Der erste Satz des Kommunistischen Manifests enthält eine historische Ortsangabe, die seine Botschaft situiert: »Ein Gespenst geht um in E – das Gespenst des Kommunismus.« Der letzte Satz formuliert ihren Universalitätsanspruch: »Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!« (MEW 4, 461, 493) Das Verhältnis beider Sätze, dass E der Ort von etwas ist, das die Ausgebeuteten und Entrechteten aller Länder anruft, ist eines der produktiven Grundprobleme marxistischer Theorie, die sich nicht mit dem hegelianischen Philosophem des »europäischen Ursprungs« der Vernunft zufrieden geben kann. 

1. In den Schriften von MARX fungiert »E« nicht als Begriff für ein thematisiertes Problem; statt dessen findet sich, etwa in Äußerungen über »Asien« (z.B. über die britische Herrschaft in Indien, MEW 9, 127 -33) oder den »Orient« (z.B. MEW 28, 254), zunächst ein spontanes Bewusstsein der Sonderstellung der europäischen (besonders westeuropäischen) Entwicklung der Produktionsverhältnisse innerhalb der Menschheitsgeschichte – so spricht das Kapital vom »Westen von E« als »dem Heimatsland der politischen Ökonomie« (MEW 23, 792) –, das sich auf die theoretisch begründete Vermutung stützen konnte, zwischen »dieser fertigen Welt des Kapitals« (ebd.) und »den Kolonialländern« (799) werde sich dasselbe Verhältnis einer nachholenden kapitalistischen Entwicklung herstellen wie zwischen England und den übrigen Ländern E.s: »Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten« – hier: Deutschland – »nur das Bild der eigenen Zukunft« (12). Allerdings sollte die weitere Untersuchung ein Bewusstsein der historischen Spezifik der westeuropäischen Konstellation hervorbringen: Das Vorwort zur frz. Übersetzung schränkt den Geltungsbereich des Kapital ausdrücklich auf »Westeuropa« ein (MEGA II/7, 12f). In diesem Sinne hat MARX davor gewarnt, seine

»historische Skizze von der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa in eine geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges [zu] verwandeln, der allen Völkern schicksalsmäßig vorgeschrieben ist« (MEW 19, 111).

Der theoretische Zusammenhang, in dem diese Auffassung verankert ist, wird unter dem Begriff des Weltmarkts artikuliert: »Die Tendenz, den Weltmarkt zu schaffen, ist unmittelbar im Begriff des Kapitals selbst gegeben. Jede Grenze erscheint als zu überwindende Schranke« (Gr, MEW 42, 311). Dem Konzept der »historischen Mission« des in Westeuropa entstandenen Kapitalverhältnisses entspringt die Auffassung von den vorrangig »zivilisierenden Tendenzen« dieses Prozesses (317). Damit ist allerdings noch nichts über MARX’ Auffassungen über die realhistorische Entwicklung dieses E ausgesagt, in dem er vermutlich der reaktionären Großmacht Russland eine maßgeblich negative Rolle zugeschrieben hat – was in einer russozentrischen Marxismus -Perspektive verdrängt wurde (vgl. RJAZANOV 1909; DRISCHLER 1996). Davon zu unterscheiden ist die politische Idee eines europäischen Staatenbundes, der im 19. Jh. auch in der Arbeiterbewegung als Alternative zur herrschenden Außenpolitik der »Mächte des alten E« (MEW 4, 461) propagiert wird. Ihr gegenüber besteht – im Kontext der Kritik an der national bornierten Politik der Lassalleaner (vgl. Gotha, MEW 19, 23f) ENGELS auf dem umfassenderen und praktisch verbindlicheren »Prinzip der Internationalität der Arbeiterbewegung« (an Bebel, 18./28.3.1875, MEW 19, 4). Dabei geraten ihm allerdings die außereuropäischen Länder nur als abgeleitetes Problem in den Blick:

»Ist E erst reorganisiert und Nordamerika, so gibt das eine kolossale Macht und ein solches Exempel, dass die halbzivilisierten Länder ganz von selbst ins Schlepptau kommen; das besorgen allein schon die ökonomischen Bedürfnisse« (an Kautsky, 12.9.1882, MEW 35, 358).

2. Noch für Rosa LUXEMBURG kann nur

»aus E, nur aus den ältesten kapitalistischen Ländern [...] das Signal zur menschenbefreienden sozialen Revolution ausgehen. Nur die englischen, französischen, belgischen, deutschen, russischen, italienischen Arbeiter gemeinsam können die Armee der Ausgebeuteten und Geknechteten der fünf Weltteile voranführen.« (Krise, GW 4, 162)

Erst bei LENIN bildet sich – angesichts des nicht mehr nur »europäischen Imperialismus« (an den Rand der angeführten LUXEMBURG -Stelle notiert LENIN: »und Amerika?? und Japan??«, LW 39, 310) und des Problems der Revolution in einem aus marxistischer Perspektive rückständigen Land – ein artikulierter Begriff für »E« als einem Problemfeld heraus. Dabei verknüpfen sich zwei gegenstrebige Argumentationslinien. Zum einen bleibt »E«, insbesondere Westeuropa, ein Exempel und Inbegriff des Fortschritts, wenn auch noch in seiner gegensätzlichen, kapitalistischen Form. Zum anderen wird das Staatensystem des europäischen Imperialismus zunehmend als zentraler Bezugspunkt der weltweiten Konterrevolution und als Gegenpol der kommunistischen Weltbewegung geortet. Diese muss sich deshalb für die nationalen Befreiungsbewegungen als eigenständige Entwicklung und nicht mehr nur als Anhängsel der europäischen Auseinandersetzungen (»koloniale Frage«) interessieren. In der »Geschichte E.s« findet LENIN die »volle Bestätigung«, »dass die Entwicklung des Kapitalismus unvermeidlich eine Zunahme der Bedürfnisse der gesamten Bevölkerung [...] zur Folge hat« (1, 98). Oder auch: »Für Westeuropa hat Marx das Gesetz festgestellt, dass erst die maschinelle Großindustrie den Arbeiter endgültig expropriiert.« (206) Daneben treten aber bereits die USA als Exempel eines weniger durch die europäische Spezifik belasteten Kapitalismus. So heißt es an anderer Stelle: »Wir sagen ›sogar in Westeuropa, weil dieser Fortschritt« – hier: der kapitalistisch betriebenen Landwirtschaft – »z.B. in Amerika noch klarer ist.« (4, 150; vgl. 7, 236) Dabei unterstellt Lenin keinen mechanischen Nachvollzug: »Die Entwicklung des Kapitalismus in jungen Ländern wird durch das Beispiel und die Unterstützung der alten Länder erheblich beschleunigt.« (3, 503) E ist damit für LENIN keinesfalls schlechtweg ein Modell; vielmehr gilt es zu unterscheiden: Etwa in Bezug auf den

»Opportunismus, den AXELROD und PLECHANOW den Menschewiki unter der Flagge des Europäertums einimpfen. Es gibt auch keine Spur von Europäertum in ihrer Ideologie und ihren Gewohnheiten, die die Widerspiegelung der Ideologie und der Gewohnheiten des Schweizer Spießbürgers sind. Die spießbürgerliche Schweiz ist nur das Dienstbotenzimmer des wirklichen E, des E der revolutionären Traditionen und des verschärften Klassenkampfes der breiten Massen.« (LW 11, 358 Anm.)

Zudem gibt es für ihn eben auch eine Abhängigkeit E.s von Russland. So spricht er von der »Tatsache, dass E gerade deshalb schon seit vielen Jahrzehnten politisch stillsteht oder rückwärtsgeht, weil in Russland die niederträchtige Selbstherrschaft am Leben erhalten bleibt« (LW 9, 238), und stellt in Aussicht: »Die russische Arbeiterklasse wird sich [...] die Freiheit erkämpfen und E einen Anstoß geben« (LW 12, 376). Diesen Gedanken hat TROTZKI (vgl. 1921) ausgeführt, indem »E« bei ihm sowohl das Konzert der imperialistischen Mächte bezeichnet als auch den Ort der Hoffnung auf die Revolution. Der erste Aspekt ändert sich mit der zunehmenden Dominanz Amerikas in E (Dawes -Plan). Trotzki sieht in E nun den »Reformismus« (1926, 19) an der Macht und zum anderen E als welthistorische Kraft durch Amerika abgelöst:

»Wer jetzt den Versuch macht, sich über das Schicksal E.s oder des Weltproletariats klar zu werden, ohne die Bedeutung der U.S.A. in Rechnung zu ziehen, der macht die Rechnung ohne den Wirt.« (20)

Amerika wird zum neuen Hauptfeind, auch deshalb, weil es den – sozialdemokratischen – Reformismus in E stützt und somit die europäische Revolution zu verhindern sucht (30, 47f). Trotzki entwirft das Projekt eines »mit uns zu einer Sowjetunion verschmolzenen E der Arbeiter und Bauern« (47). Dieser »gewaltige Block der Völker E.s und Asiens« (91) wird den Kampf gegen Amerika gewinnen. Damit bleibt die Hoffnung auf die Revolution in E auch unter den veränderten weltpolitischen Kräfteverhältnissen bestehen. Diese Einbeziehung Europas hört auf, als die »Revolution im Westen« ausbleibt. In LENINS Überlegungen zum strategischen Rückzug oder in STALINS Konzept vom »Aufbau des Sozialismus in einem Land« wird das resultierende strategische Problem nicht mehr in Bezug auf »E« artikuliert. 3. Otto BAUERS Versuch, dem »internationalen Sozialismus« wieder zur »Orientierung in der neuen, aus dem Weltkrieg hervorgegangenen Welt« (1931, Vorwort) zu verhelfen, geht zwar immer wieder von einer Analyse der Verhältnisse in den USA aus, reflektiert aber dieses neue Vorbildverhältnis der USA zu E nirgends ausdrücklich. Die von ihm als »Rationalisierungskrise« diagnostizierte Weltwirtschaftskrise verweist für Bauer direkt auf den »Sowjetstaat«, der allein die vom »Fordismus« (202) ausgelösten Hoffnungen wahr machen kann – nach der Formel Planwirtschaft plus modernste Produktionsmethoden (203ff), allerdings historisch belastet durch die »Fehlrationalisierung« in der russischen Landwirtschaft und die notwendige Form der »terroristischen Diktatur« (218f). Daher kommt Bauer zu der strategischen Schlussfolgerung, dass selbst bei einem – als möglich angesehenen –

»Gelingen des sozialistischen Aufbaues in der SU« »die Arbeiterklasse der Industriestaaten E.s und Amerikas [...] ganz andere Wege zum Sozialismus gehen müssen« (223).

Antonio GRAMSCI ist demgegenüber, gerade weil er die bei BAUER angelegte Relativierung der Bedeutung E.s ebenso wie TROTZKI ausdrücklich formuliert – »E hat seine Bedeutung verloren« (Gef 2, H. 2, §24) – in seinen Analysen des »Amerikanismus« ganz explizit auf die Spezifik E.s eingegangen: Einerseits ist für ihn der »Amerikanismus« selbst »eine Verlängerung und Intensivierung der europäischen Zivilisation« (H. 3, § 11). Andererseits betont er die Seite des »alten, faulen E.s« (MARX, MEW 19, 107), das durch die Existenz »zahlenmäßig starker Klassen [...] ohne eine Funktion in der Welt der Produktion, das heißt absolut parasitärer Klassen« (H. 1, §61) gekennzeichnet ist, wogegen der »Amerikanismus« einen zivilisatorischen Fortschritt darstellt. Für José -Carlos MARIÁTEGUI in Peru war dann »die Verwirklichung der nationalen Idee zugleich die Erfüllung der universalistischen Ideen, die ursprünglich aus E stammen« (MÁRMORA 1983, 165). Demgemäß betont er: »Die nationale Realität ist viel weniger getrennt, viel weniger unabhängig von E als unsere Nationalisten dies vermuten.« (Peruanicemos, 25) 4. Der »Eurokommunismus«, der in den 70er Jahren die Autonomie der wichtigsten westeuropäischen Parteien gegenüber dem Sowjetmodell propagierte und dies mit einer Reihe von kritischen Thesen zur gesamten Tradition der kommunistischen Bewegung verband, hat sich nicht auf ein spezifisches politisches oder theoretisches Konzept von »E« bezogen, so dass er sich ebenso auch in Japan oder in den USA artikulieren konnte. Das gilt auch für die in den von ihm eröffneten politischen Räumen entfalteten, z.T. erheblich weiter gehenden neuen theoretisch -philosophischen Ansätze wie z.B. den Althusserianismus. Was sich statt dessen entwickelt, ist eine differenzierte Debatte über die europäische Integration. Anders verhält es sich mit den schon früher aufgekommenen Versuchen, in den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt ein neues Modell der revolutionären Strategie auch in E zu finden. So konnte schon SARTRE schreiben: »Als Europäer stehle ich einem Feind sein Buch und mache es zu einem Mittel, E zu heilen« (Vorwort zu Fanon 1961, 12). FANON (»dieses E ist ganz buchstäblich das Werk der Dritten Welt«) verlangt »die Hilfe E.s«:

»Die Massen E.s müssen sich darüber klar werden, dass sie sich in den kolonialen Fragen oft, allzuoft mit unseren gemeinsamen Herren verbündet haben. Heute müssen sie sich entscheiden, sie müssen aufwachen und ihren verantwortungslosen Dornröschenschlaf ein für allemal aufgeben« (83).

Die darin angedeuteten Thesen vom »ungleichen Tausch« (ARGHIRI) und vom »schlafenden Bewusstsein« (MARCUSE) sollten wesentliche Debattenstränge der westeuropäischen Neuen Linken seit Anfang der 1960er Jahre bestimmen. Im Anschluss daran hat noch Ende der 80er Jahre Samir AMIN das Verhältnis von historischer Situiertheit und Universalität der europäischen Entwicklung grundsätzlich zu formulieren versucht:

»Der Kapitalismus war nicht dazu bestimmt, eine bloß europäische kennzeichnende Eigenschaft zu werden. Aber nachdem E ihn zunächst einmal als erstes erfunden hatte, hat es sich anschließend zur Aufgabe gemacht, die normale Entwicklung der anderen Kontinente zu bremsen.« (1988, 102)

Skizzenhaft sind die Versuche einiger Theoretiker der antiautoritären Studentenbewegung geblieben, durch eine schärfere Abgrenzung der »asiatischen Konzeption« vom »›Kapitalismus‹ im westeuropäischen Sinne« (DUTSCHKE 1980, 147, 145) Lenin auf die Füße zu stellen (1974, vgl. Rabehl 1986).  

Bibliographie

  • S. AMIN, L'eurocentrisme. Critique d'une idéologie, Paris 1988;
  • S. CARRILLO, Eurokommunismus und Staat, Hamburg 1977;
  • O. BAUER, Kapitalismus und Sozialismus nach dem Weltkrieg, 1. Bd., Wien 1931;
  • W.F. DRISCHLER, »Marxist State Theory Without Russenhass?«, in: Beiträge zur Marx -Engels -Forschung NF, 1996, 180-208;
  • R. DUTSCHKE, Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen, Berlin/W 1974: —, Mein langer Marsch, hgg.v. G. Dutschke-Klotz u.a., Reinbek 1980;
  • F. FANON, Die Verdammten dieser Erde (1961), Frankfurt/M 1969;
  • J.-C. MARIÁTEGUI, Peruanicemos al Perù, Lima 1970;
  • L. MÁRMORA, Nation und Internationalismus, Bremen 1983;
  • B. RABEHL, Marxismus heute, Frankfurt/M 1986;
  • D.B. RJAZANOV, »Karl Marx über den Ursprung der Vorherrschaft Russlands in Europa« (1909), in: U. WOLTER (Hg.), Die Geschichte der Geheimdiplomatie des 18. Jahrhunderts, Berlin/W 1977;
  • J.-P. SARTRE, Vorwort zu Fanon 1969 (1961), 7-25;
  • L.D. TROTZKI, Das hungernde Russland und das »satte« Europa, Berlin 1921;
  • —, Europa und Amerika, Berlin 1926.