14. Mai 2016, Lausitz. Das Aktionswochenende, an dem das klimaaktivistische Bündnis »Ende Gelände« den Anti-Kohle-Protest in die Braunkohle-Region Lausitz tragen wollte, übertrifft alle Erwartungen. Ungefähr 4 000 Menschen aus 20 Ländern blockieren die Kohlebagger, Transportzüge und das Kraftwerk Schwarze Pumpe. Der quantifizierbare Effekt: Das Kraftwerk wird für 24 Stunden auf 20 Prozent seiner maximalen Leistungsfähigkeit gedrosselt, ein Meiler nur im Notbetrieb gehalten. 

So weit, so gut. Aber der Klimawandel kann nicht Kraftwerk für Kraftwerk, Kohlegrube für Kohlegrube aufgehalten werden. Klimagerechtigkeit muss politisch erkämpft werden. Langfristig dürften deshalb andere Ergebnisse dieses Wochenendes schwerer wiegen.

1 | Internationalisierung

Die junge Klima(gerechtigkeits)bewegung weist einen hohen Grad an Internationalisierung auf: Von den gut 4 000 Aktivist*innen kamen mindestens 1 500 aus dem meist europäischen Ausland. Blickt man auf die Aktionen des letzten Jahres – von »Ende Gelände« im Rheinland bis zu den taktisch gescheiterten, aber politisch wichtigen Aktivitäten rund um den Klimagipfel im Dezember 2015 in Paris – lässt sich konstatieren, dass die Klimabewegung derzeit zur Wiederherstellung eines europäischen Bewegungsraums beiträgt. Der Internationalisierungsgrad zeigte sich auch in der Kampagne »Break Free from Fossil Fuels«, in deren Rahmen vor allem das Klimanetzwerk 350.org Aktionen auf fünf Kontinenten koordinierte. Es gibt Parallelen zu den frühen Jahren der globalisierungskritischen Bewegung.

2 | Taktische Fortschritte

Nach den Gruben- und Baggerblockaden des vergangenen Jahres hatte Ende Gelände es dieses Mal auf die gesamte Kohleinfrastruktur abgesehen, also auch auf Kohlezüge und das Kraftwerk Schwarze Pumpe. Dadurch gelang es, in Deutschland erstmals ein laufendes Kraftwerk (fast) zum Stillstand zu bringen. Inhaltlich und politisch sollte mit der Erweiterung des Aktionsfeldes darauf hingewiesen werden, dass sich die Debatte nicht nur auf die offensichtliche Umweltzerstörung durch Braunkohletagebaue beschränken darf. Von der Schwarzen Pumpe ist der gedankliche Schritt hin zum Steinkohlekraftwerk in Berlin Mitte und dessen emissionsreicher Wärmeproduktion nicht mehr weit. Von dort aus eröffnen sich weitere Themenfelder wie etwa Steinkohleimporte aus Ländern mit katastrophalen Sozialstandards und Arbeitsbedingungen.

3 | Legitimätsgewinne

Wer die Fernsehbilder von der »Kraftwerkserstürmung« gesehen hat, mag einen anderen Eindruck gewonnen haben, aber alles in allem verhielt sich die Polizei sehr zurückhaltend. Dies überrascht, da Kraftwerke und deren reibungsloser Betrieb im staatlichen Interesse liegen. Warum also wurde die Blockade nicht gestoppt oder die Protestierenden von den Schienen geräumt? 

Offensichtlich ist: Die Brandenburger Politik ließ sich nicht vor den Karren des damaligen Betreibers der Lausitzer Braunkohleindustrie Vattenfall Europe Mining spannen. Sie ließ die Aktivist*innen weitgehend gewähren, weil die politischen Kosten eines härteren Durchgreifens höher eingeschätzt wurden als der entstandene Schaden. Warum aber war es politisch so ›teuer‹, gegen die Klimabewegung vorzugehen? Ein Erklärungsversuch reicht in die ersten Jahre der großen Krise von 2008ff zurück. Damals machten sich einige Linke Sorgen, dass es grünen Kapitalfraktionen gelingen könnte, einen im Nachgang von Hurrikan Katrina und anderen extremen Unwettern als gesellschaftliches Universalinteresse konstruierten Klimaschutz zu instrumentalisieren, um ihr partikulares Profitinteresse voranzutreiben - dass es also eine grünkapitalistische Hegemonie geben könnte (vgl. Kaufmann/Müller 2009). Mittlerweile ist klar, dass die Anpassungsfähigkeit des Kapitals in der organischen Krise über- und die Tiefe der Krise im Sinne einer Legitimationskrise unterschätzt wurde. Wer glaubt heute schon VW, wenn in Wolfsburg über emissionsarme Autos schwadroniert wird? Wer geht davon aus, dass die Klimarahmenkonvention der UN tatsächlich das Klima schützen wird? Und doch wurde im Dezember 2015 in Paris ein Klimavertrag vereinbart, in dem die Regierungen der Welt dreierlei deutlich machten: dass der Klimawandel ein gravierendes Problem ist, dass er von Menschen verursacht wird und dass die fossilen Brennstoffe dafür maßgeblich verantwortlich sind. Es wurde also, und darin liegt die eigentliche Relevanz von Paris, ein gesellschaftliches Universalinteresse am Klimaschutz formuliert, das aber unter den gegebenen Bedingungen der organischen Krise, die eben auch eine Legitimationskrise ist, nicht im oben genannten Sinne von Elitenfraktionen besetzt werden kann. Es ist quasi ›herrenlos‹. Das lange Zeit betriebene Greenwashing, mit dem sich die Autoindustrie mit Kampagnen zu Elektromobilität zur Vorreiterin des Klimaschutzes und damit zur Repräsentantin eines allgemeinen gesellschaftlichen Interesses machen konnte, ist vorbei. Zu unglaubwürdig war ihr Agieren und zu offensichtlich ist es inzwischen, dass Autos, die statt mit fossilen Brennstoffen nun mit Strom fahren, der aus überwiegend fossilen Brennstoffen gewonnen wird, keinen Gewinn für das Klima bringen. Das partikulare Profitinteresse der Autoindustrie kann also nicht länger als Universalinteresse an einem stabilen Klima dargestellt werden. In diese Lücke konnte nun die radikale Klimabewegung stoßen. Denn wie oben gefragt: Warum wurde »Ende Gelände« nicht von den Kraftwerksschienen geräumt? Weil die Aktivist*innen glaubhaft versichern konnten, dass es ihnen tatsächlich vor allem um den Klimaschutz geht und dass sie derzeit der einzige Akteur sind, der Klimaschutz wirklich ernst nimmt. Damit ist klar: Wer sie angreift, trifft das Weltklima. »Ende Gelände« konnte sich in den in Paris gestrickten Legitimitätsmantel hüllen, weil kein anderer Akteur ihn sich erfolgreich anziehen konnte. Die Tatsache, dass die Aktion nicht unterbunden wurde, war also kein Zeichen ihrer taktischen Irrelevanz, sondern ihrer für aktionistische, auf zivilen Ungehorsam setzende Politikformen ungewöhnlichen politischen Stärke.

Die andere Seite der Medaille...

14. Mai 2016, Schwarze Pumpe: Vor den Toren des von Klimaaktivist*innen blockierten Kraftwerks sammeln sich in den Abendstunden knapp tausend Menschen, um gegen »Ende Gelände« zu protestieren: Anwohner*innen, Angestellte von Vattenfall, Menschen mit Fahnen der kohlefreundlichen IG BCE, Hooligans, organisierte Nazis – viele sind dabei. Einige der Redner*innen nutzen den Begriff Ökoterroristen, andere singen Bergmannslieder. Aus der Demonstration heraus greifen 80 bis 100 Personen die Klimaaktivist*innen mit Böllern an, Autos von Journalist*innen werden von den Straßen abgedrängt. Glücklicherweise wird niemand verletzt. Am Tag danach streifen Gruppen organisierter Nazis durch die Umgebung des Klimacamps. Zwei Campbewohner*innen werden angegriffen, eine davon muss ins Krankenhaus gebracht werden. Unter internationalen Aktivist*innen geht die Verwunderung um: »Why do the locals hate us?«. 

Die verkürzte Antwort: weil »Ende Gelände« unter den gegebenen Bedingungen faktisch ihr Feind ist. Hier liegt ein Widerspruch, der sich auch durch eine linke Diskurspolitik nicht auflösen lässt, die seit Jahren darauf beharrt, dass radikaler Klimaschutz und regionale soziale Gerechtigkeit (Stichwort: gerechte Übergänge) gleichzeitig organisiert werden müssen. Ein sofortiger Kohleausstieg ist, wieder unter den gegebenen Bedingungen, aber nicht dasselbe wie ein lang geplanter, sozial abgefederter und im Rahmen deutscher korporatistischer Politik umgesetzter Kohleausstieg (vgl. Agora Energiewende 2016). Und etwas detaillierter: Warum war »Ende Gelände« nicht in der Lage, im Vorfeld durch bessere politische Kommunikation den schwelenden Konflikt mit den Arbeiter*innen und Anwohner*innen zu entschärfen? Nicht einmal, so haben einige dem Bündnis vorgeworfen, mit den lokalen Anti-BraunkohleGruppen, die in der »Klinger Runde« organisiert sind, konnte die Kampagne im Vorfeld einen gemeinsamen Nenner finden. Ist es wirklich so, dass die Klimaaktivist*innen einfach die soziale Frage nicht ausreichend wichtig nehmen? Hätte der GAU linksökologischer Politik, die physische Auseinandersetzung zwischen Klimaaktivist*innen und Industriearbeiter*innen, nicht verhindert werden können? 

Die Antwort auf diese, für eine Klimagerechtigkeitsbewegung zentrale Frage ist nicht ganz unkompliziert. Daher Schritt für Schritt. 

 

  1. Der Klimawandel ist eine soziale Frage. Es ist kein Zufall, dass in der Mobilisierung immer wieder betont wurde, es ginge »schon lange nicht mehr nur um Eisbären«. Das ging es noch nie. Der Klimawandel bedroht nicht nur die Megafauna in der Arktis, er bedroht die Lebensgrundlagen von Abermillionen von Menschen, gerade die Ärmsten und Marginalisiertesten. Am Klimawandel leiden im Schnitt jene am meisten, die am wenigsten dazu beigetragen haben. Der Meeresspiegel steigt und Bangladesch säuft ab, während Holland schwimmende Städte baut. Und für viele Menschen im globalen Süden kommen sämtliche Maßnahmen der Emissionsvermeidung wohl jetzt schon zu spät – zu fortgeschritten ist die Temperaturerhöhung bereits. Für diese Menschen müssen neue Lebensräume aufgetan werden. Dafür wie für eine drastische Minderung der Emissionen sind vor allem jene Länder in der Bringschuld, deren Reichtum sich aus der Gewinnung und der Verbrennung fossiler Energieträger speist. Sie tragen die ›Klimaschuld‹. Wer den Klimawandel gegen die soziale Frage ausspielt, wie das leider in vielen Teilen der gesellschaftlichen Linken immer wieder der Fall ist – von der Interventionistischen Linken über den Großteil der deutschen Gewerkschaftsbewegung bis hin zu Sozialpolitiker*innen der LINKEN – reduziert Fragen sozialer Gerechtigkeit entweder auf Fragen nationaler sozialer Gerechtigkeit oder auf Fragen strategischer Wahlarithmetik. Nach dem Motto: Sowohl in Bangladesch als auch in Cottbus wird gelitten, aber die Leute in Cottbus können hierzulande halt wählen. 
  2. Um eine minimale Chance zu wahren, den Klimawandel und damit das mittelfristige ›Umkippen‹ des globalen Klimasystems noch aufhalten zu können, müsste die Weltgemeinschaft ziemlich schnell handeln und das 2015 in Paris beschlossene Ziel des 21. Weltklimagipfels in Angriff nehmen: den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur bei deutlich unter zwei Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter halten und weitergehende Anstrengungen unternehmen, den Temperaturanstieg bei 1,5 Grad zu stoppen. Diesbezüglich noch einmal zur sozialen Frage: Noch beim UN-Klimagipfel 2009 in Kopenhagen denunzierte eine Gruppe besonders klimavulnerabler Länder jedes Abkommen, das ein Limit oberhalb von 1,5 Grad festschreibt, als Selbstmordpakt. Aus einer globalen Gerechtigkeitsperspektive sind 1,5 Grad alternativlos. 
  3. Um dieses ausgesprochen ambitionierte Ziel tatsächlich zu erreichen – genauer um eine 50-prozentige Chance zu haben, das Ziel zu erreichen –, müsste nach einer von Greenpeace in Auftrag gegebenen Studie der globale Emissionsnullpunkt 2034 erreicht sein. Für Deutschland bedeute dies unter anderem, dass der gesamte in Deutschland produzierte Strom bis 2030 aus erneuerbaren Energien stammen müsste. Dies würde in anderen Bereichen wie Mobilität und Landwirtschaft einen Puffer für die Dekarbonisierung lassen. Die besonders emissionsintensive Braunkohle müsste hingegen schon 2025 vom Netz gehen, denn: Deutschland ist Braunkohleweltmeister, fördert und verbrennt davon mehr als jedes andere Land der Welt. 

2025 also. Aus globaler Gerechtigkeitsperspektive ist dieses Datum eines Braunkohleausstiegs unanfechtbar. Interessant ist, dass es Greenpeace zu heikel war, mit der genannten Studie in die Offensive zu gehen. Der Text wurde im Prinzip begraben, die Organisation »leitet daraus heute noch keine neuen Forderungen ab« (zitiert nach die tageszeitung vom 25.2.2016). 

Und warum nicht? Weil ein Kohleausstieg bis 2025 in den Kohleregionen unter den gegebenen Bedingungen ökonomische und soziale Brachlandschaften hinterlassen würde, mithin politisch kaum vertretbar ist. Die Umsetzung der Forderung nach einem sofortigen Braunkohleausstieg würde für die ungefähr 22 000 direkt in der Branche Beschäftigten nicht nur den Verlust ihrer Arbeitsplätze bedeuten, sondern auch den Verlust ihrer kollektiven Identität – also eine existenzielle Bedrohung. Dementsprechend sieht der bisher detaillierteste Plan für einen bundesweiten Braunkohleausstieg als das endgültige Ausstiegsdatum 2040 vor. Nur: Aus der Perspektive des Klimaschutzes ist 2040 ein völlig unzureichendes Datum. Wenn eines der reichsten Länder der Welt erst in 25 Jahren aus der Nutzung der dreckigsten aller fossilen Brennstoffe aussteigen will, warum sollten sich ärmere Länder dann überhaupt bewegen?

Die Linke und das Klima

Womit wir beim (un-)sozialen Dilemma linker Klimapolitik hierzulande angelangt sind: Klimaschutz und globale Klimagerechtigkeit auf Kosten vieler Menschen in der Lausitz und im Rheinland oder ein regional gerechter Übergang auf Kosten des Klimas und somit zahlloser Menschen im globalen Süden heute und zukünftiger Generationen weltweit? Diesem Dilemma sollten wir offen und ehrlich begegnen, statt – analog zu der Erzählung, die suggeriert, Klimaschutz lasse sich mit fortgesetztem gesamtwirtschaftlichen Wachstum kombinieren – so zu tun, als könne effektiver Klimaschutz (≈2025) problemlos mit lokaler und regionaler sozialer Gerechtigkeit, mit ›gerechten Übergängen‹ (≈2040) kombiniert werden. 

Wir stehen also vor zwei Wahrheiten: Erstens, Klimaschutz ist unverzichtbar, wegen der globalen sozialen Gerechtigkeit, deshalb muss der Kohleausstieg bis 2025 erfolgen. Zweitens, lokale soziale Gerechtigkeit ist unverzichtbar, deswegen braucht es ›gerechte Übergänge‹. Das erste Ziel ließe sich angesichts der momentanen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und auf der Basis bestehender Konzepte tatsächlich umsetzen. Das zweite, der ›gerechte Übergang‹, von dem wir nur grob wissen, wie er aussehen könnte, ist unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen kaum zu realisieren. Ethisch ist diese Alternative nicht zu entscheiden – hier gilt es die Debatte um ethische Begründungen zwischen globaler Klimagerechtigkeit und lokal jeweils konkret verorteter sozialer Gerechtigkeit weiter zu führen. Politisch aber muss entschieden werden. Also fordern wir an dieser Stelle einen Braunkohleausstieg bis 2025, und zwar aus strategischen Gründen. Wenn wir von zwei Zielen eines erreichen können oder keines, dann wählen wir doch lieber einen möglichen Sieg als eine doppelte Niederlage.