, in Groß- oder Kleinstädten oder im ländlichen Raum. Teilweise konnten wir sogar Wahlen gewinnen, in vielen Orten konnten wir unsere Ergebnisse durch einen breiten Haustürwahlkampf substanziell verbessern. Es liegt auf der Hand: Wir müssen uns viel mehr auf die Arbeit an den Haustüren konzentrieren, wenn wir in der nächsten Bundestagswahl unser Ergebnis maßgeblich verbessern wollen. Darum ist der Haustürwahlkampf in der Wahlstrategie für den kommenden Wahlkampf zentral, und darum ist auch die Wahlkampf-App darauf ausgerichtet. Doch das allein wird nicht ausreichen.
Wachsen und Druck aufbauen
Wenn wir Kämpfe nicht nur führen, sondern auch gewinnen wollen, dürfen wir keine Zeit mehr verlieren, indem wir die Arbeit an den Haustüren weiterhin mühsam Schritt für Schritt aufbauen. Wir müssen unsere Aktivitäten an den Haustüren jetzt skalieren, ja eskalieren. Es ist zu wenig, wenn jeder Kreisverband einmal Haustürwahlkampf ausprobiert. Wenn wir wachsen wollen, reichen uns keine 10 000 Türen im Wahlkampf wie bei der Bundestagswahl 2017 – stattdessen brauchen wir 10 000 Türen in jedem Wahlkreis.
Das wäre ein erster Schritt hin zu einer realen politischen Veränderung der Kräfteverhältnisse. Doch ohne ein substanzielles Wachstum der LINKEN wird es keine politischen Veränderungen geben. Jeder weiß: Eine Wahl ist nur ein Ausdruck von Kräfteverhältnissen. Je mehr Menschen sich in der LINKEN organisieren, desto mehr können wir diese Kräfteverhältnisse real verändern. Wir können nicht einfach darauf warten, dass neue Unterstützer*innen und Mitglieder zufällig bei uns landen. Wir müssen diese Menschen aktiv suchen, mit ihnen reden und verstehen, was sie bewegt, um sie dann einzubeziehen. Wir wollen den Bundestagswahlkampf 2021 zum Ausgangspunkt nehmen, um die organisierende Arbeit mithilfe der Wahlkampf-App auf eine breitere Basis zu stellen. Auch hier gilt: Wenn wir aus einer Handvoll linker Organizing-Modellprojekte in den nächsten Jahren lediglich zwei Handvoll machen, werden wir kaum Veränderungen durchsetzen können. Nur wenn es gelingt, die Erfahrungen der letzten fünf Jahre in kürzester Zeit umzusetzen und unsere Aktivitäten zu potenzieren, kann der LINKEN gelingen, was bitter nötig ist: Weiter zu wachsen und Druck aufzubauen für eine linke Umgestaltung der Gesellschaft. Die Wahlkampf-App bietet dafür die organisatorischen Voraussetzungen – jetzt gilt es, anzupacken.