Emanzipatorische Bildung zieht ihre Energie aus emanzipatorischen Bewegungen und Praktiken. Sie ist stark in Zeiten starker Demokratie, in denen der Demos um Demokratisierung kämpft. Aus der politischen und sozialen Praxis (die im besten Falle selbst Bildungsprozesse ermöglicht) entstehen Fragen, die aufzuklären sind. Die Praxis bringt Menschen zusammen, die miteinander etwas klären wollen, um etwas zu bewegen. Greifbare Ziele und die Aussicht auf ihre Verwirklichung machen die Anstrengungen von Bildung lohnenswert.1

Und heute? Die gesellschaftlichen Voraussetzungen emanzipatorischer Bildung lassen sich als dreifache Krise beschreiben: als Krise der Demokratie, als Krise gesellschaftlicher Emanzipationsprojekte und als Krise konkreter Utopien. In der Krise befinden sich insbesondere Gewerkschaften und Parteien, die sich eine grundlegend andere Gestaltung der sozialen und ökonomischen Verhältnisse auf die Fahnen geschrieben hatten. Wo Menschen sich in Verbänden organisieren, haben Mitgliedschaften oft wenig mit dem eigenen Leben zu tun. Die Schwächung der politisch-sozialen Kultur hat auch Folgen für emanzipatorische Bildungsprozesse. Eine Arbeiterin in der Pharmaindustrie, aktives Mitglied der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie, beschreibt die Veränderungen für ihr gewerkschaftliches Umfeld so:

»Also die Erfahrung, die ich gemacht hab, Anfang der achtziger Jahre, wo ich so die ersten Seminare gemacht hab als neu gewählte Vertrauensfrau, was machste jetzt – damals is’ ja noch viel mehr vor Ort gemacht worden, im Bezirk im Umkreis, da biste in ein Hotel, Wochenendseminare zu dem und dem Thema und Einführung Betriebsverfassung, und was is’ das überhaupt, und was wollen wir. Und die sind damals bei uns, muss ich sagen, sehr gut gelaufen, das hat mir super gefallen, ich hab Dinge erfahren, wusst’ ich überhaupt nicht, ne? Und Gewerkschaften und überhaupt und bin dabei geblieben. […] Sind Leute da, die wollen dasselbe im Prinzip wie du, die wollen sich informieren, die wollen was verbessern für ihre Kollegen, für sich. Alles, was ich für mich mach, hat auch ‘nen Nutzen dann für die Kollegen vor Ort und ich denk’, mittlerweile fehlt das so ein bisschen, hab ich so den Eindruck. Das was mich damals zur Gewerkschaft gebracht hat und gehalten hat, waren viele dieser Veranstaltungen am Wochenende, nach Feierabend, wo heut die wenigsten bereit sind, die Zeit zu investieren, unabhängig davon, ob‘s was kostet oder nicht. Wenn wir heute ein Wochenendseminar anbieten, dann buchst du mal zwanzig Zimmer in ‘nem Hotel ein halbes Jahr vorher und machst aus, wie kurz vorher du absagen kannst, ohne was zu bezahlen.«2

Brüchig geworden ist die soziale Basis, aber auch der Fluchtpunkt emanzipatorischer Bildung. Verloren gegangen ist die »konkrete Utopie«, mit Ernst Bloch verstanden als reale Möglichkeit einer gesellschaftlichen Alternative. Wie kann emanzipatorische Bildungsarbeit mit diesem Widerspruch ihrer eigenen Voraussetzung umgehen?

In der Bildungspraxis wird über die Krise gesellschaftlicher Emanzipationsprojekte eher selten gesprochen. Das hat gute Gründe: Da emanzipatorische Bildungsarbeit auf eine emanzipatorische Praxis orientiert, schwächt diese Diagnose einen zentralen Bezugspunkt dieser Arbeit. Und das Sprechen über die Krise kann als unsolidarisches und entmutigendes Kleinreden der existierenden Initiativen, Organisationen und Bewegungen empfunden werden. Allein: Wenn die Diagnose stimmt, wäre mit dem Pfeifen im Walde bereits verfehlt, was Bildung im Kern ausmacht.

Was kann Bildung sein?

Der kritische Bildungstheoretiker Heinz-Joachim Heydorn diskutierte Bildung in seiner letzten Veröffentlichung als »befreiende Verarbeitung« (2004). Er schrieb den Text mit dem Titel »Überleben durch Bildung« im Jahr 1974 mit Blick auf Aufrüstung, Überfluss bei gleichzeitigem Hunger und die Unfähigkeit, die Ressourcen und technischen Möglichkeiten für ein humanes Leben zu nutzen. Er betonte, dass Bildung den gesellschaftlichen Widerspruch nicht überwindet, sondern die eigenen Voraussetzungen bewusst macht. Mit diesem Bewusstsein »stellt sich die Frage nach neuen Formen der Auseinandersetzung, die den Bedingungen angemessen sind« (ebd., 265).

Es überliest sich leicht, wie folgenreich dieser Gedanke ist: Es geht um die eigenen Voraussetzungen. Wir sind Teil der Gesellschaft, die ihre Möglichkeiten nicht nutzt, die Bedürfnisse aller zu befriedigen. Alle reproduzieren diesen Widerspruch in der alltäglichen Lebensführung, auch die BildungsarbeiterInnen. Wir können den Widerspruch auch nicht widerspruchsfrei verarbeiten, weil wir mit unserem Alltagsverstand unser Leben bewältigen. Die Reflexion darüber eröffnet nicht unbedingt neue Handlungsoptionen, sondern kann das eigene Handeln infrage stellen. Eine auf Gesellschaft bezogene Bildung kann also bedrohlich werden, denn »bei Strafe des Untergangs« dürfen die Individuen ihre Handlungsfähigkeit nicht aufgeben, »solange es keine praktischen Alternativen gibt« (Hirschfeld 2013, 94).

In den Gewerkschaften schützt das Zweckbildungsverständnis die Einzelnen vor dieser Art Untergang. Gewerkschaftliche Bildungsarbeit ist erklärtermaßen auf den Zweck einer Verbesserung der Verhältnisse in Betrieb und Gesellschaft gerichtet, wie unterschiedlich dies auch immer im Einzelnen verstanden wird. Die Verwirklichung der Ziele steht und fällt mit kollektivem Handeln, weshalb Seminare darauf ausgerichtet sind, Handlungsfähigkeit zu stärken. Das Prinzip der Handlungsorientierung ist deshalb ein Korrektiv gegen Erkenntnisse, die die Handlungsfähigkeit bedrohen. Genau deshalb kann es aber auch Aufklärung verhindern, wenn diese für das unmittelbare Organisationshandeln nicht dienlich ist. Das Verhältnis zwischen bewegungsorientierter Praxis und Bildung ist also äußerst sensibel. Was die emanzipatorische Praxis blockieren kann, ist Aufgabe emanzipatorischer Bildungsarbeit: die Widersprüche und ihre widersprüchliche Verarbeitung zu verarbeiten. Dabei geht es nicht um ein kritisch coloriertes Bildungsideal innerer Freiheit, sondern im Gegenteil darum, mit den gewonnenen Erkenntnissen die emanzipatorische Praxis und die eigene Handlungsfähigkeit zu befördern.

So sehr emanzipatorische Bildungsarbeit deshalb Distanz zum Alltagsgeschäft benötigt, so sehr muss sie als transformatorisches Projekt diese Distanz permanent einreißen. Was das bedeutet, ist kaum ausbuchstabiert oder erforscht. Dass man in der politischen Praxis etwas lernt, ist unbenommen. Aber diese Lernprozesse sind nicht immer emanzipatorisch. Was lernt ein Mensch, dessen Stimme üblicherweise nicht gehört wird, in einer politischen Versammlung, in der sie ebenfalls nicht gehört wird? Was lernt er, wenn er erlebt, dass seine Erfahrungen nicht wichtig sind? Was lernt sie, wenn ihr Widerspruch nicht ›zielführend‹ für die Praxis ist? Lernprozesse können heteronome Sozialverhältnisse zementieren.

Die politische Praxis folgt einer eigenen Logik, die auch im emanzipatorischen Feld nicht notwendig selbstbestimmt ist: Der Abgabeschluss für den Antrag ist nächste Woche? Also müssen ihn die ExpertInnen schreiben. Gelernt werden kann immer, aber Bildungsprozesse benötigen ein Mindestmaß an reflexiver Distanz zur (eigenen) Praxis, um damit im besten Fall die Praxis zu verändern. Die Distanz entsteht nicht automatisch, sondern hat zeitliche und örtliche, vor allem aber konzeptionelle Voraussetzungen.

Diese lassen sich nicht als Leitfaden definieren. Aus den Beobachtungen der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit folgere ich, dass vor allem eine gemeinsame problemorientierte Perspektive, ein Freiraum vom Handlungsdruck nötig ist – auch um neu über Handlungsmöglichkeiten nachdenken zu können. Die Arbeit an alltagsrelevanten Lösungen und das Durchdringen von Problemen folgen unterschiedlichen Logiken, die gerade nicht umstandslos ineinandergreifen. Nötig sind deshalb sowohl lösungsorientierte als auch problemorientierte Räume für Bildung und Reflexion.

Emanzipatorische Bildung und die Praxis

Emanzipatorische Bildungsprozesse gibt es in allen Bildungsbereichen. Die äußerst unterschiedlichen Bedingungen etwa von Schulen, außerschulischer politischer Jugendbildung, beruflicher Erwachsenenbildung und Hochschulen können hier nicht entfaltet werden. Ich möchte einen Unterschied betonen, der quer zu den Grenzziehungen der Bildungsbereiche liegt, nämlich: Verstehen die Beteiligten diesen Bildungsprozess als Teil einer emanzipatorischen Praxis oder nicht?

Sie werden es wahrscheinlich dort tun, wo Seminare und Veranstaltungen aus der politischen Praxis »ausgegliedert« werden, um erklärtermaßen wieder auf diese zurückzuwirken. Das Motto »lernen, um zu handeln« verdeutlicht diesen Gedanken für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit. Von vornherein ist klar, dass hier etwas aufzuklä- ren ist, um etwas gemeinsam zu verändern. Anders verhält es sich mit Unterricht und Schulungen, wenn diese aus der Perspektive der Bildungssubjekte dem Erwerb eines Zertifikats oder Abschlusses, also der Bewältigung einer biografischen Herausforderung, dienen. Hier steht Bildung nicht von vornherein in einem emanzipatorischen Handlungskontext, und auch bildungspolitische Emanzipationsziele gibt es nicht (mehr).

Bildungsprozesse außerhalb von Bewegungszusammenhängen haben die politische Praxis zunächst nicht als Bezugspunkt. Ihr verbleiben dennoch (mindestens) drei Ansatzpunkte für emanzipatorische Bildungsprozese: Erstens können Selbst- und Welterkenntnisse von den Einzelnen nicht nur als Gefahr, sondern auch als Gewinn verarbeitet werden und Handlungsfähigkeit befördern. Zweitens können kritische Bildungsimpulse dazu beitragen (nicht garantieren), dass sich emanzipatorische Praktiken in und um Bildungsinstitutionen entwickeln. Drittens ist Bildung selbst ein Praxisfeld, das Möglichkeiten emanzipatorischen Handelns eröffnet.

Die emanzipatorische Bildungspraxis beansprucht, andere gesellschaftliche Verhältnisse nicht nur zu denken, sondern im Bildungsprozess auch herzustellen. Es geht um Inhalte, Interaktionsweisen, Methoden und Rahmenbedingungen. Auch hier sind die Möglichkeiten in der formalen Bildung (Schule, Hochschule, Berufsausbildung) besonders eng begrenzt, zumal, wenn Curricula zu erfüllen und Leistungen zu bewerten sind. Aber auch in diesen Bereichen entwickeln Lehrende Konzepte für eine kritische Lehre, zu denen etwa gehört, die Voraussetzungen selbst zum Thema zu machen.

Diese haben sich nicht allesamt verschlechtert. Was als Anspruch der heranwachsenden »Generation Y« diskutiert wird, nämlich dass sich das gute Leben zumindest ansatzweise im Hier und Jetzt realisieren lassen muss, reklamieren auch immer mehr Erwachsene, die erfahren haben, dass der Lohn für ein erfolgreiches Projekt bestenfalls ein neues Projekt ist. Junge Gewerkschaftsmitglieder lehnen Zertifikate in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit vehement als das Gegenteil dessen ab, was Bildung für sie ausmacht, nämlich: kein Leistungsdruck, keine Konkurrenz, keine Bewertung, keine Benotung, miteinander statt gegeneinander arbeiten. Und sie entwerfen Seminare als Protopraxis, die auch in anderen, vor allem betrieblichen Praxisfeldern Dinge in Bewegung bringen soll. Ihre Stichworte sind: Miteinander, Füreinander, Solidarität ohne Erfolgsdruck, Demokratie, Selbstbestimmung (vgl. Bürgin 2013, 222f).

Bildung ist ein Praxisfeld mit transformatorischem Potenzial, ist aber keine Ersatzpraxis für andere Politikfelder. Die großen gesellschaftlichen Probleme machen es nötig, gesellschaftlich einzugreifen. Wenn man die gegenwärtigen globalen Proteste betrachtet, dann sind Bildungsprozesse für ihr Zustandekommen nicht zu wichtig zu nehmen. Um die Richtungen des Handelns zu bestimmen, Handlungskrisen zu verarbeiten und aus Protesten Bewegungen zu machen, sind Bildungsprozesse allerdings bedeutsam. Bildung kann helfen, nicht zu resignieren, nicht zynisch zu werden, die kleinen Veränderungen nicht für große zu halten und an den Beharrungskräften der Verhältnisse nicht klein zu werden.

Utopien bilden, Zusammenhänge organisieren

Emanzipatorische Bildung war bislang eng mit dem Feld der politischen Bildung verbunden. Das hat auch strategische Gründe, denn die politische Bildung ist bildungs- und förderpolitisch der einzige Bereich, auf den sich emanzipatorische Bildung berufen kann. Aber es ist offensichtlich, dass ihr Gegenstand über »die Politik« hinausreicht und auch weiter gefasst ist als »das Politische«. Wenn man das Gemeinsame der bildungspraktischen und -wissenschaftlichen Überlegungen der letzten Jahre sucht, dann wird man an diesem Punkt schnell fündig: Es geht um die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen mit dem Ziel ihrer menschlichen Gestaltung.

Vermutlich liegt es an der scheinbaren Unveränderbarkeit des großen Ganzen, dass diese Auseinandersetzung auch als Gegenstand von Bildung in den Hintergrund gerückt ist. Bildungsarbeit, die die Verhältnisse und ihre Veränderbarkeit nicht vernachlässigen will, steht gegen den Trend und gegen die Rahmenbedingungen.

Ein Blick auf das Feld der Arbeit zeigt beispielhaft, dass wir es hier nicht mit theoretischen Luxusproblemen zu tun haben. Die kommandierten Beschäftigten im Niedriglohnbereich und die Hochqualifizierten im High Performance Management befinden sich nicht nur in unterschiedlichen Arbeitswelten, sondern sie verstehen die Arbeitswelt und das Arbeitshandeln der anderen auch nicht automatisch. Gewerkschaftsmitglieder suchen das gemeinsame Allgemeine als Grundlage für gemeinsames Handeln, aber sie können den Gesamtkontext nicht aus ihren eigenen Erfahrungen und Analogieschlüssen herstellen (vgl. Bürgin 2013, 208f). Sie sind auf Zusammenhangwissen angewiesen, wenn sie das Handeln und die Forderungen der anderen als begründet verstehen und kollektiv handeln wollen. Berufsgewerkschaften organisieren sich entlang von partikularen Interessen, für die Branchengewerkschaften geht es um Solidarität schlechthin.

Unter erschwerten Voraussetzungen wird emanzipatorische Bildung also bedeutsamer: als Aufklärung über die Verhältnisse, über Krisen, Handlungsmöglichkeiten sowie die zukünftige Gestaltung der Gesellschaft. Dabei geht es in der Bildungsarbeit in Organisationen immer auch um Bildungsräume zur Kritik und künftigen Gestaltung der eigenen Politik.

Emanzipatorische Bildungsarbeit ist nicht der Missing Link zwischen dem Hier und Jetzt und veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen. Sie kann gegenwärtig auf keine konkrete Utopie orientieren. Aber sie kann Raum für Utopiebildung und für die Suche nach Eingriffsmöglichkeiten sein. Wie Uwe Hirschfeld argumentiert, kann emanzipatorische Bildungsarbeit den Mangel an gesellschaftlichen Alternativen weder kompensieren noch beheben, aber das Bewusstsein des Mangels offen halten. »Die Widersprüche werden nicht mehr im Unbewussten belassen, wo sie uns zerstören; sie werden zum Hebel der Veränderung.« (Heydorn 2004, 272) »Bewusstsein ist alles.« (ebd., 273) Mit diesem Satz endet der letzte Text von Heinz-Joachim Heydorn. Und Bildungsarbeit stößt noch mehr an, wenn sie sich als »reflektierendes, aber (zumindest indirekt) auch organisierendes Moment alternativer Praxisbewältigung« (Hirschfeld 2013, 98), also als gesellschaftlich relevante Protopraxis versteht.

1 Der Text basiert auf Erfahrungen in und Forschung über gewerkschaftliche Bildungsarbeit (vgl. Bürgin 2013a). Auch wenn diese viele Besonderheiten aufweist, wird hier versucht, einige der dort gewonnenen Erkenntnisse zu verallgemeinern.

2 Mit sprachlicher Glättung zitiert nach Bürgin 2013a, 186.

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